Читать книгу Die Gerechten des Luberon - Christrose Rilk - Страница 9
Namenstag
ОглавлениеCécile d’Oppède stand vor dem altersblinden Spiegel im Schlafzimmer ihrer Mutter. Sie liebte diesen besonderen Spiegel, der eine matte Nebelschicht auf die Gestalt legte und sie wie gemalt erscheinen ließ. Ihr hellbraunes Haar hatte sie in zwei feste Zöpfe geflochten. Sie band ein großes, weißes Tuch darüber und zog es in die Stirn. Nun war kein Haar mehr zu sehen, und der Spiegel warf das schemenhafte Bild einer jungen Nonne zurück. Cécile war zufrieden. Sie fühlte sich frei und geschützt in ihrem hochgeschlossenen blaugrauen Kleid mit den langen Ärmeln. Sie legte sich den wollenen Umhang an und wandte sich lächelnd ihrer Mutter zu.
Die Baronin hatte ihre jüngste Tochter nachdenklich beobachtet. Sie braucht noch Zeit, dachte sie, sie steht zaghaft an der Schwelle zum Frausein und ist doch erst vor kurzem noch ein Kind gewesen. War es nicht erst gestern oder vorgestern, dass sie lachend mit geschürztem Rock und offenen Haaren den Burgsteig hinuntergehüpft ist? Und ihre Krähe mit dem gebrochenen Flügel saß ihr dabei auf der Schulter, so lange, bis es dem zahmen Vogel zu viel wurde und er mühsam auf die niedrige Mauer flatterte. Und dann wieder konnte sie stundenlang still auf dem Bergfried sitzen mit abwesenden Augen und einem fremden Lächeln im Gesicht.
„Ich möchte auch einmal ferne Länder sehen, Mama“, hatte sie manchmal zu ihr gesagt.
„Vielleicht nimmt dich der Herr Vater bald mit nach Avignon“, hatte die Mutter vorgeschlagen, „in die Stadt der Päpste. Da wirst du wunderbare Paläste sehen und eine große, ehrwürdige Kathedrale mit all den Würdenträgern unserer heiligen Kirche. Die Gesänge dort sind wunderbar feierlich. Und dann die alte Brücke über die mächtige Rhône, die eleganten Damen von Avignon gehen darauf spazieren. Und es gibt auch Läden mit ganz weichen Stoffen in allen Farben und mit den hübschesten Mustern, die du dir vorstellen kannst.“
Aber Cécile hatte nur den Kopf geschüttelt. „Das meine ich nicht, Mama.“ Dann war sie wieder zu ihren kleinen Kranken geeilt. Immer wieder hatte sie ein Geschöpf zum Gesundpflegen gefunden, Cécile mit dem mitfühlenden Herzen und den sanften Händen.
„Ich bin fertig, Mama.“ Céciles klare Stimme riss die Baronin aus ihren Gedanken.
Sie trat auf sie zu und küsste sie auf die Stirn. „Alles Liebe zum Namenstag, meine Cécile!“ Dabei schob sie ihr eine kleine Schachtel in die Hand. Cécile öffnete sie und lachte vor Freude. Eine kleine Katze aus glänzendem dunklen Stein lag darin.
„Danke, Mama!“
Vor dem Zimmer saß Céciles graugetigerte dreifüßige Katze wartend auf einer Treppenstufe. Als die Tür aufging, stand sie auf und hinkte Cécile entgegen. Das Mädchen nahm sie auf den Arm und drückte ihr Gesicht in das weiche Fell. Die Katze schnurrte behaglich, und Cécile flüsterte ihr leise Koseworte zu. Die Baronin lächelte. Die dankbare Anhänglichkeit des Tieres rührte sie. Cécile hatte sie vor einem Jahr heimgebracht, den Fuß zerschmettert in einer Falle, aus der sie das schreiende und wild kratzende Tier befreit hatte. Das linke Hinterbein baumelte nur noch an einer Sehne, die Köchin hatte ihr geholfen, sie vollends abzutrennen. Tapfer hatte Cécile die Wunde gesäubert, geschickt und fachkundig verbunden und das schwer verletzte Tier hingebungsvoll gepflegt.
