Читать книгу Die Gerechten des Luberon - Christrose Rilk - Страница 15

Unerhörte Gebete

Оглавление

Nicolas stand in der Halle und sah seiner Mutter entgegen. Sie kam langsam die Treppe herunter, in ihrem blauen Kleid, das sie schon getragen hatte, als er noch ein Kind war. Und auch das Lächeln auf ihrem Gesicht war fast wie früher. Und doch entgingen ihm nicht die feinen Falten auf ihrer Stirn und um ihre Mundwinkel.

„Wie schön, Nicolas, dass du noch länger zu Hause bleiben willst. Ich freue mich natürlich darüber, das weißt du ja, aber ich habe Sorge, dass es ein Opfer ist für dich. Aix ist so eine lebendige und interessante Stadt, und unser Oppède dagegen ein stilles, abgelegenes Bergnest, nicht gerade das Richtige für junge Leute, wie?“

Nicolas trat auf sie zu und küsste ihre Wange. Der vertraute Lavendelduft rührte ihn.

„Es ist bestimmt kein Opfer für mich, Mutter. Und Aix ist nicht nur eine schöne Stadt voller Leben. Aix hat auch seine dunklen Seiten, weißt du. Und ich kann dir sagen, an der Universität habe ich nicht nur die Prinzipien einer gerechten Jurisdiction gelernt, sondern noch ganz andere Dinge …“ Er brach ab, und ein missmutiger Ausdruck trat auf sein Gesicht.

Sie legte die Hand an seine Wange und murmelte: „Ach, mein Junge.“ Es tat ihm seltsam gut.

„Wohin willst du denn gehen?“ Er hatte bemerkt, dass sie ihr wollenes Umschlagtuch trug.

Die Baronin trat vor den hohen Spiegel im breiten geschnitzten Rahmen. Sie rückte leicht ihre Haube zurecht. „Ich möchte zur Kapelle der Heiligen Cäcilie und beten.“

„Und warum tust du das nicht in unserer Marienkirche, die Vater mit so viel Aufwand renoviert und umgebaut hat?“ Seine Stimme hatte einen spöttischen Unterton.

Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Anne d’Oppède zögerte mit der Antwort.

Dann sagte sie leise: „Die Kirche gefällt mir nicht. Sie steht so wuchtig, in grauer Strenge, wie eine Kriegsbastion. Es fällt mir schwer, darin zu beten.“ Nicolas sah den verhärmten Ausdruck um ihren Mund und die stille Trauer in ihren Augen.

„Mutter“, sagte er weich, „ich geh mit dir zur Kapelle.“ Und auf die unausgesprochene Frage in ihrem Gesicht sagte er: „Mir geht es genauso wie dir.“ Forschend sah sie ihn an. Da wurde sein Ton heftig. „Ich hasse diese Kirche. Sie ist hässlich. Sie ist so typisch Vater!“

Die Baronin seufzte. „Vater tut sein Bestes, um ein würdiges Bauwerk zu Ehren Gottes zu errichten.“

„Zu Ehren eines unerbittlichen, herrischen Gottes“, stieß Nicolas hervor.

Sie strich zart und wie beschwichtigend über die Hand ihres Sohnes. „Nicht doch. Es ist eben sein Stil.“

Eine Weile standen sie still nebeneinander in der großen Halle. Dann streckte sie mit behutsamer Gebärde ihre Hand aus, und er bot ihr höflich den Arm. Ihre Hand war leicht auf seinem Arm, und doch spürte er sie wie ein Gewicht.

Miteinander gingen sie in den hellen, frischen Morgen hinaus. Das Sonnenlicht glänzte auf den Dächern, vom Pinienhain wehte ein würziger Duft herüber. In den Mauerwinkeln der kleinen Steinhäuser blühte der Oleander weiß und rosa.

Am Haus des Gerbers stand die Tür weit offen.

Ozias Mormas stand im Eingang und spähte die Straße hinunter. Als er sie sah, trat er heraus und verbeugte sich. „Guten Morgen, Frau Baronin. Guten Morgen, junger Herr.“ Sein forschender Blick unter buschigen Augenbrauen, mit dem er Nicolas bedachte, entging der Mutter nicht.

„Guten Morgen“, sagte Nicolas kurz und wandte sich ab. Anne d’Oppède spürte, dass etwas Unausgesprochenes, Verstecktes in dieser Begegnung lag. Es war ihr, als zöge eine düstere Wolke auf und legte sich über diesen klaren Vormittag.

Sie drückte seinen Arm. „Wie lange bleibst du, Nicolas?“, fragte sie leise.

Nicolas zögerte, doch dann antwortete er: „Wenn Vater von Avignon zurückkommt, reise ich ab.“

Anne d’Oppède nickte bekümmert. Ihre Gebete würden heute besonders diesen zwei Menschen gelten, die sie beide so sehr liebte und die einander nicht mehr verstanden.

Ihre Schritte im Gleichklang auf dem alten Pflaster, die Nähe und zugleich die beginnende Trennung, Nicolas, das Kind und Nicolas, der Mann … Die Mutter wusste um den unwiederbringlichen Augenblick an diesem Morgen.

Sie lächelte ihrem Sohn zu. „Danke, dass du mitgehst, Nico.“

Der junge Mann lauschte dem Kindernamen nach. Schon lange hatte sie ihn nicht mehr so genannt. Er sah sie mit neuer Aufmerksamkeit von der Seite her an und bemerkte zum ersten Mal das Grau am Haaransatz. Meine Mutter wird alt. Der Gedanke löste eine Unsicherheit in ihm aus, die ihn verstörte.

Die Kapelle lag noch im Schatten des Berges. Nicolas zog die schwere Eingangstür auf, und sie traten in das kühle Halbdunkel des Raumes. Nebeneinander knieten sie im Betstuhl der Familie. Ihre Schultern berührten sich, und die Baronin erinnerte sich an einen Tag vor vielen Jahren, als sie mit ihrem Mann in dieser Kapelle auf dieselbe Weise im Gebet verbunden gewesen war. Es war ihr eine schmerzende Erinnerung, denn sie spürte wohl, dass ein unaufhaltsames Auseinandergleiten ihre Ehe befallen hatte wie eine schleichende Krankheit. Sie drängte den Gedanken zurück, denn jetzt war ja Nicolas neben ihr, ihrer beider Sohn.

Wer weiß, wie der Allmächtige uns sieht, er, der die Herzen kennt und die Gedanken prüft. Ihr Blick wanderte hinauf in das alte Gebälk der Holzdecke. Dies ist ein Raum des Gebets. Wie viele Gebete in so vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten sind von hier aus aufgestiegen? Wie viele Gebete auch, die nicht erhört wurden? Wo sind diese Gebete jetzt? Sind sie denn umsonst gebetet worden? Nein, das kann ja nicht sein. Dann sind sie noch hier, wie Schatten, die uns umgeben? Ja, es sind die unerhörten Gebete, die uns bergen. Vielleicht erst nach unserem Tod. Denn Liebe ist Leiden. Und das Leiden sagt uns, auch in den dunklen Augenblicken: Die Liebe hat es gegeben. Warum sollte Gott sie nicht wieder erwecken können in den Herzen derer, die gegen alles, was vor Augen ist, darum bitten?

Die Gerechten des Luberon

Подняться наверх