Читать книгу Marie Marne und das Tor zur Nacht - Christoph Werner - Страница 5

2. Kapitel

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Drei Dinge hasste Marie Marne besonders: ein Match zu verlieren, sich nicht entscheiden zu können und Hannes, wenn er am Vater-Tochter-Tag keine Zeit für sie hatte. Seit zehn Minuten telefonierte er jetzt. Marie tippte mit dem Finger auf ihre Armbanduhr. Er zuckte mit den Schultern und sprach weiter. Verdammt, wie lange denn noch? Eigentlich hatten sie ins Kino gehen wollen. Das taten sie meistens am Vater-Tochter-Tag. Aber jetzt hatten alle Filme schon angefangen und statt vor dem Kino standen sie vor einer ADI-Filiale. Ein Auto hupte. An der Ampel drängten sich die Fußgänger. Obwohl sie noch auf Rot stand, rannten ein paar über die Straße, die hier den Boulevard zerschnitt.

„Papa!“, drängelte Marie. Endlich steckte er das Handy in die Jacketttasche.

„Tut mir leid, Liebes“, sagte er und lächelte. „Es war wichtig, sonst wäre ich nicht rangegangen.“

„Ich bin auch wichtig“, sagte Marie.

Hannes stöhnte. „Schatz …“

„Ich bin nicht dein Schatz.“

„Es dauert eine halbe Stunde“, sagte er, „vielleicht vierzig Minuten, dann tun wir, was immer du willst.“ Er streichelte ihr über die Schulter.

„Ich wollte ins Kino“, sagte Marie leise.

„Es gibt zur Zeit keinen Film mit guter Filmmusik“, antwortete er.

„Dann suchen wir den Film mal ausnahmsweise nicht nach der Musik aus.“ Marie kickte einen Stein weg, der vor ihr auf dem Fußweg lag.

„Jetzt mach es mir doch nicht so schwer.“ In Hannes’ Stimme schwang Verärgerung. „Meinen Geburtstag und der Termin am Dienstag, ohne den ADI-Traum schaffe ich das nicht. Wenn du willst, gehen wir danach shoppen.“

„Was?!“ Marie hob den Kopf. Hannes wollte sie kaufen, das war vielleicht das vierte Ding, das sie hasste, aber sie hasste es nicht an ihm, sondern an sich selbst. „Auf wessen Kosten?“, fragte sie.

„Na, auf wessen Kosten wohl? Auf meine natürlich.“

Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. „Also gut“, sagte sie.

„Oh nein, nein, nein, so kommst du mir nicht davon.“ Hannes tippte sich mit dem Finger auf die Wange. „Ich will einen Kuss, und du musst sagen: Toll, Papa, das ist viel besser als Kino.“

Marie ging langsam auf Hannes zu. Er beugte sich zu ihr hinunter und sie küsste ihn kurz auf die Wange. „Toll, Papa, das ist viel besser als Kino“, flüsterte sie, „Shoppen ohne Limit.“ Damit drehte sie sich um und lehnte sich neben der Eingangstür an die Wand der ADI-Filiale.

„Ohne Limit?“, rief ihr Vater. „Davon war nie die Rede.“

„Ich kann dich nicht hören“, sagte sie, „der Verkehr ist so laut.“ Hannes lachte. „Kommst du mit rein?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie draußen wartete, zwang ihn das, sich zu beeilen. Wenn sie mit reinging, konnte er sich Zeit lassen.

„Bitte“, bettelte er.

„Keine Chance“, antwortete sie.

Er stöhnte und ging allein. Marie blieb einen Moment stehen. Vor der Filiale einer Bank spielte ein bärtiger Mann Akkordeon. Es hörte sich erbärmlich an. Eine Frau zerrte ein weinendes Kind hinter sich her. Dann gab die Ampelschleuse wieder einen Menschenstrom frei. Marie drehte sich um und schaute sich die Schaufenster der ADI-Filiale an. Auf dem linken stand:

„Was Sie nicht verschlafen sollten:

Hochzeitsreisen

Urlaub

Wichtige Geschäftsreisen

College-Prüfungen

Die ersten Tage Ihres Kindes

Runde Geburtstage

Momente, in denen es auf Sie ankommt

Oder einfach Ihr Leben

Schlafen Sie nicht, wenn Sie müde sind, schlafen Sie,

wenn Sie Lust dazu haben!

