Читать книгу Marie Marne und das Tor zur Nacht - Christoph Werner - Страница 9
6. Kapitel
ОглавлениеMarie hatte mit ihrem Vater getanzt, mit ihrer Mutter, mit Onkel Paul, mit Oma Luise und natürlich mit Jelena. Aber Jelena war aufgedreht und redete die ganze Zeit über Friedrich, der bei Papa eine Art Praktikum machte. Er war ein Musikgenie, hatte gerade die Abiturprüfungen hinter sich gebracht und schien es nicht komisch zu finden, mit einer Dreizehnjährigen zu tanzen. Jedenfalls forderte er Jelena sofort wieder auf, nachdem Marie sie freigegeben hatte. Hanna dagegen interessierte sich für nichts und niemanden. Sie warf gerade Oliven von der Dachterrasse auf ankommende Hotelgäste und fand das sehr lustig.
Dass ihre beiden Freundinnen sehr unterschiedlich waren, hatte Marie schon lange nicht mehr so deutlich empfunden. Sie schaute sich um, konnte aber niemanden aus der Familie entdecken. Langsam schlenderte sie einmal um die Tanzfläche herum, als sie ihre Mutter aus dem Fahrstuhl kommen sah. Ihr Gesicht war ernst und sie winkte Marie zu sich heran. Etwas stimmte nicht, das merkte Marie sofort.
„Wir müssen nach Hause“, sagte Regine. „Es ist etwas passiert.“
Marie erschrak. „Mit Oma?“, fragte sie.
„Nein, mit deinem Vater.“
„Was!? Wo ist er?“
„Unten in der Lobby. Paul und Luise sind bei ihm. Wir müssen gehen, hast du deine Handtasche?“
Marie hielt ihre Handtasche hoch. Regine nickte und rief den Fahrstuhl.
„Was ist denn passiert?“, fragte Marie und versuchte, ihre Panik zu unterdrücken.
„Wissen wir nicht“, sagte Regine leise. „Er spricht nicht mehr, sitzt einfach da und singt. Er scheint niemanden zu erkennen. Bete, dass es kein Schlaganfall ist.“
Marie wollte Hanna noch etwas zurufen, aber der Fahrstuhl kam und Regine stieg sofort ein. Als sie in der Lobby ausstiegen, war der Krankenwagen schon da. Hannes saß in einem Sessel. Vor ihm hockte die Notärztin. Sie leuchtete ihm mit einer Taschenlampe in die Augen. Es schien ihn nicht zu stören. Als sie näher kamen, hörte Marie ihren Vater summen. Er schaute niemanden an. Sie ging zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. Er reagierte nicht, weder auf die Berührung noch auf ihre Anwesenheit. Die Notärztin stand auf. „Er muss gründlich untersucht werden“, sagte sie. „Am besten wir fahren jetzt.“
„Ist es ein Schlaganfall?“, fragte Regine.
„Das kann ich nicht ausschließen“, antwortete die Ärztin, „aber ich glaube es nicht. Wir müssen ihn untersuchen.“
„Oma bringt dich nach Hause, Schatz“, sagte Regine.
Marie protestierte sofort. „Nein, ich komme mit, ich will nicht alleine mit Oma zu Hause sein. Ich komme mit.“
Regine überlegte einen Moment, dann nickte sie. Die Verabschiedung war kurz. Onkel Paul umarmte sie und sagte, sie sollten ihn sofort anrufen, sobald sie etwas wüssten. Oma Luise weinte ein bisschen. Die Ärztin und Regine griffen Hannes unter die Arme. Er stand sofort auf und folgte ihnen. Aber er schien nichts von dem wahrzunehmen, was um ihn herum geschah.
„Wieso war Papa denn hier unten?“, fragte Marie auf dem Weg zum Krankenwagen.
„Er hat sich hier unten mit einem Mann getroffen, hat die Rezeptionistin gesagt.“
„Was für ein Mann?“, fragte Marie.
Regine zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, sie konnte ihn nicht beschreiben.“
„Aber sie muss doch wissen, wie der Mann ausgesehen hat“, sagte Marie.
„Aber sie weiß es nicht“, schimpfte ihre Mutter, „sie kann ihn nicht beschreiben, keine Ahnung warum. Paul hat sie befragt und den würde sie ja wohl kaum anlügen, der ist immerhin ihr Chef.“
Die Ärztin bestand darauf, dass Hannes sich hinlegte. Er gehorchte. Auf der Fahrt in die Klinik beantwortete Regine tausend Fragen: Ob Hannes regelmäßig Medikamente oder Drogen nahm, ob er irgendeine chronische Krankheit hatte, ob er schon einmal einen epileptischen Anfall hatte, ob so etwas in seiner Familie schon einmal vorgekommen war und so weiter und so fort. Einmal lachte Hannes plötzlich und dann nickte er.
„Seltsam“, sagte die Ärztin leise, „so ein Fall ist mir noch nicht untergekommen.“
Diesen Satz sollten Regine und Marie in den folgenden Tagen noch oft hören. Jeder Arzt, dem Hannes vorgestellt wurde, sagte ihn am Ende seiner Untersuchung.