Читать книгу Marie Marne und das Tor zur Nacht - Christoph Werner - Страница 10

7. Kapitel

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Es war am zweiten Sonntag, nachdem Hannes ins Krankenhaus gekommen war, als Marie gleich nach dem Aufwachen beschloss, zum Bäcker an der Ecke zu fahren und Brötchen zu kaufen. Sie zog sich an, nahm Kleingeld aus dem Portemonnaie ihrer Mutter und fuhr, ohne sich gewaschen zu haben, mit ihrem Fahrrad an den anderen Einfamilienhäusern vorbei bis vor zur Straße. Ein Hund lief ihr bellend hinter dem Zaun des Nachbargrundstückes nach, sonst war alles still. Die Straße lag verlassen in der Morgensonne.

Wenn nicht vorne an der Ecke, dort wo der kleine Bäckerladen war, eine Straßenbahn vorbeigedonnert wäre, hätte man sich kaum vorstellen können, in einer Großstadt zu sein. Einfamilienhaus reihte sich an Einfamilienhaus, Wintergärten, Garagen, saubere Auffahrten und etwas zu originelle Briefkästen. Dann plötzlich die vierspurige Straße, Ampeln, Läden, zugeparkte Gehwege und die Straßenbahnhaltestelle, von der Marie wochentags immer in die Schule fuhr. Sie stellte ihr Fahrrad ab und betrat den Laden. Es duftete herrlich nach frisch gebackenen Brötchen. Gerade als sie die gebrochen deutsch sprechende Verkäuferin gebeten hatte, ihr fünf Doppelte zu geben, sagte plötzlich jemand neben ihr: „Wenn du mit deinem Vater sprechen willst, komm heute allein in die Klinik.“

Marie ließ das Geld fallen und fuhr herum. Neben ihr stand ein dünner großer Mann in einem schwarzen Anzug mit einem schwarzen Cowboyhut auf dem Kopf. Er hatte lange weiße Haare, die unter dem Hut hervorschauten.

„Was?“, fragte sie. „Was haben Sie gerade über meinen Vater gesagt?“ Sie merkte, dass diese Frage laut und fordernd aus ihrem Mund kam, ohne dass sie das beabsichtigt hatte.

Der schwarz gekleidete Mann sah sie nur kurz an, nickte und ging dann, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Marie starrte ihm nach. „Ich will wissen, was Sie gerade über meinen Vater gesagt haben“, rief sie, aber der Mann drehte sich nicht einmal um.

Die Verkäuferin tippte auf den Zettel, auf den sie den Preis für die Brötchen geschrieben hatte. Marie sammelte das Geld auf dem Fußboden zusammen, legte es auf den Teller an der Kasse, nahm ihre Brötchen und rannte hinaus. Neben ihrem Fahrrad blieb sie stehen und sah sich um. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, im Radio hatten sie 30 Grad vorausgesagt. Wo war der schwarz gekleidete Mann? Woher war er gekommen, und wieso hatte Marie ihn nicht bemerkt, als sie den Laden betreten hatte? Und wohin war er jetzt verschwunden? Noch einmal schaute sie links und rechts die Straße entlang, dann bestieg sie ihr Fahrrad und fuhr los.

Schon nach hundert Metern sah die Stadt nicht mehr städtisch, sondern dörflich aus. Marie hielt nach dem Mann Ausschau. Er konnte sein Auto irgendwo geparkt haben und damit weggefahren sein. Oder? Sie bremste und stieg vom Fahrrad. Ihr war gerade eingefallen, dass die Verkäuferin gar nicht auf den Mann reagiert hatte. Was, ja was, wenn er gar nicht dagewesen war? Was, wenn die Krankheit ihres Vaters, die niemand kannte, erblich oder ansteckend war? Vielleicht hatte es bei ihm auch so angefangen? Vielleicht hatte er am Anfang auch Menschen oder Dinge gesehen und gehört, die außer ihm niemand wahrnehmen konnte.

Im Weiterfahren probierte Marie ihr Gedächtnis aus und versuchte, sich an alles Mögliche zu erinnern: An ihre Geburtstage, an ihre Hausaufgaben, an die Ergebnisse ihrer letzten Punktspiele. All das fiel ihr nicht schwer, aber was bedeutete das schon?