All Day Industries – wir machen Träume wahr.“

Die Tür der Filiale öffnete sich und ein junger Mann schaute heraus. „Mitarbeiter in Ausbildung“ stand auf einem Schildchen am Revers seines dunkelblauen Anzuges.

„Hallo“, sagte er. „Ich heiße Jonas, bist du Marie?“

Marie nickte.

„Dein Vater schickt mich, ich soll dir die Zeit vertreiben.“ Er lächelte.

Marie sah ihn verdutzt an. Er war hübsch: jung, sportlich, blaue Augen, ein kleiner silberner Stecker im Ohr. Wie alt mochte er sein? Siebzehn? Als Dreizehnjährige hatte sie keine Ahnung, wie sie mit einem Siebzehnjährigen reden sollte. Sie kannte einfach nicht genügend siebzehnjährige Jungs, um das zu wissen. Genau genommen kannte sie überhaupt keinen siebzehnjährigen Jungen.

„Ich komme schon zurecht“, sagte sie leise.

„Dann warte ich hier mit dir“, antwortete Jonas. Er steckte sich eine Zigarette an.

„Warst du schon mal bei uns?“, fragte er und zeigte auf die Tür der ADI-Filiale.

Marie schüttelte den Kopf. „Nein, man darf doch erst mit achtzehn einen ADI-Traum haben“, sagte sie.

„Ich dachte, du hast deinen Vater vielleicht mal begleitet.“ Jonas blies geräuschvoll Rauch aus.

Dass er rauchte, imponierte Marie kein bisschen.

„Warum muss man eigentlich warten, bis man achtzehn ist?“, fragte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte fragen sollen.

„Ein paar Kinder haben sich Wachheit gekauft“, antwortete Jonas, „ohne dass ihre Eltern es wussten. Sie sind nachts um die Häuser gezogen, während Mama und Papa schliefen. Das alles wäre nicht so schlimm gewesen, wenn unter den schlafenden Erziehungsberechtigten nicht ein Senator gewesen wäre. Er hat dafür gesorgt, dass All Day Industries die Geschäftsbedingungen ändern musste.“

„Aha“, sagt Marie.

Sie schwiegen. Was hatte sich Hannes nur dabei gedacht, ihr diesen Jonas herauszuschicken? Ein Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene raste vorbei. Marie hielt sich die Ohren zu. Als es wieder still war und die Pause unerträglich zu werden drohte, fragte sie: „Was macht mein Vater eigentlich gerade da drin?“

„Er liegt in einer Schlafkabine und schläft“, antwortete ADI-Jonas.

„Er schläft, um wach zu bleiben?“ Marie zog die Augenbrauen hoch.

„Ich habe ihm eine Schlafbrille aufgesetzt“, sagte Jonas und streifte die Asche seiner Zigarette ab. „Mit Hilfe dieser Brille hat er einen besonderen Traum, einen ADI-Traum. Wenn er dann aufwacht, wird er dreizehn Tage lang munter sein. Das ist sein ADI-Wert, dreizehn Tage.“

Marie nickte. In diesen dreizehn Tagen wird Hannes noch weniger Zeit haben als sonst, dachte sie. Immer, wenn er sich einen ADI-Traum kaufte, war das so. Er arbeitete dann Tag und Nacht. Wenn ihn Regine nicht ermahnte, Pausen einzulegen, sich massieren zu lassen oder spazieren zu gehen, dann wurde er nach wenigen Tagen unausstehlich.

„Möchtest du wissen, wie lange du wach bleiben wirst, wenn du später einmal einen ADI-Traum hast?“, fragte Jonas.

