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4. Kapitel

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Wo blieben Jelena und Hanna? Gleich war es sechs Uhr. Nervös lief Marie in der Hotellobby hin und her. Sie achtete darauf, auf dem dicken orientalischen Teppich zu bleiben, der zwischen der Rezeption und den schweren Sesseln auf der anderen Seite der Lobby lag, denn auf dem grau-weißen Marmorfußboden machten ihre neuen Schuhe einen Höllenlärm. Draußen hinter den großen, bodentiefen Fenstern warteten ein paar Fotografen und sogar ein Fernsehteam. Papa hatte zu seinem fünfzigsten Geburtstag Schauspieler eingeladen, Produzenten, Leute von Film und Fernsehen, lauter Erwachsene, die sich in Anzügen, Abendkleidern und Absatzschuhen nicht komisch vorkamen. Ganz im Gegensatz zu Marie. Sicher war das Kleid hübsch, das ihre Mutter ausgesucht hatte. Braun und aus einem feinen, leicht glänzenden Stoff, aber würde sie sich jemals an die Schuhe, die Ohrringe und die Handtasche gewöhnen? Im Moment war das schwer vorstellbar.

Zum Glück hatte Papa ihr erlaubt, ihre beiden besten Freundinnen einzuladen, aber die verspäteten sich mal wieder. Dabei hatte Marie ihnen gesagt, sie müssten pünktlich sein. Sie betrachtete sich in einem der Spiegel, die an den beiden vergoldeten Säulen gleich am Eingang hingen. Ihr Mund, geschwungen wie der ihrer Mutter, glänzte leicht vom Lipgloss. Die großen braunen Augen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, waren schwarz umrandet. Sie drehte den Kopf hin und her und begutachtete sich von vorn, von links und von rechts. Sie zog die Augenbrauen hoch und streckte sich die Zunge heraus. Dann wickelte sie eine ihrer blonden Locken um ihren Zeigefinger. Blonde Haare, braune Augen, das kam seltener vor als blonde Haare und blaue Augen. Deshalb mochte sie ihre Haare so sehr. Seit vier Jahren ließ sie sie wachsen. Nur die Spitzen durften abgeschnitten werden, wenn Marie zum Friseur ging.

„Du siehst toll aus, Marie!“, rief Frau Gallert hinter der Rezeption.

Marie zuckte zusammen. Wieso musste Hannes ausgerechnet in dem Hotel feiern, in dem sein Bruder arbeitete? Onkel Paul war hier der Chef, deshalb kannte Marie einige der Mitarbeiter, was sie heute als äußerst lästig empfand.

Ein Taxi hielt vor dem Eingang und die Fotografen hoben die Kameras. Die Beifahrertür öffnete sich und Jelena stieg aus. Das konnte doch nicht wahr sein! Jelena kam mit dem Taxi? Und wie sie aussah: Ihr Kleid saß tadellos, dazu passende Schuhe mit riesigen Absätzen, auf denen Marie nie hätte laufen können. Ihre Frisur war so außergewöhnlich, dass sie sie unmöglich selbst gemacht haben konnte, das Gleiche traf auf ihr Make-up zu. War das wirklich die Jelena, mit der Marie zusammen zur Grundschule gegangen war und mit der sie jetzt aufs Gymnasium ging? Die Jelena, mit der sie gemeinsam in den Urlaub gefahren war, mit der sie angefangen hatte, Tennis zu spielen, mit der sie, wann immer es ihr Training erlaubte, im Garten saß, Zeitungen durchblätterte, gemeinsam Hausaufgaben machte, in die Boutique ihrer Mutter fuhr, um Accessoires auszuprobieren? Marie betrachtete noch einmal ihr Spiegelbild. Sie fand, sie sah verkleidet aus, irgendwie unecht. Und so fühlte sie sich auch. Jelena dagegen schien es zu genießen, so als wäre dies ihr wahres Ich. Konnte das sein?

„Du siehst schick aus, Marie!“, flüsterte Jelena und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Was sollte das? Seit wann küssten sie sich zur Begrüßung?

„Du siehst auch schick aus“, antwortete Marie.

„Ja, nicht wahr? Ich finde das Kleid himmlisch. Papa hat es mir extra für heute gekauft.“ Jelena betrachtete sich im Spiegel und schien sehr zufrieden mit sich zu sein. „Wo müssen wir hin?“, fragte sie, ohne den Blick von ihrem Spiegelbild zu lassen.

„Auf die Dachterrasse“, sagte Marie. „Aber wir müssen noch auf Hanna warten.“

„Ich kann doch schon mal hochfahren und deinem Vater mein Geschenk geben.“ Jelena lächelte entzückend.

Marie nickte.

„Bis gleich!“, flüsterte Jelena ihr zu und stöckelte zum Fahrstuhl. Draußen waren ein paar Rufe zu hören und die Kameras surrten. Ein junger Mann in Jeans und Jackett stieg aus dem Taxi. Als er durch die Lobby kam, erkannte ihn Marie. Er war Schauspieler. Hannes hatte für einen seiner Filme die Musik geschrieben. Marie merkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Oh je, hoffentlich fiel ihr während der Feier kein Glas um, stolperte sie nicht über ihre Beine, sagte sie nichts Dummes.

