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Europa ade – Willkommen in der »Neuen Welt«

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Etappe: Von Akureyri, Ísland 66° Nord 18° West (GMT+0), nach St. John’s NF, Canada 48° Nord 53° West (GMT-2:30): 5.909 km – Total 10.977 km

St. John’s, 18. September 2002

Aufgrund des für isländische Verhältnisse tatsächlich sagenhaften Wetters machte ich einen ganzen Tag Pause an einem Wasserfall, um einmal richtig zu entspannen. Denn mittlerweile reiste ich bereits einen Monat durch Europas Nordwesten und erlebe permanent neue, meist nette Sachen. Um das Erlebte zu verarbeiten, kam der Goðdafoss{28} wie gerufen. Der Name geht auf den Alþing im Jahre 1000 zurück. Dort wurde entschieden, dass Island das Christentum annimmt. Einer der regionalen Führer schmiss daraufhin auf dem Heimweg vom Alþing alle heidnischen Götterbilder den Wasserfall hinunter.

Nach vier Wochen ändere ich anscheinend als Reisender so langsam meine Wertvorstellungen. Für mich stellte der Campingplatz am Goðdafoss, den ich nur mit Schafen teilen musste, das pure Paradies dar, da mir die folgenden Luxusartikel zur Verfügung standen: beheiztes Bad, in dem ich mich aufhalten konnte, heißes Wasser aus dem Wasserhahn, mit dem ich mir löslichen Kaffee zapfen konnte, eine Steckdose für meinen Weltempfänger, mit dem ich deutsches Radio empfangen und gute Musik hören konnte, einen Handtrockner, der zum Wäsche- und Geschirrtrockner umfunktioniert wurde. Das einzige Manko waren ... natürlich die Schafe, die mich morgens um sechs weckten, da sie mein Zelt abknabberten. Dafür hatte ich den Wasserfall fast für mich alleine. Aber am Ende war die Einsamkeit doch etwas beklemmend, schließlich war ich abhängig vom einmal täglich verkehrenden Bus. Ansonsten war nicht viel los auf dieser Ringstrasse durch Island. Aber auf isländische Verkehrsmittel war letztendlich immer Verlass. Pünktlich holte mich der Bus wieder ab und brachte mich nach Akureyri, in die mit 15.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Islands.

Da in ganz Akureyri wegen einer Konferenz kein Zimmer mehr frei war, musste ich nun zum ersten Mal auf den Ruf vertrauen, der Island anhängt: das sicherste Land der Welt zu sein. Schließlich übernachtete ich auf dem eigentlich geschlossenen Campingplatz. Doch was heißt geschlossen, wenn dieser Campingplatz nach allen vier Seiten hin offen ist und sowieso jeder quer über den Platz rennt. So campten ich und ein paar andere Backpacker{29} einfach mitten in der Stadt, ohne eine Krone dafür zu berappen. Am folgenden Tag ließen wir notgedrungen unsere Sachen im Zelt, da wir unseren Kram nicht die ganze Zeit mitschleppen wollten. Tatsächlich rührte niemand unser Zeug an, und so übernachtete ich ohne Probleme gratis drei Nächte mitten in der Stadt.

Von Akureyri konnte ich wunderschöne Wanderungen in die Umgebung unternehmen. Dies stellten anscheinend auch Autoren eines Wanderführers über Island fest. Doch die Wegbeschreibung erinnerte mich während des Aufstiegs zum Sulúr eher an das Orakel von Delphi, denn Himmelsrichtungen wurden gänzlich weggelassen, um ja keine Details zu verraten. Vielmehr wurde von Bächen und Zäunen gesprochen, die es zu überwinden galt. Die Bemerkung, dass diese Zäune in drei Himmelsrichtungen verliefen und zusätzlich mit Stacheldraht gespickt waren, ließen die Autoren lieber weg. Außerdem verlief ihre Tour die gesamte Zeit ohne Weg, dafür aber permanent durch Moorlandschaften, sodass ich wieder eine kostenlose Moorpackung für meine Füße bekam. 100 Meter unter dem Gipfel stieß ich schließlich auf einen gut markierten Wanderweg. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass die Autoren diesen Aufstieg nie selbst unternommen hatten. Der Abstieg auf dem markierten Weg verlief anschließend problemlos, endete aber etwas unromantisch in der Müllkippe von Akureyri. Stärker konnte der Kontrast zwischen reiner Natur und den Endprodukten unserer Zivilisation nicht sein. Leider war auf der Straße zur Müllkippe wesentlich mehr Verkehr als auf der Ringstrasse in Island. Da es sich bei dieser Straße um eine Staubpiste handelte, war ich relativ schnell wie ein Wiener Schnitzel paniert.

