Читать книгу Marie Marne und das Tor zur Nacht - Christoph Werner - Страница 6
3. Kapitel
ОглавлениеDr. Puck schaute hinab auf die winzigen Menschen, die zwischen den grellen Leuchtreklamen des Times Square wimmelten. Auf riesigen Monitoren zuckten im Sekundentakt Bilder. Sie glitten die Häuserwände hinauf, erloschen plötzlich, um kurz darauf wieder aufzuflammen. Die Autos zogen wie ein träger Lichtstrom zwischen den Theatern und Kinopalästen dahin. Weiter hinten hing der alte Mond wie eine antiquierte Glühlampe zwischen den schwarzen Glasfassaden der Bürotürme. Hier war nie Nacht. Deshalb hatte All Day Industries die Firmenzentrale nach New York verlegt.
Das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab. „Schicken Sie ihn rein“, sagte er, ohne darauf zu warten, wen seine Sekretärin ankündigte. Es war kurz vor Mitternacht. Normalerweise war Dr. Puck um diese Zeit nicht mehr im Büro. Aber wenn es stimmte, wenn es wirklich stimmte …
Die Tür wurde geöffnet. Dr. Puck sah ihn hereinkommen. Weiße Haare unter dem schwarzen Hut, das wächserne Gesicht, die schlanke, große Gestalt. Es war Mr. Phisto. Was für ein alberner Name! Wie konnte man sich nur so nennen? Er machte zwei Schritte ins Zimmer, dann blieb er stehen. Er bewegte sich nicht, er sagte nichts, er stand einfach da und wartete, sein Spiegelbild in der großen Fensterfront, die der Tür gegenüber lag.
„Ich danke Ihnen, dass Sie um diese Uhrzeit noch gekommen sind“, sagte Dr. Puck und deutete auf einen Sessel, der vor seinem Schreibtisch stand.
Keine Reaktion. Mr. Phisto blieb stehen, mitten im Büro. Seine Augen waren unter der Krempe seines Hutes nicht zu sehen. Wie sehr Dr. Puck diese Respektlosigkeiten hasste, dieses ganze Getue mit dem schwarzen Hut und der geheimnisvollen Verschwiegenheit.
„Ich habe heute einen Anruf aus Deutschland bekommen“, sagte Dr. Puck und blieb in seinem Drehstuhl hinter seinem Schreibtisch sitzen. „In einer unserer Filialen dort hat ein Mitarbeiter einen außergewöhnlich hohen ADI-Wert gemessen.“
Keine Reaktion.
„113 Tage.“
Jetzt hob Mr. Phisto den Kopf. Für einen Moment sah man seine leuchtend grünen Augen aufblitzen.
„113 Tage?“, fragte er leise.
„Ja“, antwortete Dr. Puck.
„Das ist unmöglich.“
Dr. Puck nickte. „Wahrscheinlich ist es nicht möglich. Aber unser Mitarbeiter hat den Wert zweimal gemessen und das Gerät zwischendurch an sich selbst überprüft. Keine Fehlermeldung, kein Defekt.“
„Wer ist es?“ Mr. Phisto rührte sich noch immer nicht und hatte den Kopf wieder gesenkt.
„Ein Mädchen“, sagte Dr. Puck so beiläufig wie möglich. „Marie Marne, dreizehn Jahre alt.“
„Ein Mädchen?“ Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, verriet Mr. Phistos Stimme Fassungslosigkeit.
„Wenn sie wirklich einen so hohen Wert hat, muss sie über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen“, sagte Dr. Puck und machte eine Pause.
„Sie meinen, sie könnte es schaffen?“, fragte Mr. Phisto leise.
„Möglicherweise“, antwortete Dr. Puck.
„Sie ist ein Kind, sie weiß nichts.“
Mit einem Ruck stand Dr. Puck auf. „Genau darin könnte unsere Chance bestehen. Fliegen Sie hin, finden Sie heraus, welche Fähigkeiten die Kleine hat, und sorgen Sie dann dafür, dass sie uns hilft. Sie muss ja nicht wissen, worum es geht.“
„Gut“, sagte Mr. Phisto und drehte sich zur Tür.
„Und melden Sie sich regelmäßig“, rief Dr. Puck, „ich will über alles auf dem Laufenden gehalten werden!“
Mr. Phisto ging so leise, wie er gekommen war.