Читать книгу Neuland unter den Sandalen - Christoph Müller - Страница 15
IN DER ARENA 14. Juli
ОглавлениеAm Vorabend hatten dunkle Wolken Regen angekündigt, aber das ersehnte feine Trommeln der Regentropfen auf dem Zeltdach blieb aus. Ein kurzer Blick aus dem Zelt ließ wieder einen heißen Tag erwarten. Meine vier Eiskugeln waren längst verdaut, und nichts Neues war an ihre Stelle getreten. So fuhr ich mit leerem Magen los. Bis zum Abend wollte ich die Stadt Pau erreichen, das Sprungbrett zu den Pyrenäen. Für die 110 Kilometer, die vor mir lagen, war ich hoch motiviert.
Nach 20 Kilometern konnte ich endlich einen Laden betreten. Speckbrot gab es da, Joghurt, Bananen und Orangensaft. Nach den Entbehrungen des Vortages kam ich mir plötzlich vor wie Gott in Frankreich! Ich bekam Flügel, und nichts konnte mich mehr bremsen. In Gedanken war ich bereits am Ziel.
Als ich durch ein Städtchen namens Nogaro fuhr und eine alte Kirche am Weg lag, stieg ich ab, um einen Moment innezuhalten. Bevor ich wieder auf mein Rad stieg, unterzog ich es einer kurzen Kontrolle. Da entdeckte ich zu meinem Schrecken, dass das Hinterrad nicht mehr rund lief und seitlich bei den Bremsen anstreifte. Eine Speiche war gebrochen! Immerhin hatte ich den Schaden hier entdeckt und nicht irgendwo unterwegs. Das hätte stundenlanges Schieben zur Folge haben können. Als ich bald eine Werkstatt fand, war ich froh.
Nur hatte ich völlig übersehen, dass der Kalender den 14. Juli schrieb: französischer Nationalfeiertag! Alle Läden waren geschlossen. Ich wusste nicht, was tun. Ziellos irrte ich durch den Ort.
Da entdeckte ich ein Plakat, das just für den heutigen Tag einen Stierkampf ankündigte. Diese Art der Unterhaltung entspricht zwar nicht meinem Geschmack. Aber ich wusste, dass man in Frankreich dem Stier kein Leid antut. So kaufte ich mir eine Eintrittskarte für stattliche 15 Euro. Es war schließlich eine günstige Gelegenheit, etwas Lokalkolorit zu erleben und mitten unter Leuten zu sein, an denen ich sonst immer nur vorbeifuhr.
Die Arena war schon voll besetzt, als ich sie betrat, und ich musste mit einem Platz an der prallen Sonne vorliebnehmen. Eine eigenartige Spannung lag in der Luft.
Zuerst spielte eine Musikkapelle auf. Unter ihren Klängen erschienen prächtig geschmückte Pferde und Reiter, die eine Ehrenrunde drehten. Dann konnte das eigentliche Spektakel beginnen. Ich wusste nicht recht, was mich erwartete. Endlich stürzte der erste „Stier“ in die Arena. In Wahrheit handelte es sich um eine feingliedrige, aber äußerst aggressive Kuh, der wohl irgendein Doping verabreicht worden war. Auf der einen Seite der ovalförmigen Arena waren Boxen, aus denen die kampfeslustigen Walküren herausstürmten. Auf der Gegenseite stand ein Mann hinter einer Barrikade. Er hielt einen Strick in der Hand, dessen anderes Ende um die Hörner der Kuh geschlungen war. Mit aller Kraft zog er das widerstrebende Tier zu sich. Dann gab er die Kuh plötzlich frei. Sie stürmte in die Mitte der Arena auf junge, weißgekleidete Männer zu, die, einer hinter dem anderen stehend, die heranbrausende Kuh regungslos erwarteten. Kurz bevor die wütende Bestie sie über den Haufen warf, sprangen sie nacheinander über das Tier hinweg und vollführten in der Luft die verschiedensten Kunstfiguren. Wieder auf dem Boden, brachten sie sich vor der Furie so schnell wie möglich in Sicherheit. Denn die düpierte Kuh preschte schnell wieder heran, um sich zu rächen. Es war spannend und lustig zugleich, und ich hätte stundenlang zuschauen können.
