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Abschied von Freunden

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Etappe: Von Vancouver BC, Canada 49° Nord 123° West (GMT-7) nach Seattle WA, USA 48° Nord 122° West (GMT-7): 420 km – Total 22.782 km

Seattle, 24. Oktober 2002

Vor lauter Ärger mit Greyhound, wegen meines verlorengegangen Rucksacks, bemerkte ich erst später, dass ich mittlerweile den Pazifik erreicht habe, der mich von nun an lange auf meiner Reise begleiten wird.

Es war schon ein komisches Gefühl in Vancouver, nun ohne großen Rucksack weiterzureisen, nachdem Greyhound mein Gepäck verschlampt hatte. Wenigstens konnte ich meine Reise fortsetzen, versprachen doch die Angestellten der Busgesellschaft, das Gepäck nach Vancouver Island nachzusenden, für den Fall, dass es gefunden würde. Dabei war eigentlich alles ganz einfach. In Butte, Montana, stieg ich in den Bus nach Seattle, Washington, das zugleich Endstation des Busses war. Warum jemand den Rucksack irgendwo dazwischen auslud, war mir wirklich unbegreiflich, schließlich befand sich ein Gepäckanhänger mit dem Ziel Vancouver, BC, via Seattle, WA, daran. Dieser Gepäckanhänger gab mir aber die Hoffnung, dass der Rucksack nicht für immer verschwunden war, da zumindest bei Fluggesellschaften die meisten Gepäckstücke früher oder später ihren Besitzer wiederfinden. Bei diesen bekommt man allerdings ein »Überlebenspäckchen« ausgehändigt, um sich seine Zähne zu putzen und sich rasieren zu können, damit man sich in der Zivilisation noch blicken lassen kann, ohne gleich als behaartes, stinkendes Etwas abgestempelt zu werden. Bei Greyhound bekam ich hingegen nur warme Beileidsbezeugungen nach dem Motto »We are so sorry«, zu Deutsch: Pech gehabt.

Lediglich mit einem Tagesrucksack, neuer Zahnbürste und Deo »bewaffnet«, setzte ich von Vancouver nach Vancouver Island über, um Astrid, mit der ich in Neufundland getrampt war, zu besuchen. Da ich weder Schlafsack noch Matte mehr besaß, war unser Plan, eine Mehrtagestour zu unternehmen, völlig durchkreuzt. Auf Vancouver Island musste ich mir zunächst neue Unterwäsche zulegen, schließlich hatte ich keine Austauschklamotten mehr bei mir . Ich genoss die Tage auf Vancouver Island auch ohne Übernachtungen im Zelt, nasse Füße, Moortee und Wanderung durch die unberührte Natur. Stattdessen tranken wir den wirklich guten Kaffee in einem der vielen urgemütlichen »Coffeeshops« in Victoria, der Hauptstadt der Provinz British Columbia und das gute Bier, auf Vancouver Island gebraut, das nun endlich wieder nach Gerstensaft schmeckte. Das »Indian Pale Ale« hatte es mir besonders angetan. Der Name stammt von dem Ort, an dem es vor mehr als 150 Jahren bereits gezapft wurde. Die englischen Brauer stellten dieses Bier für die Kolonialisten in Indien her. Damit das Bier auf seiner weiten Fahrt von Kanada zum Subkontinent nicht verschimmelte, wurde es mit besonders viel Alkohol und Hopfen versehen. Das Resultat konnte sich wirklich sehen lassen. Es handelte sich nicht um das amerikanische Bier, das, wie es Alexander in Oklahoma ausdrückte, als so genanntes »Flavoured Water«{56} zu bezeichnen war.

