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10. Kapitel

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Als Marie zur Straßenbahnhaltestelle ging, hatte sich die Stadt verändert. Sie dröhnte, raste, wimmelte. Lieferwagen standen blinkend vor den Geschäften, Verladerampen wurden herunter und herauf gefahren, die Straßenbahn war so voll, dass Marie keinen Sitzplatz bekam, und die Ampeln hatten damit zu tun, die ungeduldigen Autoschlangen aufzuhalten. Natürlich war das jeden Morgen so, aber heute sah es Marie und ihr wurde ganz schwindelig davon.

Bis zur Schule brauchte sie fünfzehn Minuten oder fünf Stationen, dann musste sie fünfzig Meter zurückgehen, ehe sie durch das Tor in den Schulhof kam. „Johann-Sebastian-Bach-Gymnasium“ stand über den beiden hohen Flügeltüren, die in die Eingangshalle und von dort über zwei geschwungene Treppen zu den Korridoren führten, von denen die Klassenzimmer abgingen. Zwischen den Treppen war ein Bild von Johann Sebastian Bach an die Wand gemalt worden, ein dicker, streng blickender Mann in einer blauen Jacke mit goldenen Knöpfen. Er hielt ein Notenblatt in der Hand und auf dem Kopf trug er eine komische Perücke. Diese Perücke war es wohl, die ihn für einige Schüler unwiderstehlich machte, weshalb er manchmal rote Haare trug, einen Vollbart oder eine Mütze, die ihm jemand angemalt hatte. Aber das dauerte nie lange, denn Herr Rinke, der Hausmeister, achtete auf das Bild wie auf die Nationalflagge. Er wischte es jedes Mal sofort wieder sauber, freilich nicht ohne zu fluchen und wütend vor sich hin zu zischeln. Er sprach oft davon, das Bild mit einer Videokamera überwachen zu lassen, aber alle Schüler wussten, dass das nie geschehen würde.

In den Pausen verkaufte Herr Rinke Milch in Tetrapacks aus seinem Aufenthaltsraum heraus, in dem er auch sein Werkzeug und seinen Spind hatte. Es war allgemein bekannt, dass Herr Rinke niemals lachte. Er gab allen das Gefühl, die Schule gehöre ihm persönlich. Jeden Schüler, egal welchen Alters und Geschlechts, hielt er für einen potenziellen Straftäter. Das Schlimmste aber war, dass Herrn Rinkes Nasenflügel eigentümlich nach oben gebogen waren und man deshalb die schwarzen Haarbüschel sah, die ihm in der Nase wuchsen. Das fanden die meisten Schüler schrecklich.

Marie jedoch kümmerte sich nicht um solche Details. Sie versuchte, Herrn Rinke möglichst nicht zu begegnen, und wenn sie an ihm vorbei musste, dann grüßte sie ihn. Anders als Jelena aber bemerkte sie nicht, dass er nie zurückgrüßte. Es war ihr egal, Jelena jedoch regte sich jedes Mal darüber auf.

Als Marie an diesem Montagmorgen in den Klassenraum kam, sagte Hanna kein Wort. „Was ist los?“, fragte Marie. Keine Antwort. „Na los, nun sag schon!“

„Nichts ist los“, antwortete Hanna und tat so, als suche sie etwas. „Ich rede nicht mehr mit der und mit allen, mit denen sie verkehrt.“ Hanna warf Jelena einen wütenden Blick zu.

„Was soll das heißen?“, fragte Marie.

„Lass mich einfach in Ruhe“, antwortete Hanna. Marie ging zu Jelena, konnte jedoch nicht herausfinden, worüber sich die beiden gestritten hatten. Der Streit zog sich den ganzen Tag hin, so sehr Marie sich auch bemühte, ihn zu schlichten. Nichts nervte sie mehr als Krieg zwischen ihren beiden besten Freundinnen.

Es war ein anstrengender, ein langweiliger, ein heißer Montag. Marie fühlte sich wieder einmal fremd in der Schule, fremd selbst zwischen ihren besten Freundinnen.