Nach diesem Vorprogramm folgte der eigentliche Wettbewerb, wie ich aus den dröhnenden Lautsprechern erfuhr. Jede der nun auftretenden Kampfkühe wurde mit Namen, Herkunft und Besitzer vorgestellt. Dann war die Reihe an den Athleten. Wie bei einem Open-Air-Konzert waren zuerst „schwächere“ Kämpfer an der Reihe. Schließlich sollte die Spannung über drei Stunden aufrechterhalten werden. Doch was nun folgte, enttäuschte und erzürnte mich.
Waren die wagemutigen Männer von vorhin elegant und gekonnt über die Kühe hinweggesprungen, ging es beim eigentlichen Wettbewerb darum, vor der herangaloppierenden Kuh stehenzubleiben, um dann, durch eine winzig kleine Bewegung der Hüften, die Furie möglichst knapp an sich vorbei laufen zu lassen. Je knapper der Abstand, umso höher war die Bewertung.
Es dauerte nicht lange, bis der Erste von einer Kuh gerammt wurde. Der junge Mann musste sich schwere Rückenverletzungen zugezogen haben, denn er blieb regungslos am Boden liegen und wurde auf einer Bahre abtransportiert. Das sei halt das Risiko dieses faszinierenden Sports, verkündete der Lautsprecher. Schon bald lag ein Zweiter am Boden. Er erhob sich zwar noch aus eigener Kraft, humpelte aber mit schmerzverzerrtem Gesicht davon. Nach zehn Minuten tauchte er wieder auf und betrat hinkend die Arena, unter dem tosenden Beifall der Zuschauer. Er wollte das Schicksal ein zweites Mal herausfordern, und diesmal gelang es ihm.
Als aber bald darauf ein Dritter regungslos am Boden lag, stand ich empört auf und verließ mit leisem Protest die Arena im Glauben, dass mir andere folgen würden. Aber nichts dergleichen geschah! Die Zuschauer hatten schließlich ein Jahr lang auf dieses Spektakel gewartet und wollten für ihre 15 Euro entschädigt werden.
Stierkampf auf Französisch: Junge Männer springen über die herangaloppierende Kuh.
Erst nach langer Suche fand ich den Zeltplatz. Er war zwischen einem kleinen Flugplatz und einer Motorradrennbahn eingeklemmt. Das verhieß nichts Gutes. Immerhin verstummte der Motorenlärm gegen 22 Uhr. Ich dachte schon ans Einschlafen, aber da täuschte ich mich. Von einigen nahen Baracken ausgehend, erhob sich zu Ehren der „Grande Nation“ ein infernalischer Discolärm, der bis in die Morgenstunden dauerte. Einer der Scheinwerfer war genau auf mein Zelt gerichtet, und die Schatten der Tanzenden hopsten wie Gespenster über mir auf und ab.
Ausnahmsweise war es von Vorteil, dass ich nicht schlafen konnte. Im Licht des Scheinwerfers wurde ich auf den Schatten eines Hundes aufmerksam, der sich meinem Zelt näherte und daran herumschnüffelte. Seine Absicht war unverkennbar. Als er schließlich sein Hinterbein hob, um das Zelt nach Hundeart zu markieren, gab ich ihm durch die Zeltwand hindurch einen derart heftigen Fußtritt, dass er jaulend davonrannte.
An Schlaf war nicht zu denken. Nicht allein wegen des Lärms. Alle möglichen Gedanken schossen mir durch den Kopf. Das lädierte Rad ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Es ließ bohrende Zweifel aufkommen, ob ich Santiago je erreichen würde.