Als sie nach Hause kam, stand die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern offen, ihre Mutter war also schon aufgestanden. Marie ging in die Küche und sah, dass Regine mit geröteten Augen am Tisch saß. Im Radio wurde irgendeine Messe übertragen. „Wir bitten dich, erhöre uns“, sagte die Gemeinde gerade. Marie wusste, dass sie ihrer Mutter nichts von dem Vorfall im Bäckerladen erzählen durfte. Seit Hannes in der Klinik lag, weinte Regine oft, sie sprach wenig und schlich, wenn sie zu Hause war, herum wie eine kranke Katze. Manchmal kam sie plötzlich ins Zimmer, gab Marie einen Kuss und ging wieder, einfach so, ohne etwas zu sagen.

Sie frühstückten stumm, während im Radio gesungen und gepredigt wurde. Nur einmal fragte ihre Mutter, ob Marie sich heute verabredet habe. Marie schüttelte den Kopf. Später räumte sie den Tisch ab und duschte im Bad unterm Dach, während ihre Mutter das im Parterre benutzte. In Jeans und einem weißen Leinenhemd kam Regine ins Wohnzimmer. Ihr langes braunes Haar war noch nass, sie hatte sich nicht geschminkt. „Komm“, sagte sie, mehr nicht, nur dieses eine Wort: „Komm.“

Sie gingen denselben Weg, den Marie eben mit dem Fahrrad gekommen war, bis zur Haltestelle und fuhren mit der Bahn in die Klinik. Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde. Marie sah aus dem Fenster. Sie dachte an ihren Vater, obwohl sie das nicht wollte.

Sie dachte daran, dass er sie abends vor dem Schlafen immer angemalt hatte. Mit dem Finger war er ihr übers Gesicht gefahren und hatte so getan, als ob er sie anmalen würde, und sie hatte raten müssen, in was seine ausgedachten Farben sie verwandelt hatten. In eine Katze oder in einen Pirat oder in eine Hexe oder sonst etwas. Wie lange war das her? Wann hatte ihr Vater das letzte Mal an ihrem Bett gesessen? Wenn sie die Augen schloss, sah sie ihn zwischen Instrumenten und Mikrofonständern in seinem Tonstudio sitzen, versunken, mit geschlossenen Augen Gitarre spielend oder Klavier, die großen Kopfhörer auf dem Kopf. Oder im Technikraum, wo Hunderte von Lämpchen und Zeiger zuckten und eine verwirrende Anzahl von Reglern in unterschiedlichen Farben zu bedienen war. Hier in seinem Reich verbrachte er die meiste Zeit des Tages und oft auch die Nacht. Hier durfte er nicht gestört werden. Wenn Marie ihn besuchen wollte, musste sie warten, bis die grüne Lampe über der Tür anging, und die grüne Lampe über der Tür ging immer seltener an, seit ihr Vater vor vier Jahren den großen Durchbruch geschafft hatte.

Seitdem arbeitete er ununterbrochen. Nicht mehr nur für Filme, deren Premieren in kleinen Programmkinos liefen, sondern für große Produktionen, bei denen Fernsehkameras und dreißig Journalisten vor dem roten Teppich warteten. Anfangs fand Marie es toll, ihren Vater zu den Premieren zu begleiten, aber jetzt waren es so viele. Hannes komponierte ununterbrochen. ADI-Träume zu kaufen war für ihn zur Selbstverständlichkeit geworden. Regine hatte ihm verboten, zwei Träume hintereinander zu haben, sie hatte sogar mit der Scheidung gedroht, als er nicht auf sie hören wollte. Die beiden hatten sich oft gestritten in letzter Zeit. Und jetzt? Jetzt war Hannes noch weiter fort. Viel weiter, vielleicht unendlich weit. Marie wollte nicht darüber nachdenken, ob sie ihn jemals wieder in seinem Studio würde sitzen sehen. Sie wollte diesen Gedanken nicht in ihre Nähe lassen, obwohl er wie ein Nebel über allem hing, was sie dachte.

