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Auf geht’s Mainzer auf geht’s!

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Etappe: Von Mainz, Deutschland 50° Nord, 08° Ost (GMT+2) nach Bangor, Cymra 53° Nord 05° West (GMT+1): 1.800 km – Total 1.800 km

Bangor, 24. August 2002

Sieben Uhr morgens an einem sonnigen Tag im August 2002 am Mainzer Hauptbahnhof: Schlaftrunken warteten einige Menschen auf den Zug, der pünktlich auftaucht, um alle Fahrgäste rechtzeitig zur Arbeit zu bringen. Alle? Nein, denn natürlich ist der Begriff Arbeit für mich nun ein Jahr lang zu einem Fremdwort geworden. Schließlich habe ich mir doch in den Kopf gesetzt, einmal um unseren Planeten zu fahren – mit öffentlichen Verkehrsmitteln und möglichst ohne Flugzeug. Schnell noch ein letzter Gruß aus dem Fenster in Richtung meiner Heimatstadt, bevor ich mit dem Regional Express auf die große Reise nach Saarbrücken startete. Ein wenig mulmig wurde es mir nun doch auf dieser ruhigen, angenehmen Bahnfahrt. Wie wird das Reisen in Lateinamerika, in der Südsee oder in Asien funktionieren? Werde ich überall in der Lage sein, mich zu verständigen? Wie komme ich von Australien wieder nach Hause? Schließlich hatte ich nur Flugtickets für die Atlantik- und Pazifiküberquerung in der Tasche? Ich verließ mich schließlich auf mein gutes Gefühl, das ich von früheren Reisen her bereits kannte, und das mir sagte, dass es immer irgendwie weiter geht.

Ausgeruht in der saarländischen Landeshauptstadt angekommen, wurde ich mit den Tücken der Bahnprivatisierung konfrontiert. Eigentlich wollte ich nur schnell noch einmal auf Toilette gehen, doch ich nun musste unter den folgenden »Menüs« wählen: Toilette 30 Cent, Pipibox 20 Cent, Händewaschen zehn Cent. Leider gab es kein »Super-Sparmenü«, sodass ich nochmals 30 Cent für Pipi plus Hände waschen inklusive Seife und Trocknen investieren musste. Anschließend war Schluss mit Deutschland, und das nächste Land stellte sich auch gleich richtig vor.

Trotz weggefallener Grenzkontrollen behandelten die französischen Polizisten jeden Passagier des Eurocity nach Metz so, als handelte es sich um Osama Bin Ladin persönlich. Ein Afrikaner hatte keinen Personalausweis oder Pass griffbereit. Daraufhin startete das große Theater, das für Frankreich so typisch ist und nach dem Drehbuch »Viel Lärm um nichts« abläuft. Der Afrikaner wurde in immer lauterem Ton aufgefordert, seinen Pass zu zeigen. Dieser lehnte dies mit Verweis auf das Schengener Abkommen ab. Also erschien ein zweiter Polizist, sowie wenig später der SNCF{1}-Beamte und jeder schrie fortan so gut wie er konnte. Die Polizei wollte den Pass, der Bahnbeamte bestand auf Pünktlichkeit, der Afrikaner auf die persönliche Freiheit. Schließlich übergab er ein Papier, das die Gemüter zunächst aber nicht beruhigte. Der Beamte sowie die Polizisten zogen sich allerdings nun zu Beratungen zurück, und der Zug fuhr endlich weiter. Ab und zu kam der Beamte noch einmal vorbei und meckerte den Afrikaner wegen der Verspätung an. Schließlich gab man ihm aber das Papier zurück, und es herrschte wieder Ruhe: wie gesagt, viel Lärm um nichts. Im Bahnhof von Châlons-en-Champagne hatte ich fast eine Stunde Aufenthalt und wollte mich vom Geschrei im Zug mit einem angenehmen ruhigen Picknick auf dem Bahnsteig erholen. Leider hatte ich die Rechnung ohne den »DJ« am Ansagepult gemacht. Kurz nachdem ich aus der Bahn ausgestiegen war, sollte ein anderer Zug auf Gleis 1 ohne Halt durch den Bahnhof rollen. Diese Ansage wurde zur Dauerbeschallung, da sie mindestens fünf Mal wiederholt wurde. Nachdem der Zug mit etwa 10 km/h am Gleis vorbeigerauscht war, wurde sie, um ganz sicher zu sein, dass jeder es kapiert hatte, eine weiteres Mal abgespielt. Anschließend wurde sie auf Gleis 2, auf dem ich mich gerade befand, ebenfalls wiederholt. Danach musste verkündet werden, dass nun der Regionalzug aus Verdun ankommt, später musste jeder Bescheid wissen, dass mein Zug nach Reims ca. fünf Minuten Verspätung hatte. Kurz bevor der Zug einrollte, wurde über dieses »Ereignis« ebenfalls informiert. Langsam wurde ich fast taub, doch mit Oropax war ich gegen die Krachmacher der SNCF gewappnet.