Deshalb war sie froh, als die Schule endlich vorbei war und sie über den Schulhof ein paar Straßen weiter in den Stadtpark zu ihrer Tennisanlage laufen konnte. Ihr Spind, die Duschen, die Tennisschuhe, Schweißband, Schläger, Bälle: Hier war ihre Welt, hier gehörte sie hin, hier fühlte sie sich sicher. Hier verstand sie, was vor sich ging. Dieses Spiel, für das man Technik, Ausdauer, Einfühlungsvermögen, Strategie und Kampfgeist benötigte, liebte Marie. Niemand hatte sie dazu überreden müssen, ihre Mutter nicht und nicht ihr Vater. Sie spielten beide nicht, sie verstanden nichts davon. Eines Tages hatte Marie ein paar Probestunden genommen, seitdem war es um sie geschehen. Allein auf dem Platz zu stehen und in Sekunden zu reagieren, Entscheidungen zu treffen, ihre Gegnerin einzuschätzen, vorauszusehen, was sie als Nächstes tun würde, und selbst etwas zu planen, was nicht vorhersehbar war, das gefiel ihr. Die Regeln standen fest, es gab einen Schiedsrichter und bei größeren Turnieren Linienrichter, die im Zweifelsfall entschieden. Alles war festgelegt und doch gab es innerhalb dieser Regeln unendlich viele Möglichkeiten zu gewinnen oder zu verlieren.

Es war heiß, die Sonne stand hoch, Marie trainierte ein wenig an der Ballwand. Ihr Körper jubelte, als sie den ersten Ball traf. Jeder Muskel, jede Sehne, jede Faser ihres Körpers jubelte, denn, weil es gestern kein Punktspiel gegeben hatte, hatte Marie am Wochenende nicht gespielt. Und dann kam er: Herr Ritter, ehemaliger Profispieler, Platz 81 der Weltrangliste, aber nie ein großes Turnier gewonnen. Eigentlich trainierte er nur die ältere Jugend, aber bei Marie machte er eine Ausnahme. Er redete nicht viel, versuchte nie, nett zu sein oder sich einzufühlen, so wie ihre frühere Trainerin Dunja. Er hatte oft schlechte Laune, dann jagte er Marie über den Platz und schimpfte mit ihr, wenn sie die Rückhand nicht mit genügend Topspin spielte oder am Netz nicht traf. Komischerweise mochte Marie ihn trotzdem. Oder gerade deshalb. Heute winkte er ihr nur kurz zu und zeigte auf einen der Plätze. Sie schlugen ein paar lange Bälle. Marie merkte sofort, dass er schlechte Laune hatte. Er donnerte einen ihrer Bälle so hart zurück, dass ihr fast der Schläger aus der Hand fiel. Dann winkte er sie ans Netz.

„Du hattest gestern kein Match?“, fragte er.

Marie schüttelte den Kopf. „Dann werden wir das heute nachholen. Für jedes Spiel, das du gewinnst, gibt es fünfzehn Minuten gratis Training. Für vier gewonnene Spiele also eine Gratistrainingsstunde. Okay?“

„Okay“, sagt Marie. Sie merkte, dass ihr die Begegnung mit Mr. Phisto, der Besuch im Krankenhaus und der heutige Schultag im Körper saßen und im Kopf, sie musste spielen, um all das loszuwerden.

Herr Ritter schlug auf und begann das Match mit einem Ass. Egal, Marie merkte, wie ihr Kampfgeist erwachte. Natürlich hatte sie gegen diesen Gegner keine Chance, aber gerade das machte sie frei. Schon ihr erstes Aufschlagspiel brachte sie durch. Sie ließ sich nicht einschüchtern. Ihr gelangen ein paar gute Passierschläge, als Herr Ritter ans Netz lief, und sogar ein paar Lobs. Dann, nach einem harten ersten Aufschlag, lief sie selbst ans Netz und schloss mit einem Volley ab. Sie merkte, dass Herr Ritter anfing, vorsichtiger zu spielen. Er gewann den ersten Satz mit sechs zu drei. Marie hatte ihm eine Dreiviertelstunde Gratistraining abgezwungen.