Die Klinik lag direkt an der Straßenbahnhaltestelle inmitten eines sehr schönen Parks. Wenn es keine Klinik gewesen wäre, hätte Marie diesen Ort gemocht. Hinter einem etwa zwei Meter hohen schmiedeeisernen Zaun führte eine Auffahrt einen Hügel hinauf. Dort oben war ein großes weißes Gebäude. In einem Zimmer dieses weißen Gebäudes saß seit acht Tagen Maries Vater und niemand konnte sagen, was ihm fehlte. Er konnte gehen und essen und singen und komisch lächeln, aber er sprach nicht, erkannte niemanden, konnte sich an nichts erinnern.

Marie lief lustlos die Stufen zum Haupteingang hinauf. Sie ließ die Arme baumeln und schaute zu Boden. Sie wollte die große Eingangshalle nicht sehen, nicht das blank gewienerte Parkett, nicht das kunstvoll gedrechselte Geländer an den breiten Stufen, die zu den Zimmern führten, nicht den großen Kronleuchter und nicht die freundlich nickenden Schwestern und Ärzte. Eigentlich wollte sie auch ihren Vater nicht sehen, nicht, solange er in dieser Klinik war.

Als sie in sein Zimmer kamen, drehte er sich nicht einmal zu ihnen um. Er saß auf dem Bett und schaute aus dem Fenster. Maries Mutter ging zu ihm, streichelte und küsste ihn. Marie blieb an der Tür stehen. Es war wie jedes Mal, wenn sie herkamen: Sobald sie ihren Vater sah, fing ihr Herz heftiger zu schlagen an. Es war unbelehrbar, dieses Herz, es wollte sich nicht daran gewöhnen, dass Hannes sie nicht erkannte. Dass er seine eigene Tochter nicht erkannte, seine Frau nicht, niemanden. Dass er nicht sprach, dass er wie abwesend war. Jedes Mal, wenn ihr Herz den ersten Freudensprung getan hatte, kam die Traurigkeit.

Sie wollte ihn umarmen und wegrennen, aber nichts von all dem tat sie. Sie blieb an der Tür stehen, bis ihre Mutter sie heranwinkte, dann ging sie zu ihm und sah ihn an und ihr Herz krampfte sich zusammen. Er war so anders, so weit weg, obwohl er doch hier auf dem Bett saß und sie ihn anfassen konnte. Ihre Mutter zog ihn sanft am Arm und er folgte ihr, ohne sie anzusehen. Marie lief hinterher. Sie gingen in den Garten. Es war kurz nach dem Mittagessen, die meisten Besucher kamen später.

Der Garten fiel sanft ab und endete an einer Mauer, hinter der die nächste Straße lag. Zuerst setzten sie sich auf eine Bank und schauten auf die Stadt. Wie viele Väter holten jetzt gerade das Auto aus der Garage oder die Fahrräder aus dem Keller? Wie viele glückliche Familien waren jetzt irgendwo da draußen unterwegs? Marie sah die Häuser, die Straßen, die Sonne, ein herrlicher Tag. Hannes fing wieder an, leise zu summen. Es war, als ob er ein Lied mitsang, das er hörte. Aber wo hörte er es? In seinem Kopf, im Weltall, wo? Hier war nirgendwo Musik, hier sang niemand außer den Vögeln in den Bäumen. Wo nur hörte er dieses Lied?

Maries Mutter stand auf und ging zu einem der Ärzte, einem Mann mit grauem Haar, der gerade in der Tür gestanden und ihr zugenickt hatte. Die Ärzte wussten nicht, was Hannes fehlte, sie hatten sein Gehirn fotografiert, sie hatten einen Haufen bunter Bilder gemacht und sie angeschaut, aber auf den Bildern war alles in Ordnung. Hannes’ Kopf war nicht kaputt. Es gab keine Erklärung. Das war vielleicht das Schlimmste, dass es keine Erklärung gab, dass niemand sagen konnte, was mit ihm los war. Wie lange würde er so bleiben? Für immer oder nur bis nächste Woche? Niemand wusste, ob er nicht vielleicht eines Morgens einfach aufstehen, sich schütteln und nach seiner Tochter und seiner Frau suchen würde. Am Anfang hatte Marie immer, wenn das Telefon klingelte, damit gerechnet, dass Hannes wieder normal war.