In Reims beendete ich meinen ersten Reisetag in der Champagne ohne Gehörschaden aber dafür mit einer Führung durch die Keller des Gesöffs, das den selben Namen trägt, wie diese Region. Ich lernte, dass bei der Produktion von Champagner Sirup beigemischt wird. Je nachdem wie viel Sirup die Produzenten hineinkippen, heißt der Stoff »Sec« oder »Demi-sec«. Bei der Führung durch den Keller entgingen wir nur knapp einer Katastrophe, da natürlich Touristen alles begrapschen möchten, so auch die horizontal liegenden Flaschen, in denen es gerade gärte. Zum Glück wurde gerade noch darauf hingewiesen, die Flaschen nicht zu berühren. Schließlich können diese bereits durch geringste Erschütterungen explodieren. Zum Abschluss erhielt ich eine Kostprobe. Ein Glas Champagner zum Start einer Weltreise ist sicherlich der Situation angemessen, seitdem ich aber die Sache mit dem Sirup erfahren habe, denke ich zu wissen, warum ich von diesem Gesöff immer einen »dicken Schädel« bekomme. Deshalb war mir von da an der gute alte Gerstensaft natürlich noch sympathischer.

Am nächsten Tag stand lediglich die kurze Fahrt mit der Bahn durch endlose Weinberge in der Champagne nach Paris auf meinem Fahrplan. Statt des touristischen Besuchprogramms schaute ich bei Peter, einen Mainzer Freund, der dort studierte, vorbei. Es war ein schönes Gefühl, noch einmal jemanden aus der Heimat zu sehen, ehe es nun auf unbestimmte Zeit hieß, auf alles Vertraute und Gewohnte zu verzichten. Die nächste Etappe führte in die Bretagne, genauer gesagt nach St. Malo. Anders als in den meisten Ländern mit Eisenbahnnetz kommt man in der Grande Nation{2} mit dem TGV{3} tatsächlich wesentlich schneller als mit dem Bus oder dem Auto voran. So befand ich mich nach knapp zwei Stunden Reise 400 Kilometer weiter westlich auf dem Globus, und ich konnte die graue Granitfestung von St. Malo bei relativ gutem Wetter besichtigen. Überhaupt habe ich bisher mit dem Wetter viel Glück gehabt. Ich war schon gespannt, wie dies in Großbritannien sein würde.

Da ich mich nicht dazu durchringen konnte, vom kulinarischen Paradies Frankreich direkt ins »Land von Fish and Chips« zu fahren, nahm ich zunächst die Fähre von St. Malo aus zur Kanalinsel Guernsey. Diese gehört zwar seit 1066 zum Vereinigten Königreich, aber sie bietet laut Reiseführer doch noch viele französische Einflüsse – hoffentlich auch kulinarischer Art. Guernsey, wie auch ihre Nachbarinsel Jersey, ist weder Teil der EU noch zählt sie zu Großbritannien. Vielmehr können die Kanalinseln in fast allen Belangen selbstständig entscheiden. Staatsoberhaupt ist die britische Königin. Dank dieser Autonomie hat man eigenes Geld und eigene Briefmarken. Glücklicherweise akzeptiert man dort auch das britische Pfund, in »Mainland«{4} jedoch werden Geldscheine der Kanalinseln nicht akzeptiert. Aufgrund des warmen Golfstroms wachsen auf Guernsey die unterschiedlichsten Palmenarten und Blumen, sodass die Insel wie ein großer Garten auf mich wirkte, in dem es sich wunderbar Rad fahren, oder malen wie Renoir beziehungsweise dichten wie Victor Hugo lässt. Mir fiel die Hilfsbereitschaft und der höfliche Umgang der Menschen miteinander auf. Ich schaute beispielsweise nur etwas unbeholfen auf den Fahrplan – sofort sprang mir jemand zur Seite und fragte, ob ich Hilfe bräuchte. Abends blieb mir aus finanziellen Gründen schließlich leider doch nur die Möglichkeit, Fish and Chips zu essen, da die ansonsten angebotenen Köstlichkeiten meinen finanziellen Rahmen total gesprengt hätten. So sprengte ich mir nun stattdessen fast meinen Magen, da dieser mit Fett, Fett und nochmals Fett bombardiert wurde.

Danach konnte mich in Mainland kulinarisch nichts mehr schockieren. Ich fühlte mich daher nun bereit, die Insel an derselben Stelle bei den Kreidefelsen von Poole zu betreten, an der Lord Baden Powell{5} sein erstes Pfadfinderlager veranstaltet hatte. Von Poole aus reiste ich weiter nach Salisbury, im Südwesten Englands gelegen. Bereits auf dieser ersten Fahrt wurde ich positiv überrascht. Die Bahn, die als so schlecht gilt, war pünktlich. Nur was den Komfort anbetraf, war sie unterstes deutsches S-Bahn-Niveau. Danach die nächste Überraschung: blauer Himmel, Sonnenschein und wunderschöne Parklandschaften, die bei diesem Sonnenschein so richtig strahlten. In Salisbury angekommen, gab es wieder eine Überraschung. Die Stadt, wie nun viele, die ich mittlerweile bereist habe, ähnelt einem Freilichtmuseum, da sie von beiden Weltkriegen verschont geblieben war. Das Kulinarische bot eine weitere Überraschung. Da ich in Hostels selbst kochen konnte, machte ich um das fette eklige Essen einen großen Bogen. Dank Lidl, Safeway und Tesco{6} lebte ich relativ gut, gesund und günstig.