Statt eines Mehrtagesmarsches unternahmen wir Tagestouren auf kleinen Inseln am Meer entlang, sodass der Aufenthalt trotz des verschwundenen Rucksacks sehr angenehm war. Da wir dieses Mal selbst ein Auto besaßen, konnten wir uns auch einmal bei anderen Trampern revanchieren und nun diese mitnehmen, statt selbst mitgenommen zu werden. Dieses Auto, das wir von einem Freund von Astrid liehen, machte schließlich aber das Wochenende auch wieder zu einem besonderen Erlebnis, als es einfach seinen Geist kurz vor der Greyhound Fracht-Station aufgab, an der mein Rucksack mit drei Tagen Verspätung schließlich eingetroffen war. Nun durfte ich endlich einmal nach fast zehn Wochen Fahrt mit dem eigenen Auto unterwegs sein und plötzlich ging das gute Gefährt kaputt. Daher war ich auf Greyhound kaum noch sauer, da wenigstens deren Busse nicht kaputt gehen. Das Problem mit meinem Rucksack war gelöst, doch nun hatten Astrid und ich ein neues Problem: wie das Auto in die Werkstatt kriegen, denn eine ADAC-Karte war sicherlich nutzlos?

Am nächsten Tag fuhren wir mit einem anderen Auto von Astrids Freundinnen wieder zu der Stelle, an welche wir das Auto am Tag zuvor in einer schweißtreibenden Aktion hingeschoben hatten. Wir waren beide überrascht, als es wieder ansprang, und so durfte ich zum ersten Mal auf dieser Reise selbst ein Transportmittel steuern. Doch es war leider nur ein kurzes Intermezzo, da die Karre natürlich auf dem Highway wieder verreckte. Astrid besorgte irgendwo ein Abschleppseil und so zuckelten wir hintereinander über den Highway der nächsten Werkstatt entgegen. Leider hatten wir beide keine Ahnung, dass das Abschleppen auf dem Highway in Kanada verboten war. Daher zeigte uns ein besonders »netter« Zeitgenosse bei der Polizei an, wie wir am nächsten Tag erfuhren. Aber es blieb nur bei einer Verwarnung an die Halter der beiden Autos, die wir gar nicht waren. Wir erfuhren es von Astrids Freundin, da sich die Polizei bei ihr als Halterin meldete.

Am nächsten Tag nahm ich von Astrid und ihren Freundinnen Abschied. Es wurde langsam Herbst und mich zog es nach Süden. Andria aus Boston, die wegen des Greyhound-Missgeschickes ihren Transatlantik-Flug stornieren musste, schrieb mir, dass es in Boston bereits schneite. Es herrschte wunderschönes Wetter und die Überfahrt von Sidney in British Columbia nach Anacortes in Washington war traumhaft schön. Wie durch ein Labyrinth ging es an Dutzenden von kleinen, mit Nadelbäumen bewaldeten Inseln vorbei. Im Hintergrund thronten die Schneeberge des Küstengebirges, und die wärmende Herbstsonne lud zum Erholen auf der Terrasse der Fähre ein. Kleine Dörfer, Klippen, Felsen und Strände zogen wie in einem Film an mir vorbei, bis ich im »Evergreen State«{57} Washington ankam.

Nicht nur die Fahne des Staates ist teilweise grün, sondern auch ein Großteil der Landschaft, die von Wäldern geprägt wird. Washington ist der nordwestlichste Bundesstaat der »48 States«.{58} Seine Nordgrenze zu Kanada ist der 49. Breitengrad, der zugleich die Grenze zwischen den USA und Kanada bis zum Oberen See rund 3.000 Kilometer weiter östlich bildet. Die künstliche Grenzziehung ist das Resultat eines Krieges. Der »Krieg von 1812« zwischen den USA und Kanada beziehungsweise England wurde durch wirtschaftliche Sanktionen, die England den USA auferlegte, ausgelöst, da die USA mit Frankreich kooperierten und die Beziehungen zwischen Frankreich und England alles andere als gut waren. Die Indianer kooperierten mit England und waren der eindeutige Verlierer dieses Krieges. Sie erhofften sich durch die Kooperation mit der Krone einen eigenen Staat, doch beim Friedensschluss 1814 gingen sie leer aus. In diesem Krieg schafften die Engländer etwas, was Al Quaida hoffentlich niemals erreichen wird. Sie besetzten die Hauptstadt Washington DC und brannten das Capitol sowie das Weiße Haus nieder. Ein Resultat dieses Krieges: England gab jegliche Besitzansprüche südlich des 49. Breitengrades auf. So entstand zunächst das »Oregon Territory«, aus dem später schließlich die Staaten Washington und Oregon gebildet wurden.

