Читать книгу 4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018 - Christoph-Maria Liegener - Страница 61
ОглавлениеMaren Sauer
Ein Frühjahr im Konjunktiv
Eben jenen frisch aufgeschütteten Kiesweg wäre er mit mir gegangen und hätte die Osterglocken am Rande blühen sehen. Der schleierlose blaue Himmel beginnt gerade an Leuchtkraft zu gewinnen. – Siehst du, wie die vermaledeiten Stadttauben, die unsereins am Boden plagen, sich dort oben so elegant bewegen? Mit konzentriertem Krafteinsatz, aber so sensibel in die Schräge schießen und sich schließlich fallen lassen? – So würde er mit dem ihm eigenen wissenschaftlichen Ernst sagen, der, hier herrlich unpassend, mich zum Schmunzeln brächte: Tja, die haben echt Flügelspitzengefühl. Übrigens ist „Fingerspitzengefühl“ ein Wort, das in den meisten Sprachen keine Entsprechung hat. Hast du das gewusst? Dabei ist es ein ganz wunderbar bildhaftes Wort. – Wirklich? Ja, da hast du wohl Recht.
Bald werden wieder wilde Kornblumen blühen, wie Jahr für Jahr, wenn der Sommer hereinbricht; blau, ihre gezackten Blütenblätter der Weite entgegen. Er würde sie auf den Balkon gestellt haben, seine Lieblingsblumen, die zu jedem Geburtstag im Juni gehören, seit er denken kann. Im grüngepolsterten Biedermeier-Sessel würde er sitzen und sich an ihnen erfreuen. Die hohen Lehnen umrahmten seinen im Alter geschrumpften und von der Krankheit knochig gewordenen Körper. Im grünen Sessel, in meinem grüner Sessel nun, der fehl am Platz wirkt; der hier bei mir nicht stehen dürfte. Eigentlich.
Habe ich dir schon erzählt, dass ich jetzt endlich Effi Briest lese? Das hatte ich mir schon so lange vorgenommen und es gefällt mir. Aber ich kann nicht recht nachvollziehen, warum du mich einmal mit einer Figur Fontanes verglichen hast. Oder hat es mit der Art der Schilderung zu tun? Mit der Konturgebung seiner Persönlichkeiten? Er charakterisiert irgendwie zugleich bemutternd wie wertschätzend. – Ich dächte einen Moment nach, bevor ich den nächsten Satz schriebe: Entspringt solch ein Vergleich nicht doch deinem Blick durch die rosarote Brille? – Er würde es mir näher erklären müssen.
Einen leuchtend gelben Briefumschlag würde ich vielleicht wählen, sicher einen ausgeschlagenen, um seinem Inhalt mehr Schutz und Bedeutung zu geben. Zuneigung durch Gesten. Mehr davon hätte es geben sollen-? Erfreut würde er ihn entdecken, den Umschlag, nachdem er sich in der Hoffnung auf Nachricht noch mit Rückenschmerzen auf den Weg durchs Treppenhaus gemacht hätte. Seinen Atem höre ich innerlich, der mit jeder Stufe schnaufender würde und sich erst zur Pause auf dem nächsten Absatz wieder beruhigte. Immer noch läse er Briefe stets dreimal; mindestens. Sie blieben auf dem Nachttisch liegen und mit der Zeit bildeten sich um die mehr oder weniger säuberliche Schrift des jeweiligen Verfassers Wortketten und hieroglyphische Kürzel im dezenten Bleistiftgrau – Fragen, die er stellen würde. So täte er es mit jedem Brief und antwortete getreulich. Doch Post an mich wäre etwas ganz Besonderes, das ist sicher. Bei jeder Gelegenheit überraschte sie mit ein paar beigelegten Briefmarken. Ausführungen der neuesten Serie: ob Tiere, Pflanzen, Jubiläen. Geschmäcker sind verschieden… und gewiss würde ich nie wieder, nicht einmal innerlich, lachen, wenn seine Wahl auf Amöben- und Moosbilder fiele! – erkläre sie mir, die Moorwelt, Opa; erzähl mir einen Teil deines Lebens. – Denn ich würde ihn gekannt haben wollen. Nein, ich will ihn gekannt haben; ich habe ihn auch gekannt, werde ihn immer irgendwie kennen und sein Bild vor Augen haben.
Seit dem Tod erzählt sich mein Leben im Konjunktiv. Bis zu dem Punkt, an dem diese lose schwebende Zeit ihre Notwendigkeit verliert. Bis Vergangenheit und Gegenwart wieder nahtlos aneinander anschließen und die Aussicht auf eine erinnernde Zukunft plausibel erscheinen lassen werden. Trauer.