Glücklicherweise hat Island aber die wohltuendsten Schwimmbäder der Welt, mit natürlichen Dampfbädern ausgestattet und vorherrschenden angenehmen Temperaturen von 29°C bis 43°C unter freiem Himmel. Dass die Isländer einen etwas anderen Musikgeschmack haben, wissen wir sicherlich seit Björk. Dass aber im Schwimmbad in ohrenbetäubender Lautstärke Rammstein, Eminem und Limp Bizkit gespielt wird, war mir neu. Ich fand es allerdings wirklich prima. Außerdem gab es im Supermarkt Red Hot Chili Peppers, Rage against the Machine und im Fastfood-Restaurant sogar Slayer als Hörgenuss.

Irgendwie sind die Isländer tatsächlich »anders«, zumindest was den Straßen- und Hausbau betrifft. Bevor ein Haus hochgezogen oder eine Straße gebaut wird, muss erst geklärt werden, ob das entsprechende Grundstück nicht von den so genannten »Kleinen Leuten«, das heißt von Elfen, Trolls und Gnomen bewohnt wird. Um manche Felsbrocken machen die Straßen einen Bogen, da dort »jemand« seinen Wohnsitz hat. Auf manchen Felsen sind sogar kleine Türchen aufgemalt, damit die Wesen ein und ausgehen können. Andererseits gehen die Isländer mit ihrer Umwelt manchmal sehr sorglos um. Mülltrennung ist meist unbekannt, und das Auto wird auch für den kleinsten Weg benutzt. Glücklicherweise habe ich nie total besoffenen Isländer getroffen, denn man sagt diesem Völkchen nach, oft betrunken zu sein. Aber der Alkohol ist fast unerschwinglich, wenn ich für einen halben Liter Bier etwa 3 Euro pro Dose im Zwölfer-Pack oder bis zu 10 Euro im Pub hinblättern muss. Außerdem wird der Alkohol in separaten Geschäften verkauft, die ich als Fremder meist sowieso nicht entdeckte. Von daher habe ich bekanntlich meine Liebe zum Light Beer entdeckt, das mit einem Euro sehr erschwinglich und im Supermarkt erhältlich war. Neben dem Light Beer machen die Isländer tatsächlich gutes Brot, das es mit dem deutschen aufnehmen kann. Mein Lieblingsbrot, das Rugbrauð, ist rabenschwarz und schmeckt wie eine Mischung aus Lebkuchen und Pumpernickel. Außerdem macht es satt, anders als dieses Knautsch-Weißbrot, welches es sonst in den meisten Ländern zu kaufen gibt.

Um die Besonderheiten eines Landes zu entdecken, muss ich manchmal gar nicht suchen, um sie zu finden. So fiel mir bei einem Blick ins isländische Telefonbuch folgendes auf: Die Leute werden nach ihrem Vornamen alphabetisch aufgelistet, da es in Island keine richtigen Nachnamen gibt. Es herrscht noch ein relativ patriarchalisches System. Der Nachname wird aus dem Vornamen des Vaters beziehungsweise neuerdings auch nach der Mutter gebildet und die Endung »-son« für Söhne beziehungsweise »-dóttir«{30} für Töchter angehängt: beispielsweise heißt Asgeir, der Sohn von Sigurvind, Asgeir Sigurvindsson, seine Schwester Guðrun würde Guðrun Sigurvindsdóttir heißen. Geschwister haben in Island lediglich dann den gleichen Nachnamen, wenn sie beide Jungs oder beide Mädchen sind. 90 Prozent der isländischen Nachnamen werden so gebildet, die restlichen zehn Prozent haben richtige Nachnamen, die noch aus der ersten Besiedelungszeit um das Jahr 900 stammen. Neue richtige Namen werden nicht akzeptiert, d. h. bekommt man die isländische Staatsbürgerschaft, muss man seinen Namen ändern. Ich würde Christoph Jürgenson heißen. Kessel wäre schließlich gestrichen. Fremde Vornamen werden ebenfalls nicht akzeptiert.

