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Drei Länder auf einer Insel

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Etappe: Von Bangor, Cymra 53° Nord 05° West (GMT+1) nach Inverness, Alba 57° Nord 04° West (GMT+1): 960 km – Total 2.760 km

Inverness, 29. August 2002

Nachdem ich Wales erreicht hatte, kam ich mir wie in einem anderen Land vor. Sämtliche Schilder waren zunächst in Walisisch verfasst. Die englische Version folgte meist, aber nicht immer. Offiziell ist Wales ein Fürstentum wie Monaco oder Liechtenstein. Erster Mann beziehungsweise erste Frau im Staat ist seit 1302 der Prince of Wales, also seit 1969 nun Prinz Charles. Dass ein Engländer Staatsoberhaupt ihres weitgehend autonomen Landes ist, passt vielen Walisern gar nicht in den Kram. Aber seit 1999 haben sie ein eigenes Parlament mit einigen Entscheidungsbefugnissen.

Für mich war der Unterschied zu England, was den Alkohol anbetraf, nicht groß, da auch hier der Stoff weitgehend unbezahlbar war. Das hatte aber auch etwas Positives. Da in Wales Ortsnamen oft besonders lang und zudem schwer auszusprechen sind, ist folgende Situation dann doch eher unwahrscheinlich. Falls man wieder einmal ein paar Ale zuviel getankt hat und dem Taxifahrer seinen Heimatort mitteilen will, bevor man total weggetreten ist, und ausgerechnet in Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch lebt, bliebe man am Ende sicherlich auf der Straße liegen. Der Name ins Deutsche übersetzt bedeutet etwa: Sankt Maria Kirche in der Umgebung der weißen Hasel nahe an einer Stromschnelle und die Kirche des heiligen Tysilio nahe der roten Höhle. Außer diesem ungewöhnlichen Namen und den entsprechend langen Schildern, beispielsweise des ortsansässigen Volvo-Autohauses, habe ich dort nichts besonderes entdecken können.

In Wales hat mich vor allem die unberührte Natur mit dem höchsten Berg des Landes in ihren Bann gezogen. Obwohl der Snowdon mit etwas über 1.000 Metern sehr niedrig ist, erinnerte mich die Gegend eher an die Alpenregionen ab Höhen um die 3.000 Meter. Die Baumgrenze liegt tatsächlich auch bei lediglich 250 Metern. Bevor der Leser sich über meine kleine Maulwurfshügel-Expedition lustig macht, möchte ich doch mitteilen, dass an diesem Berg für die erste gelungene Mt. Everest Expedition 1957 trainiert wurde, und dieser »Hügel« alles andere als ein Kinderspiel ist. Da der Snowdon jeden Berg Englands überragt, sind die Waliser natürlich besonders stolz auf diese Erhebung. Der Nationalstolz drückt sich auch auf den Kfz-Kennzeichen aus. Statt wie bei uns ein »D« auf dem Grund der Europafahne, sitzt bei vielen walisischen Nummernschildern links oben in der Ecke die Europafahne, darunter die walisische Flagge mit dem roten Drachen und ganz unten die Abkürzung »CYM« für Cymra{10}.

Nationalsport ist nicht Fußball sondern Rugby, das sich vom Fußball angeblich folgendermaßen unterscheidet. Fußball ist ein Gentleman-Sport, der von Hooligans gespielt wird, Rugby ist ein Hooligan-Sport, der von Gentlemen gespielt wird. Tatsächlich wurde Rugby 1821 im Ort Rugby von einem Engländer erfunden, der während eines Fußballspiels plötzlich den Ball unter den Arm nahm und damit abhaute, ehe die Meute hinterher rannte.