Von unten herauf hörten sie die Uhr schlagen. Cécile setzte die Katze ab und nahm den Arm ihrer Mutter. Vergnügt stiegen sie miteinander die Treppe hinunter und betraten die große Halle.
Der alte Baron Accurse d’Oppède hatte sie mit Wandteppichen und geschmiedeten Leuchtern ausstatten lassen. In der Mitte des Raumes stand ein schwerer Eichentisch, geeignet zur Festtafel, denn mehr als zwanzig Personen hatten an ihm Platz. Meistens saß jedoch nur die Familie hier zu den Mahlzeiten, wenn Nicolas nicht wieder …
Die Baronin seufzte. Sie blickte sich um. Nicolas war auch jetzt nicht da. Ihr Gatte Jean Maynier d’Oppède stand schon wartend am Fenster. Er war, wie meistens bei offiziellen Anlässen, schwarz gekleidet. Er hielt seine hohe, elegante Gestalt sehr aufrecht. Cécile lief zu ihm hin und umarmte ihn.
Er schob sie sacht von sich weg und sagte in feierlichem Ton: „Mögen dich die heilige Jungfrau Maria und die heilige Cäcilie beschützen. Segen und Glück zum Namenstag.“ Er bemerkte ihr erwartungsvolles Gesicht und lachte. „Du bekommst von mir ein neues Kleid. Die Schneiderin wird heute Nachmittag kommen. Denn in der nächsten Woche nehme ich dich mit nach Avignon und führe dich in die gute Gesellschaft ein. Freu dich!“
Cécile knickste. „Danke, Herr Vater.“ Doch ein Schatten war in ihr Gesicht gezogen, sie senkte die Augen. Aber die Mutter hatte ihren furchtsamen Gesichtsausdruck wohl bemerkt.
Nun erschien Claire, die ältere Tochter. Wie immer sah ihr Gesicht leicht gelangweilt aus. Sie begrüßte ihre Eltern in aller Form und überreichte Cécile ein zartes, besticktes Tüchlein, das sie für sie gemacht hatte. „Alles Gute, Kleine.“
„Und wo ist Nicolas?“, fragte der Baron.
Ein betretenes Schweigen füllte den Raum. Zornesröte machte wie unmerklich Jean d’Oppèdes Züge scharf, als er das Zeichen zum Aufbruch gab.
Draußen wartete der Burghauptmann mit der Dienerschaft; er führte den Zug an, die Knechte und Mägde gingen am Schluss, dazwischen schritt die Familie Maynier d’Oppède. Ein paar Dorfleute hatten sich vor dem Burgtor versammelt und besahen neugierig das Schauspiel: die Schlossherrschaft geht zur Kapelle der heiligen Cäcilie.
Die kleine Kapelle lag außerhalb der Schutzmauer des Ortes Oppède. Sie war sehr alt und im Lauf der Jahrhunderte halb verfallen gewesen, aber nach der Geburt des Schlossfräuleins Cécile hatte der Baron sie renovieren lassen und sogar eine kleine Statue gestiftet. Nun stand die schön gearbeitete Figur der heiligen Cäcilie im Chorraum der Kapelle.
Die Familie d’Oppède schritt durch die Gassen des Städtchens wie an jedem 22. November. Frauen und Kinder standen am Straßenrand und knicksten, und immer wieder musste Cécile stehen bleiben, weil jemand ihr eine Blume reichen wollte. Bei der Kapelle würde sie dann einen großen Strauß der letzten Blüten des Jahres beisammen haben und die Blumen in das schon mit Wasser gefüllte Gefäß vor der Statue der Heiligen ordnen.
