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8. Kapitel

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Zu Hause angekommen, setzte sich Marie vor den Fernseher. Durch die offene Tür konnte sie Regine sehen, wie sie Brot schnitt und den Tisch deckte. Beim Essen dann erzählte Regine, dass Hannes an einer Stelle gelacht hatte. Solche Geschichten erzählte sie oft, wenn sie aus der Klinik kam. Er hatte genickt oder gelacht oder sie auf eine besondere Weise angesehen. Marie schwieg. Die Ärzte hatten ihnen vorhergesagt, dass so etwas passieren würde. Aber es bedeutete nichts, das waren Einbildungen und Wunschvorstellungen, Regine wusste das. Trotzdem erzählte sie immer wieder davon. Marie kaute mit gesenktem Kopf. Sie wollte ihre Mutter nicht ansehen, sie wollte diese Geschichten nicht hören.

Nach dem Essen sagte Regine, sie sei müde und wolle sich ein bisschen hinlegen. Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer. Marie blieb in der Küche und grübelte, sie konnte nichts dagegen tun. Schließlich beschloss sie, ihrer Mutter doch alles zu erzählen. Sie sprang auf und lief ins Wohnzimmer. Ihre Mutter lag auf dem Sofa und schlief. Marie hörte sie atmen.

„Mama?“

Keine Antwort. Nur das Ticken der großen Wohnzimmeruhr. Marie beugte sich über ihre Mutter. Was sollte sie tun? Sie hasste es, nicht zu wissen, was sie tun sollte. In die Klinik fahren? Oder warten, bis ihre Mutter wieder aufwachte? Ein Ladizein – in etwa: lade den Zufall ein –, sie musste ein Ladizein stellen, das tat sie immer, wenn sie nicht weiter wusste. Wenn sie morgens zum Beispiel nicht sicher war, ob sie das weiße oder das blaue T-Shirt anziehen sollte, stellte sie während des Frühstücks ein Ladizein: Wenn das Lied endet, ehe der Toast fertig ist, ziehe ich das weiße T-Shirt an, wenn nicht, das blaue. Sie ging zurück in die Küche und stellte sich vor das Radio: Lief Musik, in dem Moment, in dem sie es anschaltete, hieß das, sie würde in die Klinik fahren, war ein Sprecher oder eine Sprecherin zu hören, wollte sie zu Hause bleiben. Sie schaltete an: Musik.

Ohne zu zögern ging sie in den Flur, zog sich an und lief aus dem Haus. Sie fuhr mit der Straßenbahn in die Klinik. Das alles war verrückt, vollkommen und ganz und gar verrückt. Wahrscheinlich war die Klinik jetzt geschlossen, und wenn nicht, dann doch die Tür zum Zimmer ihres Vaters. Wahrscheinlich schlief er längst. Was dann? Was, wenn Mr. Phisto nicht da war? Was, wenn er sich wirklich einen Scherz erlaubt hatte? Oder sie doch entführen wollte?

Die Straßenbeleuchtung war schon angeschaltet, als Marie vor der Klinik ausstieg und langsam auf das gusseiserne Tor zulief. Mr. Phisto stand in der Auffahrt. Seine schlanke Gestalt war schon von Weitem zu erkennen. Marie kam es so vor, als wäre es um ihn herum dunkler als im übrigen Teil der Straße. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie blieb stehen. Mr. Phisto kam ihr entgegen.

„Guten Abend“, sagte Marie leise.

„Guten Abend“, sagte Mr. Phisto. „Tu bitte genau, was ich dir sage, und stell keine Fragen.“

Sie nickte.

„Folge mir“, sagte er und lief los, ohne sich umzudrehen.

Marie gehorchte. Es gab keine andere Möglichkeit, herauszufinden, was all das zu bedeuten hatte. Sie liefen um das große Hauptgebäude herum zu einer Treppe. An deren Fuß blieb Mr. Phisto stehen. „Mach die Tür auf“, sagte er leise.

Marie drückte die Klinke herunter. Tatsächlich, die Tür war unverschlossen. Sie führte zu einem langen Gang, an dessen Ende sich eine weitere Treppe befand.

„Bleib dicht hinter mir“, sagte Mr. Phisto, ehe sie die Treppe hinaufstiegen. Da war die Eingangshalle, durch die Marie heute Nachmittag gelaufen war. Jetzt wusste sie, wie sie zum Zimmer ihres Vaters käme. Und doch blieb sie immer hinter Mr. Phisto. Alles war so still und dadurch ganz verändert. Wenn er stehen blieb, blieb sie auch stehen, wenn er weiterlief, lief sie auch weiter. So kamen sie in das Zimmer ihres Vaters, ohne bemerkt zu werden. Es war schon dämmrig. Er lag auf dem Bett und schlief. Marie hörte seinen gleichmäßigen Atem. Neben ihm auf dem Nachtschrank tickte ein Wecker.

„Leg dich neben ihn und schlaf“, sagte Mr. Phisto.

„Was!“, rief Marie.

„Wenn du mit deinem Vater reden willst, leg dich neben ihn und schlaf.“

„Aber wenn ich schlafe, wie soll ich da reden?“, fragte Marie.

„Du wirst träumen.“

„Träumen!?“ Ach je, das war es also, das war die ganze Geschichte, träumen?! Sie war furchtbar enttäuscht. Agent der Nacht, jetzt verstand sie die Anspielung.