Was die Menschen im Allgemeinen anbetrifft, musste ich meine Bilder von Engländern, die hauptsächlich durch englische Hooligans geprägt wurden, revidieren. Durch das permanente Bahn fahren traf ich Menschen aller Schichten im Zug an. Am besten erkannte ich dies, wie auch in Deutschland, an den Zeitungen, die der jeweilige Passagier las. Es besteht anscheinend tatsächlich ein Zusammenhang zwischen Chips essenden, Weißwurst hautfarbenen, knallroten glatzkopfartigen Wesen und der »Sun« oder dem »Daily Star«,{11} die von dieser Gattung hauptsächlich gelesen wird. Der »Observer«{12} hingegen wird meist von Typen mit Oberlippenbart, Schlapphut und Trenchcoat studiert. Trotzdem sind beide Gattungen äußerst höfliche Wesen, die nicht das Geringste mit den im Fernsehen gezeigten Bilder von englischen Hooligans zu tun haben. Ich bekam sogar die »Sun« von einer Passagierin als Leseprobe geschenkt. Das berühmte amerikanische »F-Wort« mit vier Buchstaben habe ich nie zu hören bekommen.

Wales verließ ich mit dem Zug in Richtung Fußballmekka Manchester. In der englischen Industriemetropole liefen die Mädchen wie in Brasilien mit Fußballtrikots durch die Gegend. Nummer 7, das Trikot von David Beckham, war eindeutig der Renner. In Deutschland ist dies eher ein nicht vorstellbarer Anblick – die Fans vom 1. FSV Mainz 05 einmal ausgenommen. Aber bis auf das Fußball spielen bekam Man U{13} aber auch gar nichts hin. Da die Bahn in Großbritannien mittlerweile privatisiert ist, zuckeln ein Dutzend Unternehmen quer über die Insel, ohne zu wissen, was das andere Unternehmen gerade macht, das heißt fahren oder nicht macht, also streiken. Mein Anschlusszug nach Newcastle existierte gar nicht auf der Anzeigetafel im Bahnhof von Manchester. So musste ich wieder an der Lieblingsbeschäftigung der Engländer teilnehmen, dem »Queuing« am Info-Schalter. Anscheinend warteten mehrere Passagiere auf den Geisterzug, ähnlich den Touristen in Schottland auf »Nessie«, dem Monster von Loch Ness. Dass der Zug wegen eines Streiks ausfiel, musste ich schon selbst herausfinden.

Ich hatte Glück und hatte nur einen Umweg von etwa zwei Stunden in Kauf zu nehmen, um schließlich nach Durham bei Newcastle zu gelangen. Seit dem 11. September 2001 existiert in England ein so genannter »Anti-Terror-Plan«. Diesen lernte ich nun in der englischen Provinz kennen, denn ich wollte mir nicht mit meinem 20-Kilo-Rucksack auf dem Rücken die schöne Stadt anschauen. Daher beschloss ich, ein Schließfach im Bahnhof zu nutzen. Dass dies ein potenzieller terroristischer Akt sein kann, war mir »natürlich« bewusst. Daher stand zunächst wieder »Queuing« am Ticketschalter auf dem Programm, um eine Fahrkarte für das Schließfach zu erhaschen. Danach musste ich einen der pfeifenden Stationsmanager finden, der mir das Schließfach öffnen und das Ticket entwerten konnte. Bevor ich endlich den Rucksack einschließen lassen durfte, musste eine physische Untersuchung des Gepäcks erfolgen, also einen Reißverschluss zum Öffnen antippen. Das war es dann auch schon. Der Sinn dieser Aktion blieb mir im wahrsten Sinne des Wortes schleierhaft.

Am folgenden Tag ließ ich England endgültig hinter mir. Ich fuhr am Hadrianswall entlang weiter nach Norden. Um mit Kaiser Hadrians Worten zu sprechen, gelangte ich damit ins »Land der Barbaren«. Er ließ diesen Wall ca. 140 n. Chr. errichten, um sich und das römische Reich von den nördlich lebenden Wesen im wahrsten Sinne des Wortes abzuschotten. Denn diese »Barbaren«, heute unter dem Namen Schotten bekannt, hauten den Römern damals ziemlich oft eins auf den Helm.

