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Andrea Z. Rhein

Verlorenwesen

Sie schwingt sich auf ihr Rad. Leichtfüßig, leichtherzig. Die Welt gehört für diesen kurzen Herzschlag ihr. Wer weiß schon, wie es später ist, ob sie alles im Griff halten kann. Jetzt erhebt sie sich in den glühenden Morgenhimmel.

Sie saust den Hügel hinunter wie eine Schwalbe am Sommerabend und tritt am Fuße der Straße in die Pedale, um die Gegensteigung hinaufzufliegen. Göttin der Lüfte.

Es klingelt zum Schulbeginn. Hastig schließt sie ihr Rad ab und mischt sich unter die Mitschüler. Vera schaut sie abfällig an. Tuschelt mit Yeshi. Yeshi schaut noch verächtlicher. Stinkefinger, denkt sie, doch sie lächelt zu ihnen hinüber.

Herr Wenner verteilt die Mathe-Klausuren. Die Sechser zuerst, damit alle Bescheid wissen. Unter dem Tisch zupft sie Hautfetzen aus ihrem Nagelbett, bis das Blut aus dem winzigen Loch quillt. Sie holt ein Tempo aus der Tasche und wickelt es um den Finger. Ganz zum Schluss erst legt Herr Wenner das jungfräuliche Papier vor sie auf die Bank. Sie schlägt die letzte Seite auf. Fünfzehn Punkte wiegt sie nun mehr. „Weiter so“, sagt er im Vorübergehen, während sie versucht, den frischen Blutstreifen von der Seite zu wischen.

Vorsichtig lugt sie in die Brotdose, der Feind lauert überall. Das Brot landet im Papierkorb mitsamt der Fürsorge, die die Mutter darauf gestrichen hat. Die Milch kribbelt in den Adern, jeder Schluck ein Selbstvorwurf. Endlich das befreiende Klingeln.

„Kommst du jetzt zu meiner Geburtstagsparty?“ Klara ist ihr auf der Treppe entgegengekommen und bleibt kurz stehen.

„Kann nicht, muss zum Arzt“, schwindelt sie.

„Schade“, säuselt Klara, zuckt mit den Achseln und stöckelt die Treppe herunter, hinter Youssef her.

Nie im Leben könnte sie hingehen. Sich begaffen lassen? Sich verstellen müssen? Niemals. Göttin der Feigheit.

„Wie war es in der Schule“, will die Mutter wissen. „Gut“, lügt sie.

Die Mutter schaut in die leere Brotdose und lächelt die Krümel an. Bedenkt die Tochter mit einem schmerzlichem Blick.

Ich will deinen Schmerz nicht, denkt sie.

„Hab fünfzehn Punkte in Mathe“, sagt sie. Tauscht die Note gegen Anerkennung. Katalysierte Ohnmacht.

Die Mutter strahlt. „Super! Da bist du ja fast die Beste in der Stufe, oder?“

Es hat funktioniert. Die Mutter bekommt ein Lächeln geschenkt. Göttin der Lüge.

Das Zimmer ist ordentlich, wie sie es mag. Alles brav verstaut in den muffigen Kästen und Schränken. In den Relikten der Vergangenheit, den stummen Zeugen von Versprechen und Gehorsam. Sie will sie nicht. Sie gehören ihr nicht.

Ihr gehören die Musik in den Lautsprechern und die Götter an den Wänden. Ihre Seelenverwandten. Sie schauen zu ihr herab, weihen den Raum. Verbündete im Feindesland. Sehnsüchtig streicht sie über das kalte Papier.

Sie schließt das Zimmer ab, entkleidet sich und betrachtet sich im Spiegel. Fast perfekt. Sie gleitet über ihre Taille, umfasst sie mit beiden Händen, dass die Fingerspitzen sich beinahe berühren. Ihre Finger fahren die Hüften hinab. Damit ist sie noch nicht ganz zufrieden. Besorgt schaut sie auf die Rundung der Oberschenkel. Noch nicht perfekt genug. Schnell kleidet sie sich wieder an, verhüllt den Makel.

Es klingelt an der Tür. Die Mutter begrüßt die dunkle Stimme. Es ist er!

Sie presst die Augen zu, verschließt die Ohren. Nicht zu sehen seine Fleischlichkeit. Nicht zu hören sein grunzendes Lachen, sein Röhren, sein Keuchen. Von damals, als er sie aus der Welt stieß. Als er das Grab öffnete. Nur das eine Mal für die Ewigkeit. „Begrüß doch deinen Onkel, Kleines“, fordert die Mutter von unten.

Sie setzt sich den Kopfhörer auf und flieht mit ihren Göttern unter die Decke. Zittert im Takt zur Musik. Die Mutter schlägt vergeblich an die Tür.

Später schleicht sie in die dunkle Küche. Manchmal, wenn die Welt schläft, lockt das leuchtende, kalte Viereck sie in die Verdammnis. Sie steht davor und verschlingt ihre Vorsätze. Mit großen gierigen Bissen verliert sie alles hart Umkämpfte. Alles dahin, alles verloren. Die Kapitulation. Das leuchtende, kalte Viereck hat die Macht übernommen.

Aber nicht er. Er wird nicht gewinnen. Morgen bin ich wieder stark, weiß sie. Göttin der Disziplin.

Den Kopf voller Gedanken, den Magen voller Verfehlung sitzt sie in der Küche, als die Tür aufgeht. Er steht im Lichtstreif. Schnell springt sie auf.

„Kleines!“ Er öffnet die Tür ganz. Der dicke Bauch klafft aus dem Schlafanzug. Stechender Geruch zieht ihm voraus. Fleischlichkeit drängt gegen seine Hose. „Jetzt kannst du deinen Onkel begrüßen, Kleines!“

Sie dreht sich um, durch die andere Tür zu fliehen. Doch satt drückt seine Pranke in die Wölbung ihres Rückens. Will sie in das Grab schieben.

Das Messer wiegt schwerer in der Hand, als sie gedacht hätte. Warm tropft das Blut auf ihre Füße, holt sie zurück in die Welt. Die Klinge fällt auf seine schlaffen Glieder.

Sie schwingt sich auf ihr Rad und saust den Hügel hinunter wie eine Möwe im Sturm. Am Fuße der Straße tritt sie in die Pedale, um die Gegensteigung hinaufzufliegen. Göttin der Freiheit.

4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018

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