Der Grund für meinen Besuch von Salisbury lag allerdings nicht an den Supermarktketten, sondern an einem Steinhaufen, der etwa 5000 Jahre zuvor dort errichtet worden war. Glücklicherweise machte ich eine Fahrradtour, um nach Stonehenge zu gelangen, denn leider war diese berühmte Attraktion nicht wirklich attraktiv. An grünen Wiesen vorbeiradelnd, die jeden Fußballer ans Paradies erinnern würden, wenn er normalerweise die Äcker der Bundesliga gewohnt ist, entdeckte ich plötzlich eine riesige Herde Touristen hinter einer Kuppe, die über die Straße pilgerte. Dann erst sah ich den Grund, warum sich diese Herde formiert hatte. Einige bis zu 50 Tonnen schwere Steinbrocken waren so angelegt worden, dass man zur Winter- und Sommersonnenwende den Sonnenauf- beziehungsweise -untergang zwischen den Steinen sehen kann. Viel mehr ist über Stonehenge leider nicht bekannt, bis auf die Tatsache, dass ca. 600 Leute notwendig waren, solche Felsbrocken über weite Strecken zu schleppen. Diese stammen von einem etwa 30 Kilometer entfernten Berg. Die Fahrradtour durch die südenglische Landschaft war aber auch so wunderschön, da ich dabei die Engländer bei ihrer Lieblingsbeschäftigung beobachten konnte: dem Rasen mähen. Anders als in Deutschland wird in England nicht das Auto aufgemotzt und poliert, sondern der Rasenmäher, den es natürlich in den tollsten Tuningvarianten mit fettem Spoiler gab.

Eine anderes Hobby der Engländer ist das »Queuing«{7}. Bevor das Postamt öffnete, standen die Menschen bereits in Reih und Glied in einer Schlange, die bis um die Ecke des Gebäudes reichte. Nach dem Öffnen wurde nicht gedrängelt, sondern im Marschschritt an die Abzäunungen für die »offizielle« Schlange getreten. Diese Sitte ist fair und sollte bei uns mit etwas weniger Passion auch beim Anstehen für Karten des 1. FSV Mainz 05{8} eingeführt werden.

Von Salisbury fuhr ich weiter nach Bath, das für seinen georgianischen Baustil bekannt ist, und von der UNESCO zum Welt-Kulturerbe erklärt wurde. Dieser Stil ist, um es banal auszudrücken, folgendermaßen zu beschreiben: kleine Reihenhäuser mit unzähligen Schornsteinen, gebaut im 18. Jh., die aneinander gedrängt aus 50 Häusern oder mehr bestehen. Vom Bürgersteig gelangt der Besucher über eine Brücke zum eigentlichen Haus. Unter der Brücke befindet sich eine weitere winzige Wohnung, die dazu noch eine Kellerterrasse besitzt. Vom Bürgersteig aus kann man als Fußgänger in bester »Big-Brother-Manier« direkt auf die Terrasse gaffen.

Bath verließ ich anschließend mit dem Zug weiter in Richtung Wales. Dieses Mal gab es die erste Verspätung, da eine der wenigen in Großbritannien noch verbliebenen Rinder nun auch wahnsinnig geworden war und unbedingt auf den Gleisen weiden wollte. Überhaupt lief das Zug fahren auf der Insel etwas anders ab als im Land der Deutschen Bahn AG. Die Bahnsteige waren manchmal viel zu kurz für den Zug, sodass nur aus einem Wagen ausgestiegen werden konnte. Dieser wurde unmittelbar vor der Ankunft vom Schaffner verraten. Anschließend zog eine Karawane durch den Zug und die Fastnacht{9} erhielt im nicht karnevalistischen Britannien in Form einer Polonaise Einzug in den Alltag. Den Rest der Zeit unternahm der Schaffner nicht viel, da die Kontrolle von Fahrscheinen eher nicht zu seinem Tätigkeitsprofil zu gehören schien. Dafür schaffte es der »Catering Manager« mit seinen Chips so viel Müll zu produzieren, dass ein weiterer Manager, der Umweltbeauftragte, oder altdeutsch »Müllmann«, den Kram, den sein Kollege gerade verkauft hatte, wieder einsammeln durfte. Draußen vor den Zügen arbeiten noch weitere Manager: die Bahnsteigmanager, die sich mittels Pfeifen peu à peu verständigen, ehe der Zug losfahren darf.

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