Am Rathaus standen die Räte bereit und überbrachten ihre Glückwünsche. Sie küssten Cécile die Hand und verbeugten sich tief vor der Baronin und dem Baron, der ihnen nur kurz zunickte. Die Baronin bemerkte wieder einmal die scheue Haltung, die ihrem Mann entgegenkam. Die Leute mochten ihn einfach nicht. Er war ein strenger Grundherr, unerbittlich in seinen Forderungen und ohne Nachsicht in seinem Urteil. Aber er galt auch als unbestechlich, und ihm wurde eine Art widerwilliger Hochachtung entgegengebracht. Für Cécile jedoch hatten alle ein Lächeln; sie dankte ihnen mit schüchterner Herzlichkeit und winkte den Frauen zu.
„Wo ist denn der junge Herr?“, fragte eine Bäuerin, die sich mit zwei leeren Eierkörben vom Markt wieder auf den Heimweg gemacht hatte.
Eine alte Frau lachte ihr schadenfroh zu. „Der junge Herr Nicolas geht seine eigenen Wege. Ja ja, die Herren haben auch ihre Sorgen mit den Kindern.“
Vor der Kapelle der heiligen Cäcilie stand der Kaplan und verneigte sich tief. Es war eine Ehre für ihn, an diesem Tag die Messe zu lesen.
Cécile verteilte die bunten Blüten in der Schale und hob die Hände zur Anbetung. Die Luft war schwer von altem Weihrauch und hüllte sie ein wie die verlässlich raunende Stimme des Priesters und das leise Klingeln der Ministranten, als sie ihre Plätze einnahmen.
Cécile flüsterte „… und bitte für uns und alle Gläubigen …“, da hörte sie plötzlich das Weinen. Sie sah sich um, aber da war niemand, der geweint hätte. Entsetzt merkte sie, dass es Kinderstimmen waren, das jammervolle Weinen verlassener Kinder; es schwoll an und erfüllte die kleine Kapelle. Cécile klammerte sich zitternd an ihre Mutter. Die schaute sie erstaunt an. „Was ist denn, Kind?“
„Hörst du es? Es sind Kinder …“
Die Mutter legte beruhigend den Arm um sie. „Was meinst du denn?“
Céciles Lippen bebten. „Hörst du nicht die Kinder weinen?“
Die Baronin hielt sie fest. „Da ist nichts, Liebes. Du hast dich getäuscht. Komm, setzen wir uns!“ Cécile rührte sich nicht, in schmerzhafter Konzentration hob sie lauschend den Kopf. Die Baronin zog sie weg von der Statue. „Es ist dein Namenstag, Kind.“ Ihre Stimme in bemühter Heiterkeit erreichte das Mädchen nicht. Wie von weither sah sie ihre Mutter an, bleich und ohne Worte jetzt.
Der herzbrechende Klageton der Kinderstimmen ebbte ab, so als ob die Kinder weitergezogen wären. Cécile ließ ihre Mutter los und setzte sich auf die harte Holzbank. Bis zum Ende des Gottesdienstes blieb sie starr und abwesend.
Als sie wieder hinaus ins blasse Sonnenlicht trat, fiel ihr Blick auf eine hagere Frau in bäuerlicher Kleidung, wenig älter als ihre Mutter, abseits am Wegrand stehend. Die Frau blickte sie unverwandt an. Sie hatte graues, straff nach hinten gezogenes Haar und dunkle aufmerksame Augen. Cécile blieb stehen. Sie wusste selbst nicht, was sie bewegte, als sie mit fast bittender Gebärde die Hand nach ihr ausstreckte.
Der Baron drehte sich um. „Wir müssen uns beeilen“, sagte er. „Ich muss nach Tisch nach Cavaillon reiten. Der Bischof bat mich um eine Unterredung.“
Cécile wandte sich ab und beschleunigte ihre Schritte, wie die anderen auch.