Jetzt sah sie ihn von der Seite an. Er summte und blickte auf die Stadt. Sie nahm vorsichtig seine Hand. Er ließ es geschehen. Eine Träne lief ihr über die Wange, sie konnte nichts dagegen tun. Als ihre Mutter zurückkam, ging Marie fort. Sie lief ziellos durch den Park. Einmal drehte sie sich um. Ihre Mutter redete mit Hannes, als ob er sie verstehen könnte. Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass man nicht wissen könne, was Hannes verstand und was nicht. Aber Marie wusste, dass er nichts verstand. Die Ärzte wollten sie nur trösten, sie wollten darüber hinwegtäuschen, dass sie keine Ahnung hatten, was mit Hannes los war.

Marie ging zu einer der Bänke. Später am Tag würden diese Bänke alle besetzt sein, aber jetzt noch nicht. Sie setzte sich und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Hallo Marie, schön dass du gekommen bist“, sagte plötzlich jemand. Als sie den Kopf drehte, saß der Mann aus dem Bäckerladen neben ihr. Er trug immer noch den schwarzen Hut und den schwarzen Anzug und saß sehr gerade da, den Blick in die Ferne gerichtet. Wie hatte sie ihn übersehen können? Das war doch unmöglich.

„Darf ich mich vorstellen?“, fragte der Mann mit komischem Akzent und reichte ihr eine Visitenkarte. „Mr. Phisto“ stand in fein geschwungenen Buchstaben darauf und darunter: „Agent der Nacht“. Sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Agent der Nacht, was sollte das sein? War das ein Scherz?

„Verzeih, dass ich heute Morgen im Bäckerladen keine Zeit hatte für eine längere Unterhaltung, es war unhöflich, dich da einfach so stehen zu lassen.“

„Können die anderen Sie auch sehen oder nur ich?“, fragte Marie.

Mr. Phisto lächelte. Er stand auf, ging auf den Hauptweg, wo sich eine Krankenschwester gerade mit jemandem unterhielt, zog den Hut, redete und nickte ein paarmal. Die Krankenschwester lachte und dann sahen alle zu Marie herüber und lachten noch einmal. Marie kam sich ziemlich blöd vor. Wie hatte sie nur glauben können, dieser Mann sei ein Geist? Er verabschiedete sich und kam wieder zu der Bank zurück.

„Habe ich deine Frage damit beantwortet?“, fragte er, als er wieder neben ihr saß.

„Was wollen Sie?“, fragte Marie mürrisch.

Sie fand ihn merkwürdig. Seine blasse Haut, die grünen Augen und diese dünnen weißen Haare, die offensichtlich gefärbt waren. Dazu die große Nase und die schmalen Lippen. Und wie er sich gerade hielt und wie er flüsterte und dann der komische Akzent. Etwas mit ihm stimmte nicht, sie wusste nur nicht genau, was es war.

„Ich will dir die Möglichkeit geben, mit deinem Vater zu sprechen“, sagte Mr. Phisto.

„Mein Vater spricht nicht“, antwortete Marie.

„Im Moment nicht, aber heute Abend schon“, sagte Mr. Phisto. „Komm, wenn es dunkel wird, allein wieder hierher, dann werde ich dafür sorgen, dass du dich mit deinem Vater unterhalten kannst.“

„Wie wollen Sie das machen? Sie sind doch kein Arzt“, sagte Marie schnippisch.

„Hat einer der Ärzte hier deinem Vater bis jetzt geholfen?“, fragte Mr. Phisto.

Marie schüttelte den Kopf.

„Das liegt daran, dass dein Vater nicht krank ist.“

„Nicht?“ Marie schaute Mr. Phisto an. „Woher wissen Sie das?“

„Das darf ich nicht sagen.“

„Wieso denn nicht?“

Er tippte auf die Visitenkarte. „Ich bin ein Agent der Nacht, das bedeutet, dass es bestimmte Dinge gibt, über die ich nicht sprechen darf.“

Marie betrachtete die Visitenkarte und drehte sie in der Hand. Das war doch Blödsinn oder nicht? Agent der Nacht, was sollte das sein? CIA-Agenten, FBI-Agenten, die gab es jeden Tag im Fernsehen, aber Agent der Nacht? Welche Nacht war damit gemeint? Die Nacht, die auf jeden Tag folgte, oder eine andere? Oder war Nacht eine Abkürzung für irgendeine geheime Organisation?

„Warum soll ich heute Abend allein hierher kommen?“, fragte sie.