Einen weiteren Beweis dafür, dass in Island die Welt noch in Ordnung ist, zeigte die Busfahrt nach Reykjavik. Am Straßenrand wurden Pakete von den Einheimischen abgelegt und unbeaufsichtigt gelassen, ehe unser Busfahrer diese in den Bus lud und am Bestimmungsort wieder ablud. Dies wäre bei unseren Anti-Terror-Maßnahmen sicherlich nicht möglich und würde mehrere Polizeieinsätze nach sich ziehen. In Reykjavik angekommen, durfte ich zunächst an der Wahl zum deutschen Bundestag teilnehmen, da es die Wahlunterlagen bis nach Island geschafft hatten. Reykjavik, die Hauptstadt von Island mit 171.000 Einwohnern kleiner als Mainz, beherbergt etwa zwei Drittel der Bevölkerung Islands. Dementsprechend kam sie mir riesengroß vor und stieß mich etwas ab. Das erste Mal seit Edinburgh befand ich mich wieder in einer Großstadt und roch nun wieder den Duft der Zivilisation in Form von Abgasen. Daher könnte man denken, dass die Stadtgründer mit der Bezeichnung Reykjavik{31} zynischerweise Recht hatten. Sie meinten damals im 10. Jh. allerdings die vielen dampfenden Bäche, die dort ins Meer flossen. Davon ist leider nicht mehr viel übrig geblieben. Breite Straßen, viel Autoverkehr und ein Flugplatz als Mittelpunkt der Innenstadt lassen keinen Platz mehr für dampfende Bäche. Diese sind wahrscheinlich in der Kanalisation verschwunden.

Aber mit der Zeit konnte ich mich doch noch ein wenig mit Reykjavik anfreunden, denn die Stadt hat viele Wanderwege entlang des Meeres, das drei Seiten der Stadt umschließt. Außerdem existiert ein kleiner Sandstrand mit Thermalbad direkt am Ende der Start- und Landebahn des Flugplatzes. Anhand dieser zeigte sich auch wieder, dass Island noch keine Angst vor Terroristen hat. Die Start- und Landebahnen sind lediglich mit einem kleinen Gartenzaun abgegrenzt, da direkt nebenan ein Kinderspielplatz liegt. Der botanische Garten der Stadt ist etwas ganz Besonderes. Hier sind so seltene Gewächse wie Issalat Crispino, Blaðsalat, Rauðkal, Spergilkal, Hvitkal und Hnuðkal zu bewundern. Diese Gewächse heißen auf Deutsch: Eisbergsalat, Kopfsalat, Rotkohl, Broccoli, Weißkohl beziehungsweise Kohlrabi. Bei den hohen Lebensmittelpreisen konnte ich gerade noch der Versuchung widerstehen, mir abends eine kostenlose Rohkost-Platte zusammenzuklauen. Aber an der Tatsache, dass diese Gewächse ausgestellt werden, erkennt man, dass die Isländer wahrlich stolz sind, wenigstens etwas auf dieser Insel anbauen zu können.

Am nächsten Tag verabschiedete sich Island schließlich so wie ich es kennengelernt hatte: Regen, Regen und nochmals Regen. Nach 30 Tagen Reise ohne Flugzeug musste ich nun erstmals fliegen, da es leider nicht möglich ist, von Island ohne Flugzeug westwärts voranzukommen. Ziel meiner nun folgenden fliegerischen Odyssee war die nächste Insel, von der ich meine Reise wieder mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortsetzen konnte. Mit Icelandair flog ich mit einer Boeing 757-200 über den Atlantik in Richtung »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«. Die hohen Alkoholpreise in Island schlugen sich auch auf den Bordservice nieder. Der Stoff kostete zwischen 2 und 3 Euro. Eine krasse Sparmaßnahme war auch bei den Zeitungen festzustellen – sie wurden am Ende des Flugs wieder eingesammelt.

»Welcome to the United States of America« hieß es bei der Ankunft in Boston mit dem kleinen Nebensatz, dass wir auf unbestimmte Zeit an Bord der Maschine bleiben müssten, da die Einreisebeamten überarbeitet seien. Da flackerte sie wieder auf, meine »unbegrenzte« Hassliebe zu den USA. Kein anderes Land der Welt kann sich so etwas leisten, ohne dass auch nur ein Passagier es wagt aufzumucken. Nach fast einer Stunde des Wartens waren wir endlich erlöst und durften schließlich aussteigen. Eine halbe Stunde später war ich bereits eingereist. Letztendlich war doch alles halb so schlimm. Kurz darauf zeigte sich zum ersten Mal, warum ich die USA trotzdem nicht verdamme: wegen seiner sehr netten und hilfsbereiten Menschen. Mitarbeiter von Travellers Aid riefen sofort in einem Hostel für mich an, um ein Bett für die Nacht klarzumachen, da ich Probleme mit meiner Telefonkarte hatte. Da ich zwischenzeitlich meinen Reiseführer für Kanada leider verloren hatte, musste ich mir einen neuen besorgen. Diesen bekam ich vom Bostoner Hostel geliehen, der dort einfach so herumlag. Auf meiner Weiterreise soll ich ihn einfach wieder vorbeibringen. In Boston machte ich schließlich das erste Mal auf dieser Reise auch diese Entdeckung: bettelnde Menschen, die im Müll nach Essenresten, in Telefonzellen nach Wechselgeld und über U-Bahn Schächten nach Wärme suchen – auch das sind die Vereinigten Staaten von Amerika.