Sie trank Wasser, wischte ihr Griffband ab, lächelte und machte sich an den zweiten Satz. Herr Ritter spielte jetzt ein aggressives Grundlinienspiel. Er jagte sie hin und her, vor und zurück und machte sie so müde. Seine Beine waren doppelt so dick wie ihre, seine Arme auch. Er hatte einfach mehr Ausdauer. Und doch gab Marie nicht auf. Sie lief nach jedem Ball, sie verausgabte sich völlig. Sie brachte Herrn Ritter an den Rand der Verzweiflung, als sie zweimal hintereinander einen superkurzen Stoppball erlief.

Da draußen war die Stadt, da war ihr Vater, gefangen in einem Traum, da war ihre aus der Bahn geworfene Mutter, da war Mr. Phisto, von dem man nicht wissen konnte, was er wirklich wollte, ob er Freund oder Feind war. Aber hier, hier auf diesem umzäunten Feld, hier funktionierte Marie, hier gehorchte ihr Körper ihren Befehlen, hier sah sie voraus, wohin der Ball fliegen würde, hier konnte sie Richtung und Geschwindigkeit bestimmen. Herr Ritter fing zu fluchen an und schlug einmal sogar mit dem Schläger auf das Netz.

Er gewann den zweiten Satz knapp mit sechs zu vier. Fast zwei Stunden musste er Marie jetzt umsonst trainieren. Sie gratulierte ihm mit zitternden Händen und ging in die Umkleidekabine. Ihre Füße brannten, als sie die Schuhe auszog. Unter der Dusche liefen ihr ein paar Tränen übers Gesicht. Sie beachtete sie nicht. Das kam manchmal vor, wenn sie sich so verausgabt hatte. Dann vergoss sie ein paar Tränen, und erst danach fühlte sie sich leer, aber zufrieden.

In der Straßenbahn spürte sie die Erschöpfung, die sich langsam in ihrem Körper ausbreitete. Die Stirn an die Fensterscheibe gelehnt, sah sie die neben der Straßenbahn herfahrenden Autos, wie Fischschwärme, die einem Schiff folgten.

Zu Hause sah sie Onkel Pauls Auto in der Auffahrt. Sie lief in den Garten, da saß er und unterhielt sich mit ihrer Mutter. Er redete schneller und lauter als sonst. Seit Hannes in der Klinik war, kam er oft vorbei. Aber er wusste nicht, wie er Regine helfen konnte. Er hatte keine Frau und keine Kinder. Es ist alles meine Schuld, hatte er einmal gesagt, aber Regine hatte nur den Kopf geschüttelt. Nachdem Marie ihn umarmt und geküsst hatte, fragte sie: „Wie geht es dir?“

„Ich habe heute Nacht nach elf Tagen wieder geschlafen“, antwortete Onkel Paul. „Ich hatte mir vor Hannes’ Geburtstag das erste Mal auch einen ADI-Traum gekauft.“

„Ach ja?“ Marie nahm einen Keks und dachte an Mr. Phisto und den Traum ihres Vaters. „Wie war es, so lange wach zu sein?“, fragte sie mit vollem Mund.

Onkel Paul trank einen Schluck Kaffee. Er sah sie an und wiegte den Kopf hin und her. „Anfangs war es toll. Ich habe mich jung gefühlt, jung und unbesiegbar. Ich konnte telefonieren, arbeiten, reden, organisieren, alles, was ich gerne mache. Ich bin die ganze Zeit im Hotel gewesen.“ Er lachte und trank wieder Kaffee.

„Und dann?“, fragte Marie.