Als erstes fiel mir auf der Fahrt durch Schottland das veränderte Licht auf. Die Farben im Norden Europas sind wesentlich intensiver als bei uns oder auch nur südlich des Hadrianswalls. Wenn die Sonne scheint, sieht alles phantastisch aus, wie auf künstlich aufgehellten Postkarten. Erstes Ziel in Schottland, das die Einheimischen Alba nennen, war die Hauptstadt Edinburgh, welche sich gerade voll und ganz im Festivalfieber befand. Das beste an den vielen verschiedenen Festivals waren die kostenlosen Freiluft-Konzerte in der Altstadt, der so genannten »Royal Mile«. Die beste Stimmung kam natürlich bei schottischen Gruppen auf. Einige »Connor Mc Lords«, alias Highlander droschen ununterbrochen auf riesige Trommeln ein, während ein Dudelsack-Spieler die eher melodischen Töne anschlug. Dass die Jungs alle im Kilt auftraten war selbstverständlich. Schotten sind angeblich geizige Leute und daher sparen Kilt-Träger natürlich an Unterwäsche. Nach meiner »repräsentativen« Umfrage unter dem weiblichen Geschlecht waren diese Kilt-Träger natürlich »très, très sexy«. Ich habe allerdings nur Französinnen in meinem Hostel fragen können.

Was den Walisern das Rugby, den Engländern der Fußball, ist den Schotten das Golf spielen. Diesen Sport exportieren die Bewohner seit dem 15. Jh. in die weite Welt. In Edinburgh ist Golf spielen im wahrsten Sinne des Wortes Volkssport, kann man doch einfach in den Park gehen und kostenlos seine Bälle um sich schlagen, da dieser gleichzeitig Golfplatz ist. Sprachlich betrachtet stellt Schottland im Gegensatz zu Wales überhaupt kein Problem dar. Alles ist in Englisch verfasst. Lediglich in den »Highlands«{14} fand ich überhaupt die Landessprache Gälisch in schriftlicher Form. Dass die Schotten auch bei der Entwicklung ihrer Sprache geizig waren, zeigt die Anzahl der Buchstaben im Alphabet. Es sind tatsächlich nur 18.

Von den so genannten »Lowlands«{15} um Edinburgh rollte ich anschließend sehr gemächlich ratternd und polternd mit etwa 40 km/h mit Scot rail{16} den Highlands entgegen. Hinter Glasgow der erste Höhepunkt dieser wunderschönen Bahnfahrt nach Fort William: Loch Lomond im ersten Sonnenschein, mit den hoch aufragenden Bergen, den grünen von Moos bewachsenen Hängen und den sich z. T. in klarem Wasser spiegelnden Landschaften, war traumhaft schön. Mit zunehmender Entfernung von Glasgow änderte sich die Natur. Heidelandschaften und Hochmoore bis an den Horizont zogen nun an meinen Augen vorbei. Die Sonne hatte sich leider längst schon wieder verabschiedet und nun wurde die Landschaft mit einer niedrig hängenden Wolkendecke wie mit Watte überzogen. Dieses ziemlich herbe Bild änderte sich plötzlich erneut, als es die Sonne doch wieder schaffte, die Wolken zu verdrängen. Nun strahlte die Landschaft abermals in diesem einzigartigen Licht.

Am nächsten Tag hatte ich leider nicht mehr soviel Glück mit dem Wetter. Dabei hätte ich es bei der Besteigung des höchsten Bergs der Insel, dem 1.344 Meter hohen Ben Nevis wirklich gebrauchen können. Jetzt wird der Leser wieder lächeln, schließlich sind 1.344 Meter neuerlich etwas für Weicheier. Aber die Tatsache, dass ich auf Meereshöhe startete, um den Berg zu besteigen, wird das Schmunzeln hoffentlich beenden. Letztendlich war der Aufstieg einfacher als der Abstieg, denn in den Highlands fand ich leider keine Toilette und keine hohen, schützenden Büsche. Daher versuchte ich abseits des Weges mein Glück in einer Mulde. Im nächsten Augenblick bildete ich wortwörtlich ein gleichschenkeliges Dreieck mit einer Basis, in Form eines immer mehr nachgebenden Moorbodens. Mein linkes Bein war bis zum Oberschenkel im Moor versunken. Ich war daher froh, am folgenden Tag wiederum relativ schlechtes Wetter zu haben, um einmal einen Waschtag für die Klamotten einzulegen. Die Isle of Skye{17} machte ihrem Namen alle Ehre und lag völlig Wolken verhangen da.

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