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WIE EIN KAMEL NACH EINER LANGEN WÜSTENWANDERUNG 13. Juli

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Ich war froh, als die Sonne endlich aufging. Ich hatte schlecht geschlafen, dennoch war ich guter Dinge. Das konnte man von den Stechmücken, die immer noch über meinem Kopf lauerten, nicht behaupten. Beim ersten Sonnenstrahl flogen sie hungrig und frustriert davon.

Auf ein Bad im Tarn verzichtete ich gern, da sich das Wasser, in welchem ich mich gestern bei Dunkelheit erfrischt hatte, nun als eine schmutzige Brühe entpuppte, die von öligen Streifen durchzogen war.

Dafür war der träge dahinfließende Fluss für mein Morgengebet ideal. Eine geistliche Lektüre lag auch bereit, denn ich hatte ja am Vorabend das Pfarrblatt mitgenommen. Es sah schon etwas mitgenommen aus, denn ich hatte im Zelt ein nasses Wäschestück daraufgelegt. Aber lesbar war es allemal. Als ich es gerade entsorgen wollte, traf mich fast der Schlag. Das Pfarrblatt war persönlich angeschrieben! Es gehörte einem Pfarrkind, das sein Eigentum vermutlich schon bald in der Kirche abholen wollte. Ich rückte und drückte das Blatt zurecht, so gut es ging. Dann legte ich es auf eine ebene Fläche und setzte mich einen Moment darauf, um ihm die nötige Glätte zu verleihen. Schließlich hängte ich Seite für Seite zum Trocknen an eine Wäscheleine, bündelte sie wieder zusammen und machte mich nochmals auf den Weg zur Kirche, um das Entwendete heimlich zurückzulegen. Ich hoffte natürlich, dass ich dabei auch meine Brille wieder finden würde. Aber leider – es gab keinen wunderbaren Tausch. So legte ich das Pfarrblatt an seinen Platz zurück und verließ die Kirche ohne Brille.

Einmal mehr nahm ich mir vor, besser auf meine Habseligkeiten zu achten. Denn auf dem Jakobsweg werden einem alle Dinge zu kleinen, treuen Begleitern. Im Laufe der Pilgerreise werden sie einem lieb und vertraut, auch wenn es sich nur um eine Schnur oder einen Kugelschreiber handelt. Erst recht gilt das für eine Brille, durch die hindurch man schon so viel gesehen hat.

Natürlich konnte ich mir eine neue kaufen. Aber das war nicht das Gleiche. Der neuen Brille würde das gewisse Etwas fehlen, nämlich das, was meine Augen durch die alte Brille hindurch und mit ihr gemeinsam auf der bisherigen Wegstrecke gesehen hatten.

Mit einiger Verspätung fuhr ich wieder los. Ein heißer Tag kündigte sich an. Das mitgeführte Wasser wurde immer wärmer und weniger, und schließlich ging es ganz aus. Links und rechts waren nur vertrocknete Felder zu sehen. Der prallen Sonne ausgesetzt, stand da und dort ein einsames Pferd, das resigniert vor sich hinstarrte.

Endlich tauchte ein Dorf auf. Wenn da auch mit keinem Brunnen zu rechnen war, so erhoffte ich mir wenigstens ein kleines Wirtshaus. Am Dorfeingang wies eine Tafel auf ein stattliches Restaurant hin. Doch es war geschlossen. Ich war empört. Da sitzen die Wirtsleute irgendwo am Meeresstrand und sonnen sich, jetzt, wo ein Pater aus Einsiedeln am Verdursten ist und ihre Hilfe dringend benötigte!

Immerhin fand ich in einer Seitengasse einen einfachen Imbiss. Es gab nichts Warmes, aber wenigstens Brot und Käse, Wasser und Wein. Das erschien mir nun wie ein kleines Wunder, wie vom Himmel gefallenes Manna, und aus lauter Begeisterung fotografierte ich alles. Sehr zum Erstaunen der Wirtin, die hinter der Theke stand und mir zwischen den Schnapsflaschen hindurch immer wieder einen misstrauischen Blick zuwarf. Nichts ließ ich übrig. Wasser- und Weinflasche wurden bis auf den letzten Tropfen geleert.