„Nach etwa 40 Stunden ist mir das erste Mal schwindelig geworden. Natürlich wusste ich, dass man Pausen machen muss, dass man sich massieren lassen oder meditieren kann und so weiter. Ich habe vorher alles darüber gelesen, es steht ja auch überall, aber ich hatte es trotzdem vergessen. Man achtet einfach nicht mehr auf die Zeit. Ich bin also los. Es war mitten in der Nacht. In einer ADI-Lounge habe ich mich massieren lassen und ein heißes Bad genommen und all das. Danach ging es mir wieder gut.“

„Und stimmt es“, fragte Marie, „dass man dort nachts die seltsamsten Leute trifft? Papa hat das immer erzählt.“

„Naja, sie waren nicht seltsamer als ich, würde ich sagen.“ Onkel Paul lachte noch einmal. „Einer hat mir erzählt, dass er seit 90 Tagen nicht geschlafen hat, weil er auf diese Weise seine Lebenszeit verlängern will. Keine Ahnung, ob das stimmt. Auf jeden Fall lässt man ziemlich viel Geld in diesen ADI-Lounges. Ich glaube, wenn man regelmäßig längere Zeit wach ist, kann Wachsein eine sehr kostspielige Angelegenheit sein.“

„Und weiter?“, fragte Marie.

„Was weiter?“

„Du hast gesagt, anfangs war es toll. Das heißt, später dann nicht mehr. Warum nicht?“

Onkel Paul schwieg einen Moment und sah Regine an. Er nahm noch einen Keks und kaute gedankenversunken darauf herum. „Wenn man nicht schläft, hat man sehr viel Zeit, sich Sorgen zu machen“, sagte er. „Die Sache mit Hannes hat mich nicht losgelassen. Ich habe gegrübelt und gegrübelt. Ich konnte nichts dagegen tun. Am Schluss habe ich das Ende meiner Wachzeit wirklich herbeigesehnt.“

„Also war es nicht so toll?“, fragte Marie.

„Nicht so richtig“, sagte Onkel Paul.

Sie schwiegen einen Moment. Marie fragte sich, wie es wäre, 113 Tage wach zu sein. Das war mehr als ein Vierteljahr. Nach dem, was Onkel Paul erzählt hatte, würde es für sie wahrscheinlich die Hölle sein. Sie rührte selbstvergessen in ihrem Tee. Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Als sie neben ihrem Vater geschlafen hatte, welchen Traum hatte sie da geträumt? War sie in seinem Traum gewesen oder er in ihrem? Und warum hatte Mr. Phisto darauf bestanden, dass sie in die Klinik kam? Warum hatte sie nicht zu Hause von ihrem Vater träumen können? Hatte das alles mit der Schlafenergie und ihrem hohen ADI-Wert zu tun? Sie musterte Onkel Paul. Von Berufs wegen wusste er vieles, und wenn er etwas nicht wusste, dann kannte er jemanden, der es wusste. Genau diese Tatsache wollte sie sich zunutze machen.

Als Regine in die Küche ging, um Milch zu holen, fragte Marie ihren Onkel: „Kennst du jemanden, der etwas über Träume weiß?“

„Nein, warum?“

„Schule“, log Marie, „das ist eine Aufgabe für die Schule.“

„Bis wann brauchst du es denn?“

„So schnell wie möglich.“

„Morgen habe ich Frühdienst. Ruf mich bis mittags um zwölf an, dann sage ich dir, wer der größte Traumspezialist der Stadt ist.“

So war Onkel Paul: Er stellte nicht tausend Fragen, suchte nicht tausend Ausflüchte, er lächelte kurz und dann tat er, was getan werden musste. Deshalb liebte Marie ihn so sehr.

Als er gegangen war, trugen Marie und Regine das Geschirr aus dem Garten in die Küche, ohne ein Wort miteinander zu sprechen. Als sie aber das Geschirr abgestellt hatte, nahm Regine Marie in den Arm und sagte, sie wären alle im Moment ein bisschen durcheinander, dann küsste sie Marie auf die Stirn. Marie umarmte ihre Mutter und hielt sie fest. Dann ging sie in ihr Zimmer, ließ sich aufs Bett fallen und schlief sofort ein.

Marie Marne und das Tor zur Nacht

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