Marie musterte ihn. Tja, wollte sie das wissen? Eigentlich nicht, aber die Aussicht, hier noch länger herumzustehen und sich Fragen auszudenken, um keine peinlichen Pausen aufkommen zu lassen, war nicht sehr verlockend. Also nickte sie.

„Na dann“, Jonas warf seine Zigarette weg. „Bitte einzutreten.“ Er öffnete die Tür.

Gedämpftes Licht fiel durch die zugeklebten Schaufenster. Von irgendwoher hörte man leises Meeresrauschen. Um drei Couchtische saßen tuschelnde Mitarbeiter und ihre Kunden. Links führte eine elegante Treppe hinauf zu einer Galerie. ADI-Jonas zeigte auf einen seltsamen Stuhl, an dem eine Metallkappe angebracht war. Marie setzte sich. Die Kappe war kühl an der Stirn. Sie schloss kurz die Augen.

„Keine Angst, du spürst nichts.“ Er tippte etwas in einen Laptop, der auf einer Konsole neben dem Stuhl stand. Ein Drucker summte. Danach war es still. Als er nichts sagte, drehte Marie den Kopf. Er stand neben ihr und starrte mit gerunzelten Augenbrauen auf den kleinen Zettel. „Das kann nicht stimmen“, murmelte er wie zu sich selbst. Er ging wieder zu dem Computer und hackte auf die Tastatur ein. Dabei blieb sein Gesicht angespannt. „Das gibt’s doch nicht, das ist doch unmöglich!“ Er schüttelte den Kopf.

„Entschuldige, aber ich glaube, es ist irgendetwas nicht richtig gelaufen. Der ADI-Wert, der hier angezeigt wird, kann nicht stimmen. Könntest du mich kurz auf den Stuhl lassen?“ Mit diesen Worten nahm er ihr die Haube vom Kopf.

Marie stand auf und er setzte sich hin. Er sah sie nicht mehr an. Sie schien auf einmal nebensächlich für ihn zu sein. Warum? Es war doch egal, welchen ADI-Wert sie hatte, sie durfte die Schlafbrille ja doch nicht benutzen, ehe sie achtzehn Jahre alt war. Mit geübten Handgriffen setzte er sich selbst die Haube auf und zog die Computertastatur zu sich heran. Es summte und er riss den kleinen Zettel ab, der aus dem Drucker kam.

„Neun Tage“, murmelte er, „das ist mein ADI-Wert.“ Er stand auf und bat Marie, noch einmal Platz zu nehmen. Sie wiederholten die Prozedur und wieder blieb es still, nachdem der Drucker summend seinen kleinen Zettel beschrieben hatte.

„Was ist denn?“, fragte Marie nach einer Weile.

Jonas schüttelte ungläubig den Kopf. „Also laut unserer Anzeige hier hast du einen ADI-Wert von 113 Tagen. Das … das kann aber nicht stimmen. Einen solchen Wert hat noch nie jemand erreicht. Die meisten Menschen haben einen ADI-Wert von drei bis vierzehn Tagen. Es gibt ein paar, die haben einen ADI-Wert von 60, maximal 70 Tagen, aber 113? Das ist … wenn das stimmt, dann ist das eine Sensation.“ Er lachte unsicher. „Eigentlich würde ich sagen, das Gerät ist kaputt, aber meinen ADI-Wert hat es richtig angezeigt, neun Tage. Und da es für dich zweimal den gleichen Wert angezeigt hat …“

Er bearbeitete noch einmal die Tastatur. Dabei schüttelte er die ganze Zeit den Kopf. „Keine Fehlermeldung, das ist wirklich unfassbar.“

Marie rutschte auf dem Sessel hin und her. „Kann ich aufstehen?“, fragte sie genervt.

„Natürlich, entschuldige!“ Er nahm ihr die Haube ab und sah sie an. Aber er schien sie nicht zu sehen. Kein Lächeln, keine Reaktion. Dann entschuldigte er sich plötzlich und verschwand durch eine Tür unter der Treppe. Marie starrte ihm nach. Verdammt, was war los? Er ließ sie einfach stehen wie einen Ladenhüter.

Marie Marne und das Tor zur Nacht

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