Von Anacortes fuhr ich mit dem Van-Service nach Mt. Vernon zur nächsten Greyhound-Station. In dem kleinen Bus ging es sehr vornehm zu. Ich wurde per Mikrofon über alles informiert: »We make a short break and then I will drive Mr. Kessel to the Greyhound Station.« Diese war gleichzeitig die lokale Spielhölle. Flipper und Computerspiele, die einem durch ihr Getöse den letzten Nerv raubten, machten das Warten auf den »Dog« zu einem Martyrium. Doch schließlich kam der Bus und gemeinsam mit meinem Rucksack reiste ich in die Metropole des Staates Washington nach Seattle. Die Stadt ist sicherlich seit dem Entstehen der Grunge-Music jedem bekannt. Nirvana und Pearl Jam startete in Seattle ihre Karriere. Doch auch Jimmy Hendrix stammt aus Washington und ist in Seattle begraben. Aber Seattle steht auch für Microsoft und Bill Gates,{59} der in der Stadt sein Computerbetriebssystem »DOS« und »Windows« entwickelte. Letztgenanntes war das einzige Produkt, das ich weltweit in jedem bereisten Land nutzen würde. Sicherlich ist der Leser auch bereits einmal mit einem Produkt aus Seattle geflogen. Die Boeing-Flugzeuge werden in einem Vorort von Seattle hergestellt. Die Starbucks-Kette starte in dieser Stadt ebenfalls ihre Weltkarriere. Scheinbar waren mittlerweile alle Internetcafés in Seattle bankrott gegangen, da ich an sämtlichen von mir aufgespürten Adressen nur noch ein leerstehendes Büro vorfand. Sogar die öffentliche Bücherei war vorübergehend verschwunden. Dafür durfte ich einen Großteil dieses Kapitels im »online.coffee« in Seattle praktisch gratis schreiben. Ich musste lediglich alle 20 Minuten einen Kaffee, Mokka, Cappuccino, Espresso oder eine heiße Schokolade bestellen.

In Seattle, dessen Name vom Duwamish-Häuptling Sealth stammt, bekam ich zunächst einen Citykoller. Ich wollte unbedingt etwas außerhalb der Stadt unternehmen, da mich mittlerweile amerikanische Großstädte nicht mehr in ihren Bann ziehen. Per Zufall erfuhr ich in meinem Hostel von Wasserfällen, die rund 40 Kilometer östlich von Seattle liegen und genau das Richtige für mich waren, da ich sie mit dem Bus erreichen konnte. Überhaupt war in Washington der Öffentliche Personennahverkehr wesentlich attraktiver als in anderen Teilen der USA. In der Innenstadt war die Benutzung sogar kostenlos. Überall erhielt ich Fahrpläne und fand sogar Bushaltestellen mit den entsprechenden Buslinien. Es existierten Busspuren, die auch von Autos benutzt werden duften, die mit mindestens zwei Insassen besetzt waren. Auch sonst war ich von dem Umweltbewusstsein des Staates überrascht. Natürlich wurde wildes Entsorgen genauso wie in Vermont mit Gefängnis bestraft, ebenso wie Schwarzfahren außerhalb der Innenstadt. Im Supermarkt wurde ich sogar gefragt, ob ich Papptüten, Plastiktüten oder überhaupt eine Tüte wollte. Normalerweise wird man in den USA mit Tüten überhäuft. Diese halten höchstens zwei Straßenblöcke, ehe sie zerreißen und hoffentlich in der nächsten Mülltonne landen.

In Seattle konnte ich einen alternativen Blick auf die Skyline werfen. Meist fährt man in Metropolen ein paar Sekunden in einem Hochhaus in den 100. Stock, ist ein Dutzend Dollars los und sieht wegen der Umweltverschmutzung oder wegen des Dunstes doch nichts. Dieses Mal konnte ich in einem Park kostenlos einen Wasserturm hinaufklettern, den Sonnenuntergang über der nebelverhangenen Bucht genießen und dabei im fitness-bewussten Amerika sogar noch ein paar Kalorien verbraten. Bei dem vielen Kaffee, den ich während der Arbeit an diesem Kapitel genießen durfte, muss ich jetzt allerdings auf das Dringendste auf Toilette. Daher schließe ich dieses Kapitel nun umgehend ab.

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