Mein USA-Aufenthalt war aber bereits nach einem Tag beendet. Ich wollte vielmehr meine Reise dort fortsetzen, wo ich mit Bussen, Schiffen und Bahnen wieder starten konnte. Daher flog ich mit Air Canada etwa die Hälfte der Strecke, die ich von Reykjavik bis Boston zurückgelegt hatte, wieder nach Nordosten zurück. Beim Start in Halifax in Richtung Neufundland, dem Ziel meiner fliegerischen Odyssee, machte uns der Pilot auf einen etwas für mich ungewöhnlichen Flug aufmerksam: »Ladies and Gentlemen, wir werden wahrscheinlich mehrere Anflüge brauchen, um in St. John’s zu landen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass wir nach Halifax zurückkehren müssen, aufgrund des Nebels in St. John’s.«

Der Anflug war tatsächlich ein Blindflug unter CAT-III-Bedingungen{32}. Aber der Pilot und sein Autopilot zogen den Airbus A320 sicher beim ersten Versuch direkt auf die Piste, und schon war ich nach ca. 30 Stunden von Island kommend in Neufundland angekommen. Mit der Ankunft schloss sich ein Kreis, denn die Wikinger, die Island im 9. Jh. besiedelten, kamen etwa um das Jahr 1000 ebenfalls in der »Neuen Welt« an – fast 500 Jahre vor Christoph Kolumbus.

St. John’s, die Hauptstadt der kanadischen Provinz Neufundland und Labrador, ist die älteste Stadt Nordamerikas und ungefähr so groß wie Mainz. Sein natürlicher Hafen, der von zwei Hügelketten geschützt wird, war seit der ersten belegten Besiedlung durch Europäer im Jahre 1497 permanent von militärisch strategischer Bedeutung. Mit der Ankunft der Europäer, die geschichtlich gesichert ist,{33} fing leider auch der Genozid an den eigentlichen Einheimischen an. Die Bethouk Indianer wurden bereits im 16. Jh. ausgerottet. Danach waren die Europäer unter sich, um sich gegenseitig zu bekämpfen. Das eigentlich von Engländern gegründete St. John’s wurde von den Franzosen dreimal besetzt. Auch die Holländer attackierten die Stadt zwischenzeitlich im Jahr 1665, und letztmalig wurde die Stadt von den Nazis im U-Boot-Krieg während des 2. Weltkriegs terrorisiert.

Aber St. John’s steht auch für positive Ereignisse. Da es der Ort in Nordamerika ist, der Europa am nächsten liegt,{34} wurden hier technische Experimente gestartet, die unsere heutige schnelllebige Welt nachhaltig beeinflusst haben. Im Jahr 1901 wurde auf dem so genannten Signal Hill in St. John’s der erste Funkspruch aus der »Alten Welt« empfangen. Gesendet wurde er von Cornwall in England. Der Flughafen von St. John’s war der letzte Punkt in Amerika des ersten PANAM-Flugs über den Atlantik und Charles Lindbergh, der als erster den Atlantik im Flieger überquerte, machte ebenfalls letzte Station vor dem großen Sprung. Für mich war St. John’s nun zunächst der Ausgangspunkt meiner Reise durch den gesamten amerikanischen Kontinent bis nach Patagonien in Chile. Da bekanntlich aller Anfang schwer ist, musste ich dabei einige Hindernisse überwinden, schließlich befand ich mich nun in Nordamerika, wo jeder Mensch ein Auto hat. Dementsprechend hörte ich bei meinen Planungen permanent die Frage, wo denn mein Auto sei. Auf die Antwort, dass ich keines habe, waren meine Gesprächspartner nicht vorbereitet und sagten nur noch: »Oh my God.« Wahrscheinlich drückt dies das Mitleid aus, das mir »armen Hund« entgegengebracht wird. Wie die Reise nun von der ältesten Stadt Amerikas in Richtung Süden weitergeht? Ich wusste es zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Kapitels selbst noch nicht – schauen wir mal.

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