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Maximilian Gstöttner

Die Geschichte vom Jamaikanischen Kolibri

„Der kleine, bunte Kolibri, noch unerfahren in der großen Welt, war hauptsächlich damit beschäftigt, sich am Blütennektar zu erfreuen.

Wenn er davon genug hatte, ließ er sich vom Wind dahintreiben, träumte von den großen, weißen Wolken. Fürchtete sich vor den schwarzen Regenwolken. Gute Segeleigenschaften waren ihm genauso in die Wiege gelegt, wie das Stillhalten in der Luft mit raschen Flügelschlägen, um den köstlichen Nektar mit der langen Zunge aus den Blütenkronen zu ziehen.

Der kleine Kolibri wusste nichts von der Existenz der Luftströmungen.

Denn zu fliegen ist so selbstverständlich, wie das Atmen für Menschen oder das Schwimmen für die Fische. So weiß ein Fisch auch nichts von der Existenz des Wassers. Es ist einfach vorhanden. Er nimmt es nicht wahr. Der kleine Kolibri wusste nichts von der Bedeutung des Träumens.

Dass die Abwesenheit von Träumen eine Gefahr bedeuten kann.

Von seinen Stammesältesten wurde er auserwählt,

in fernen Ländern neue Düfte und Geschmacksrichtungen zu erkunden, um das Überleben der Kolibri-Familie zu sichern. Falls der Blütennektar auf Jamaica einmal zu Ende ginge. Der Ältestenrat hatte manchmal Daseinsängste und blickte sorgenvoll in die Kolibri-Zukunft.

Der kleine Kolibri trägt in seinem Federkleid die Landesfarben seiner Heimat. Schwarz, Grün und Gelb. Deshalb braucht er keinen Reisepass für fremde Länder. Mit dem Reisegepäck war es ein Problem, sodass er schließlich überhaupt keines mitnahm. Nur seinen Mut, die jugendliche Unbekümmertheit und den Sendungsauftrag der Stammesältesten.

Dass in diesem Ältestenrat keine Kolibri-Frauen vertreten waren, fiel ihm erst auf, als er schon unterwegs war. Nach seiner Rückkehr würde er dies im Rat besprechen wollen, das nahm er sich vor.

Rasch sollte er große Höhen erreichen, um sich mit den Luftströmen über weite Strecken treiben zu lassen. Der Rat der Weisen hatte ihm dies aufgetragen und zum Abschied seinen Segen mitgegeben:

„Hab den Wind im Rücken und die Sonne im Gesicht. Die Stürme mögen dich nach oben tragen, auf dass du mit den Wolken tanzest!“

Er verfiel in eine Starre, die Kolibris einnehmen, um Energie zu sparen. Im Traum begegnete er einer weisen, alten Kolibri-Fee. Sie flüsterte ihm zu:

- Du musst nicht auf die gefährliche Reise zu fremden Ländern aufbrechen. In deiner Heimat, der mit Reggae- Klängen und Cannabis-Düften durchdrungenen Insel gibt es noch viele tausende unerforschte Blüten und Geschmacksrichtungen!-

Nach dieser Begegnung war für ihn klar. Er kehrte um. Die alte Kolibri-Herrenrunde, obwohl weise und erfahren, hat verlernt, die Macht der Träume zu erkennen. Wohlan, kleiner Kolibri, flieg deine Träume.“

4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018

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