„Weil nur du deinem Vater helfen kannst.“

„Ich?“

„Die Ärzte können es nicht, das hast du ja schon bemerkt. Und jemand anderes wird sich nicht die Mühe machen, sich um deinen Vater zu kümmern. Du bist die Einzige, die ihm helfen kann. Und mich hat man hierher geschickt, damit ich dir sage, wie du das am besten machst. Also, bis heute Abend.“

Ohne ein weiteres Wort stand Mr. Phisto auf und ging. Marie ließ ihn nicht aus den Augen. Sie wollte wissen, ob er wieder auf geheimnisvolle Weise verschwand, aber diesmal ging er ganz gemächlich durch den Garten ins Haus.

Marie betrachtete noch einmal die Visitenkarte. Mr. Phisto, Agent der Nacht. Vielleicht war das alles ein Bluff und er wollte sie entführen? Ihre Eltern hatten Geld, das wusste sie. Wie viel es genau war, konnte sie nicht sagen, aber es war mehr, als die meisten Eltern ihrer Freundinnen hatten. Aber wenn er sie entführen wollte, war es dann nicht sehr plump, sie abends allein hierher zu bestellen? Und was, wenn es stimmte? Wenn wirklich nur sie ihrem Vater helfen konnte?

Sie sprang auf, sie musste es ihrer Mutter sagen, sie musste ihr sagen … sie musste ihr sagen … ja, was eigentlich? Dass sie heute Abend allein ins Krankenhaus kommen sollte, um mit ihrem Vater zu sprechen? Das würde Regine niemals erlauben.

Als Marie sich ihrer Mutter näherte, hörte sie, wie Regine auf ihren Vater einredete: leise und schnell, so als befürchte sie, belauscht zu werden. Und dabei hielt sie Hannes’ Hand umklammert wie eine Ertrinkende. Es ging nicht. Sie konnte ihrer Mutter nicht sagen, was sie gerade erlebt hatte. Damit riskierte sie, alles zu verderben. Was, wenn an der Sache etwas dran war? Was, wenn sie heute Abend tatsächlich mit ihrem Vater sprechen konnte? Dann durfte sie Regine nichts von Mr. Phisto verraten, sonst müsste sie zu Hause bleiben.

Sie machte kehrt und lief durch den Park, als müsse sie dringend irgendwohin. Langsam füllten sich die Bänke und Wege. Männer und Frauen, im Rollstuhl sitzend oder von ihren Angehörigen am Arm geführt, kamen ihr entgegen. Marie wich ihnen aus, bog ab, lief über die Wiese an der Mauer zur Straße entlang. Sie wollte allein sein, sich verkriechen, verstecken, vor allem wollte sie keine kranken Menschen sehen.

Der Nachmittag zog sich endlos hin. Marie spielte Tennismatches im Kopf, um sich abzulenken und nicht an diesen seltsamen Mr. Phisto denken zu müssen. Letztes Jahr hatte sie den fünften Platz bei den deutschen Meisterschaften der U14 Juniorinnen belegt. Dieses Jahr begannen die Meisterschaften erst Anfang Juli. Sie hatte also noch ein paar Wochen, um sich vorzubereiten.

Drei- bis viermal die Woche ging sie trainieren, danach Hausaufgaben, ein bisschen Fernsehen und ins Bett. An den Wochenenden die Mannschaftsturniere. Obwohl sie erst dreizehn war, spielte sie bereits in der Damenmannschaft. Dort nannten sie alle das Küken. Das gefiel ihr nicht, aber sie ertrug es, ohne zu murren.

Endlich winkte Regine sie heran. Sie brachten ihren Vater in sein Zimmer zurück und verabschiedeten sich von ihm. Marie fand diese Verabschiedungen quälend. Sie verstand nicht, wie ihre Mutter dabei so freundlich, so zuversichtlich bleiben konnte. Nichts hatte sich am Zustand ihres Vaters geändert, seit er hier war. Und wenn es immer so blieb? Vielleicht war Mr. Phisto doch die einzige Möglichkeit, ihm zu helfen? Was konnte schon passieren, wenn sie heute Abend hierher kam und tat, was er von ihr verlangte? Sie küsste ihren Vater und ging.

Marie Marne und das Tor zur Nacht

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