Leicht betrunken verließ ich den Imbiss und hatte es plötzlich gar nicht mehr eilig. Am Dorfplatz legte ich mich zur Siesta auf eine Bank. Ganz in der Nähe spielten einige Männer mit leidenschaftlichen Kommentaren Boules (Boccia). Alte Frauen, auf ihren Bänken sitzend, hatten einander unendlich viel zu erzählen, obwohl sie sich bestimmt täglich hier trafen. Trotz des Lärms fiel ich in einen tiefen Schlaf.

Als ich erwachte, taten mir die Glieder so weh, dass ich etwas Zeit brauchte, bis ich überhaupt aufstehen konnte. Noch schlaftrunken und halb gerädert, zog es mich doch wieder weiter. Noch vor Sonnenuntergang wollte ich Condom erreichen, eine weitere wichtige Etappe am Jakobsweg.

Ich freute mich sehr auf die spätgotische Kathedrale, von der ich so viel gehört hatte. In und um das Gotteshaus erwartete ich einen regen Pilgerstrom. Doch alles stand verlassen da. Nur ein einziger Pilger fand sich im ganzen Gotteshaus. Er kniete im Mittelgang und verharrte da mit ausgestreckten Armen.

Mein Gebet war viel kürzer als das seine. Es bestand nur aus dem ersten Vers des Psalms 42: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele Gott nach dir.“ In meinem momentanen Zustand lag die Betonung eher auf dem ersten Teil des Verses.

Auf dem Vorplatz gab es zwar eine Art Fontäne, aber dieses Wasser war nur zum Anschauen, nicht zum Trinken. Endlich wies mich ein Mädchen auf eine Brunnensäule in einem Innenhof hin. Was da zutage kam, war warm, sehr warm. Doch die Temperatur des Wassers war mir im Moment völlig egal. Ich trank gierig wie ein Kamel nach einer langen Wüstenwanderung.

Die Stadt schien wie ausgestorben. Alle Läden waren geschlossen. Zum Glück entdeckte ich eine Gelateria mit feinstem Eis. Ich kaufte mir eine große Kugel, die ich mit Andacht und Hochgenuss verzehrte. Es sollte nicht bei der einen bleiben. Die schmunzelnde Verkäuferin sah mich noch ganze drei Mal kommen.

In der Nähe gab es einen sehr bescheidenen Zeltplatz. Man konnte dort etwas trinken, aber zu essen gab es nichts. So gesellten sich zu den vier Eiskugeln in meinem Magen nur noch ein paar Haselnüsse und zwei gedörrte Zwetschgen, die ich zuunterst in meinem Rucksack fand. So blieb mir nichts anderes übrig, als hungrig zu Bett zu gehen.

Da entdeckte ich ganz in der Nähe meines Zeltes ein Auto mit Schweizer Kennzeichen. Landsleute! Das helvetische Ehepaar erfreute sich gerade eines feudalen Nachtessens. Der Campingtisch quoll über von Schüsseln mit feinsten Speisen. Und mittendrin thronte eine Flasche vom erlesensten Wein. Das war mehr als genug für drei Personen! Gleich einem hungrigen Hund, dessen Nase den Duft einer Wurst aufnahm, schlich ich zuerst um den Wohnwagen herum. Dann, mich möglichst locker gebend, überraschte ich die beiden mit einem charmanten, breiten „Grüezi“, um in ihnen einen Akt guter, eidgenössischer Solidarität zu wecken. Die Strategie ging in die Hosen. Die Berner hielten mich mit ein paar Belanglosigkeiten auf Distanz, und ich musste mit knurrendem Magen zu meinem Zelt zurück. Wenigstens der Schlaf hatte Mitleid mit mir. Und im Traum besuchte ich die Gelateria noch ein fünftes Mal.

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