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Katharina Martin-Virolainen

Ein Zimmer in einem anderen Hotel

Ich stand am Fenster, er an der Tür. Ich war in eine warme Decke umhüllt, er in seinen durchnässten Mantel. Ich mit einem Glas Wein in der Hand, er mit seinem Koffer. Keiner von uns sagte was. Wir standen einander gegenüber und schauten uns verdutzt an. Endlich brach er das Schweigen. Seine Stimme war sehr tief. Vielleicht war er ein Opernsänger, der wegen des Schneesturmes in Genf festsaß und irgendwo in Europa sein Konzert verpasste. Oder er war ein Diplomat. Oder auch ein Gauner. Ein Mafioso. Ein Kunstdieb. Was kann man schon über einen Menschen sagen, wenn man ihn zum ersten Mal sieht?

Eigentlich hätte ich schreien sollen. Ganz laut, damit man mich unten an der Rezeption hört. Vielleicht fällt er gleich über mich her und morgen früh findet man meine Leiche. Aber ich habe nicht geschrien. Ganz leise erklärte ich ihm, dass es mein Zimmer sei. Ich ging zu meinem Nachtisch und zeigte ihm den Schlüssel. Er lachte und zuckte seinen heraus. Einer von uns musste gehen. Das Zimmer wurde doppelt vergeben. Keine Ahnung, wie das passieren konnte. Aber ich war zuerst da, also hatte ich Anspruch darauf. Wenn einer gehen musste, dann er.

Draußen tobte ein Schneesturm. Flughafen, Bahnhöfe, Straßen – alles lahmgelegt. Und er musste wieder raus, sich in der Dunkelheit und bei dieser Kälte weiter durchkämpfen und nach einem Hotel suchen. Er entschuldigte sich und kehrte um. Bevor die Tür zufallen konnte, rief ich ihn zurück. Ich bat ihn hineinzutreten. Wenn schon jemand Schuld an dieser Situation hat, dann ist es das Hotelpersonal. Ich erklärte mich bereit die Rezeption anzurufen. Sie sollen hochkommen und das in Ordnung bringen.

Der Gast ließ sich schüchtern auf die Couch sinken und lehnte sich müde zurück. Keine zwei Minuten später stürmten zwei Hotelmitarbeiter in unser Zimmer. Sie entschuldigten sich, schworen Kostenrückerstattung, versprachen Entschädigung, waren bereit alles auf der Welt zu besorgen. Aber eins konnten sie nicht tun: Ihm ein Zimmer anbieten. Das Hotel war überbelegt. Wie das mit dem angeblich freien Zimmer und dem Schlüssel passieren konnte, dafür hatte niemand eine Erklärung.

Die ganze Situation schien meinen Gast eher zu amüsieren. Die Hotelmitarbeiter luden ihn nach unten ein. Dort könne er an der Bar etwas trinken und eine Kleinigkeit essen. Währenddessen würden sie versuchen ein Zimmer in einem anderen Hotel für ihn zu organisieren. Es war Feiertag. Es war Wochenende. Es war Genf. Ich war gespannt, was sie da organisieren könnten und wie lange das dauern würde.

Mein unerwarteter Besucher blieb bei der ganzen Sache ziemlich gelassen. Er griff nach seinem Koffer und wollte den Mitarbeitern folgen. Doch wieder hielt ich ihn auf. Ich bot ihm an eine Weile hier zu bleiben. Die Suite war groß genug, er störe mich nicht und dann platzte es aus mir heraus: „Ich könnte etwas Gesellschaft gebrauchen.“

Die Hotelmitarbeiter schauten etwas verdutzt. Etwas überrascht, aber erleichtert nahm der Gast mein Angebot an. Die Hotelmitarbeiter wussten nicht wohin mit sich. Sie entschuldigten sich noch einmal und verschwanden nach unten. Sie würden sich sofort melden, sobald sie eine Lösung gefunden haben. Für die Unannehmlichkeiten, die wir beide dadurch erfahren, dürften wir uns auf Kosten des Hauses an der Minibar bedienen.

Da waren wir wieder. Ich am Fenster, er auf der Couch. Beide mit einem Glas Wein in der Hand. Er war immer noch nass. Gut, dass die Couch aus Leder war. Ich sagte ihm, er könne doch duschen. Er muss nicht frieren. Sonst wird er ja noch krank. Er nickte, trank seinen Wein aus und verschwand im Bad. Ich drehte mich um und schaute wieder aus dem Fenster in die weiße Wüste.

Während er im Bad war, warf ich die Decke ab und kleidete mich etwas angemessener. Wer weiß, was er sonst von mir denkt. Er kam aus dem Bad heraus. Frisch geduscht und wieder so elegant gekleidet. In jedem zweiten Satz dankte er mir für meine Gastfreundschaft. Doch ich war ihm noch mehr dankbar.

Da standen wir. Beide am Fenster. Beide mit einem Glas Wein in der Hand. Es stürmte immer noch. Genf versank in einem weißen Chaos. Wir haben ganz leise gesprochen, als ob uns jemand hören könnte. Teilweise war das Heulen des Sturmes lauter als unsere Worte. Die Weinflasche war schnell leer. Aber das machte nichts, denn wir hatten uns durch die „Unannehmlichkeiten“ einen All-Inklusive-Aufenthalt in einem der besten Hotels der Stadt verdient. Wir hatten beide einen harten Tag und konnten kaum mehr stehen. Also schoben wir die Couch direkt vor das Fenster. Wir setzten uns hin und schauten weiter in die weiße Leere. Er lachte und war guter Laune. Ich auch. Allein schon wegen der Tatsache, dass ich nicht mehr einsam war. Er schien wohl ganz vergessen zu haben, dass er auf einen Anruf der Rezeption wartete. Und ich habe vergessen zu erwähnen, dass der Anruf nicht kommen würde. Ich habe unten bereits Bescheid gegeben, dass es sich mit dem Zimmer in einem anderen Hotel erledigt hatte.

4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018

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