„Sie haben gesagt, ich könnte mit meinem Vater reden, nicht von ihm träumen“, flüsterte sie.

„Du wirst mit ihm reden, im Traum“, sagte Mr. Phisto mit stoischer Ruhe. Offenbar hatte er mit Maries Reaktion gerechnet.

„Im Traum …“ Marie schüttelte den Kopf. „Sie haben gesagt, ich könnte meinem Vater helfen.“

„Und das wirst du auch, wenn du neben ihm schläfst.“

„Das ist doch Quatsch!“ Als sie das gesagt hatte, sah Mr. Phisto sie mit seinen grünen Augen an und sie senkte den Blick. Etwas an diesen grünen Augen war ihr unheimlich.

„Deine Entscheidung“, sagte er. „Ich gehe jetzt, tu, was du für richtig hältst.“ Er zog kurz den Hut und ging.

Was nun? Sie lauschte auf die Geräusche: der Wecker, der gleichmäßige Atem ihres Vaters, auf dem Gang ein paar Schritte. Marie schaute Hannes an. Sie war, seit er sich in der Klinik befand, nicht mehr mit ihm allein gewesen. Vorsichtig zog sie die Schuhe aus und legte sich neben ihn. Mit angehaltenem Atem drehte sie sich seinem Rücken zu. Seine Haare rochen wie immer. Sie legte ihm den Arm um die Hüfte. Jetzt erst spürte sie, wie schnell ihr Herz schlug. Sie war den Tränen nahe. Was geschah nur gerade mit ihr? Durch das angelehnte Fenster hörte sie das ferne Rauschen der Stadt. Das beruhigte sie ein bisschen. Sie schloss die Augen und schlief sofort ein. Jedenfalls konnte sie sich später nicht mehr daran erinnern, was passiert war, nachdem sie sich neben ihren Vater gelegt hatte.

Sie erwacht in einer riesigen, halb dunklen Halle, deren Gewölbehimmel nur zu ahnen ist, so lang sind die Säulen, auf denen er ruht. Auch das andere Ende der Halle ist nur zu ahnen, so viele Säulen stehen wie ein steinerner Wald nebeneinander. Durch die riesigen Fenster fällt ein eigentümlich kaltes Licht. Irgendetwas fliegt umher, handgroße Libellen oder Fledermäuse, große Nachtvögel und schwarze Schmetterlinge. Als Marie auf ihre Füße sieht, bemerkt sie, dass der Boden aus Glas oder Eis ist. Bizarre Fische schwimmen darunter. Ihre runden Augen glotzen sie an.

Und dann hört sie sie, die Musik ihres Vaters. Da wo Längs- und Querschiff sich treffen, sitzt er auf einem großen Stuhl und spielt Geige. Eigentlich kann er nicht Geige spielen, nur Klavier und Gitarre. Um ihn herum stehen seltsame Gestalten. Es sind Ärzte, Wahrsager, Clowns, Krankenschwestern und Verrückte in weißen Kitteln, Eisprinzessinnen und Orchestermusiker, Heiratsschwindler und Bauchtänzerinnen. In dem eigentümlichen Licht schimmern ihre Haare und Kleider silbern. Marie bleibt vor ihrem Vater stehen, ohne dass er es merkt. Es ist eine wundervolle Musik, die er spielt, eine Vater-Tochter-Musik, nur dafür ist sie gemacht, für nichts sonst. Als Hannes Marie sieht, setzt er den Bogen ab: „Marie!“ Er springt auf. „Endlich! Ich muss hier raus! Du musst mir helfen. Was ist heute für ein Tag?“

Marie fängt an zu weinen. Sie kann nichts dagegen tun. „Das ist ein Traum“, schluchzt sie. „Ich weiß es genau, das ist nicht wirklich.“

„Natürlich ist es ein Traum“, antwortet Hannes, „aber wie kann ich aufwachen? Ich habe mich geohrfeigt, ich habe geschrien, ich habe versucht, hier herauszukommen, aber nichts hat geholfen. Ich bin in diesem Traum gefangen. Keine Ahnung wie lange schon. Ich habe Dienstag ein paar wichtige Aufnahmen, großes Orchester, ich kann hier nicht länger rumsitzen.“

Marie starrt ihren Vater an. Soll sie ihm sagen, dass der Dienstag längst vorbei ist? Sie bringt es nicht übers Herz.

„Ich weiß nicht, wie das passieren konnte“, sagt Hannes, „du musst etwas tun. Sag deiner Mutter, sie muss mich irgendwie wecken, egal wie. Ich muss arbeiten, ich habe zu tun.“

Marie zeigt auf die Umstehenden. „Und die hier? Wer sind die? Können die auch nicht aufwachen?“

„Keine Ahnung, sie reden nicht“, antwortet Hannes, „ich weiß nicht einmal, ob sie mich verstehen.“

Marie geht zu einem Koch und schaut ihn an. Er erwidert ihren Blick nicht. Kurz entschlossen holt sie aus und gibt ihm eine Ohrfeige. Er reagiert nicht.

„Das ist zwecklos“, sagt Hannes. „Bitte, Liebes, hilf mir, allein schaffe ich es nicht.“

„Ich werde dich hier rausholen“, antwortet Marie, „ich kenne jemanden, der mir hilft …“

Marie Marne und das Tor zur Nacht

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