Endlich kam Hanna. Sie trug Jeans, ein buntes T-Shirt, darüber ein Jackett und zu all dem Turnschuhe. Sie sah aus wie immer, das Jackett mal ausgenommen. Irgendwie fand Marie das beruhigend, andererseits auch unpassend. Zumal Hanna klein und nicht gerade schlank war. Natürlich kaute sie Kaugummi und zur Begrüßung hob sie nur kurz die Hand und sagte: „Hey!“

Sie gingen zum Fahrstuhl und fuhren nach oben. „Warum hast du dich so verkleidet?“, fragte Hanna.

„Mein Vater wird heute fünfzig“, antwortete Marie.

„Na und?“

„Vielleicht hättest du auch noch mal darüber nachdenken sollen, ob Jeans und Turnschuhe das richtige Outfit sind.“ Noch während sie diesen Satz sagte, merkte Marie, dass er verletzend war. Zu spät. Sie hatte ihn gesagt. Hanna betrachtete sich im Spiegel.

„Jeans und Turnschuhe finde ich okay. Das Jackett ist doof.“ Sie zwinkerte Marie zu und beide mussten lachen. Zum Glück konnte man Hanna nicht so leicht aus der Fassung bringen. Hätte Marie den Satz zu Jelena gesagt, wäre die sicher sofort nach Hause gefahren.

Musik war zu hören, als sich die Fahrstuhltür öffnete. Eine Band spielte unter einem weißen Baldachin. Es gab ein großes Buffet und überall Sitzgelegenheiten: Liegestühle und Sofas und Sessel und Hollywoodschaukeln. Von der Terrasse aus hatte man einen fantastischen Blick auf die Stadt und den Fluss, der schwarz und träge das Häusermeer durchzog. Die grauen und roten Dächer lagen staubig und matt in der Abendsonne, es hatte seit Tagen nicht geregnet. Ein paar Tauben flogen, von irgendetwas aufgeschreckt, über eine der zahlreichen Brücken hin und verschwanden.

Marie drehte sich um: Fünfzig Gäste hatte Hannes eingeladen, fünfzig Gäste zu seinem fünfzigsten Geburtstag. Lauter selbstsichere, gut gekleidete Leute, die lachten, Sektgläser in der Hand hielten und rauchten. Da war Onkel Paul. Er überragte die meisten Gäste um einen halben Kopf, und als er lachte, konnte Marie seine tiefe Stimme trotz der Musik hören. Oma Luise kam ihr entgegen und umarmte sie.

„Da bist du ja endlich“, sagte sie. „Komm, dein Vater will die Gäste begrüßen.“

„Bin gleich zurück“, flüsterte Marie Hanna zu und ging zu ihrem Vater.

Hannes sah toll aus in dem Anzug, den er sich extra für diesen Anlass hatte machen lassen. Er legte einen Arm um Marie und einen um Regine, und Onkel Paul gab der Band ein Zeichen. Sie spielte einen Tusch und dann war es still. Alle sahen Hannes an, das heißt, sie sahen auch Marie an und sie merkte, dass Hannes aufgeregt war, deshalb war sie gleich noch aufgeregter. Sie hörte nicht viel von dem, was ihr Vater sagte. Nur dass die Gäste lachten und klatschten, bemerkte sie, und dass sich Hannes langsam entspannte und Onkel Paul auch etwas sagte und Oma Luise ganz glücklich aussah und schließlich alle zum Buffet gingen und die Band wieder zu spielen begann und die Sonne schien und Jelena sich mit einem Jungen unterhielt, der bestimmt fünf Jahre älter war als sie, und Hanna als Erste einen vollen Teller in der Hand hielt und die Stimmen immer lauter wurden und sie keinen Hunger hatte, nur Durst.

Nach dem Essen wurde getanzt. Marie stand neben Hanna und schaute auf die Stadt. Am Ufer des Flusses sah man die Lichter der Restaurants und Bars. Der Autostrom über die Brücken war noch stark, obwohl sich die Silhouette der Stadt schon scherenschnittartig gegen den Abendhimmel abzeichnete.

„Langweilt ihr euch?“ Marie drehte sich um. Ihr Vater stand hinter ihr.

„Nein, nein gar nicht“, antwortete sie.

Auch Hanna schüttelte den Kopf.

„Wenn ihr nach Hause wollt, sagt es, dann bestelle ich euch ein Taxi.“

Marie nickte. „Es gefällt uns“, sagte sie und schaute wieder auf die Stadt.

„Du solltest mal mit dem Geburtstagskind tanzen.“ Hannes küsste sie auf die Wange. Marie schaute sich um. Jelena drehte sich gerade und lachte ihren Partner an. Marie war ein bisschen eifersüchtig. Die ganze Zeit mit Hanna hier herumzustehen, war doch irgendwie traurig.

„Wo ist Mama?“, fragte sie.

„Tanzt mit deinem Onkel.“

Marie reckte den Kopf und wirklich, da tanzte Regine mit Onkel Paul. Sie sah wunderschön aus. Alles an ihr, ihre Handgelenke, ihr Hals, ihr Gesicht, war fein und zart, so als sei sie aus einem besonders kostbaren Stoff gemacht, den man nur den Meistern anvertraute und von dem kein Gramm verschwendet werden durfte. Marie hakte sich bei ihrem Vater unter und ließ sich auf die Tanzfläche führen.

Marie Marne und das Tor zur Nacht

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