Читать книгу Neuland unter den Sandalen - Christoph Müller - Страница 10
NIE WIEDER! 9. Juli
ОглавлениеAls ich am Morgen das Zelt öffnete, saß bereits die junge Elster, mit der ich schon am Vorabend Bekanntschaft gemacht hatte, beim Zelteingang und bettelte. Sie zeigte ein fachmännisches Interesse für alle Teile meines Fahrrads. Geschwisterlich teilten wir unser bescheidenes Frühstück. Daraufhin wich sie keinen Zentimeter mehr von meiner Seite und folgte mir überallhin.
Als für die Weiterreise alles bereitstand, lockte ich meine kleine Freundin hinter eine Baracke und gab ihr dort ein Stück glitzernde Alufolie. Das lenkte sie für einen kurzen Moment ab. Schnell rannte ich zum Rad und machte mich aus dem Staub. Ich ließ ein leicht frustriertes Elsterchen zurück.
Schon näherte ich mich Le Puy, einer der bedeutenden Etappen am Jakobsweg. Ich besuchte die Basilika, die hoch über der Stadt thront, und war überrascht, da oben eine Quelle mit Trinkwasser zu finden. Als verwöhnter Schweizer musste ich lernen, dass es in vielen Gegenden Frankreichs kaum Brunnen gibt. Die Suche nach dem lebensnotwendigen Nass wurde zu einer der Hauptsorgen auf dem Weg, besonders bei meiner Fahrt durch das französische Zentralmassiv, wo man selbst in größeren Ortschaften vergeblich nach Wasser sucht.
Bald nach Le Puy folgte eine böse Überraschung. Meine Landstraße mutierte unversehens zu einer Schnellstraße. Das Radfahrverbot war unübersehbar, aber niemand hatte an uns Radfahrer gedacht. So fuhr ich einfach weiter, als ob nichts wäre.
Aber nach 20 Kilometern war endgültig Schluss. Die Schnellstraße mündete nämlich in eine mehrspurige Autobahn. Nur mit größter Mühe hob ich mein schwer beladenes Rad über die Leitplanken. Nach Überquerung einer hässlichen Baustelle kam ich auf einen kleinen Feldweg. Der Sonne nach zu schließen führte er nach Westen, und so vertraute ich mich ihm blind an.
Doch schon bald wurde ich missmutig. Es war heiß und staubig, und ich hatte viel Zeit verloren. Am liebsten hätte ich mich flach auf den Boden gelegt, die Augen geschlossen und alles vergessen!
Da bog der Weg in eine Straße ein, und nach kurzer Zeit fuhr das Rad wieder wie von selber. Es ging unaufhaltsam bergab, die Abfahrt wollte und wollte nicht enden. Ich wähnte mich schon bald unter dem Meeresspiegel.
Aber es kam keine rechte Freude auf. Eine dunkle Ahnung sagte mir, dass es auf der anderen Talseite ebenso unaufhörlich wieder bergauf gehen könnte. Und so war es auch. Nur mit größter Mühe schaffte ich den Aufstieg. Mein ursprünglicher Plan, auch den Rückweg der Pilgerreise mit dem Rad zurückzulegen, bekam einen ersten Dämpfer. Und es sollten noch weitere folgen! Für den Moment stand fest: Das werde ich mir, koste es, was es wolle, kein zweites Mal antun.
Bei Sonnenuntergang erreichte ich eine verträumte Kleinstadt. Ich war am Ende meiner Kräfte. Nichts wies auf einen Zeltplatz hin. Doch ein Hotel kam für meinen Geldbeutel nicht in Frage. In meinem verschwitzten und armseligen Outfit hätte man mich wohl auch gar nicht aufgenommen.
Da kam ein guter Engel in Gestalt einer alten Frau auf mich zu. Sie wies mich auf eine versteckte Campingmöglichkeit hin, gleich um die Ecke. Was für ein Paradies erwartete mich da! Der von einem kleinen Fluss umspülte Platz war genau das, was ich jetzt brauchte. Schnell stieg ich ins kühle Nass. Hier konnte ich den Schweiß und die Sorgen, aber auch die Freude und die Dankbarkeit dem träge dahinströmenden Wasser anvertrauen.
An diesem Punkt der Reise wurde mir klar: Die Heimat lag nun endgültig hinter mir. Es gab keine Absicherung mehr, kein Zurück. Es blieb nur der Blick vorwärts, nach Westen, Tag für Tag, ohne recht zu wissen, was jeder dieser Tage mit sich bringen würde. Was ich in meinem Heimatkloster Einsiedeln jahrelang, oft gedankenlos, beim nächtlichen Gebet gesungen hatte, hier nun klang es echt und überzeugt: „Herr, auf dich vertraue ich. In deine Hände lege ich mein Leben.“