Читать книгу Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1) - Claire Legrand - Страница 11

6 ELIANA

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»Orline, die Hauptstadt von Ventera, ist eine günstig gelegene Hafenstadt an der Südostküste. Zugegebenermaßen strahlt die Stadt trotz der brütenden Hitze und des Gestanks, der gelegentlich von den Sümpfen an der Westgrenze herüberweht, eine einzigartige Schönheit aus – es ist eine luxuriöse Stadt mit Steinterrassen, versteckten Innenhöfen, üppigen Farnen und herabhängendem Moos, eingerahmt von einem breiten, braunen Fluss, der zweitausend Meilen nördlich im Hochland von Ventera entspringt.«

Erster Bericht von Lord Arkelion an seine heilige Majestät, den Kaiser der Unsterblichkeit, nach der erfolgreichen Einnahme von Orline

13. Februar im Jahr 1010 des Dritten Zeitalters

In der ersten Vollmondnacht schlief Eliana nicht. Sie legte ihre neue Maske an, schminkte ihre Lippen purpurrot, warf sich ihren Lieblingsmantel über – ein bisschen Theatralik hatte noch niemals geschadet – und verschwand in der Nacht.

Sie nahm den Weg über die Hausdächer vorbei an den Hopfenläden, wo es nach Lachryma stank, und an den roten Zimmern, die von freundlichen Damen betrieben wurden. Die ganze Nacht über streifte sie durch die Brachen.

Eliana sah sich um und hielt die Ohren offen.

Sie suchte die üblichen Informanten auf – verängstigte Rebellen, die bereit waren, die Rote Krone zu verraten, oder nützliche Opportunisten, die gegen Bares zu Doppelagenten wurden.

Sie stellte Fragen und verlangte Antworten. Sie drohte und schmeichelte.

Meistens drohte sie.

Aber vom Wolf keine Spur. Kein flüchtiger Blick, keine Information hinter vorgehaltener Hand.


In der zweiten Vollmondnacht kehrte Eliana mit einem faustgroßen Knoten im Bauch und einem Dutzend drängender Fragen nach Hause zurück.

Wusste der Wolf, dass sie ihn verfolgte? War es deswegen so auffallend ruhig geworden?

Beobachtete Rahzavel sie?

War das eine Art Prüfung?

Versagte sie?

Sie saß vor ihrem Zimmer auf der Terrasse und sah der aufgehenden Sonne zu, die die Welt blutrot färbte. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, über die Lücke zwischen den Dächern zu springen, sich in Harkans Zimmer zu schleichen, ihn mit ihren Lippen zu wecken und sich so lange von ihm lieben zu lassen, bis sie an nichts anderes mehr dachte.

Stattdessen saß sie mit Kapuze und Handschuhen still wie ein Wasserspeier da und wartete und grübelte.

Was würde Rahzavel tun, wenn sie den Wolf nicht fand?

Und wenn sie den Wolf jagte, jagte er vielleicht auch sie?


In der letzten Vollmondnacht kehrte Eliana unruhig und mit bösen Vorahnungen nach Hause zurück, nur um festzustellen, dass jemand bei ihnen eingebrochen war.

Wenn Eliana arbeitete, betrat und verließ sie das Haus gern über die winzige Steinterrasse vor ihrem Zimmerfenster im zweiten Stock. Auf diese Weise blieb die Tür zur Straße hin unberührt.

Heute Nacht aber stand ihr Fenster offen. Ein dünner Streifen im Holz verriet, wo die Farbe abgekratzt war; jemand hatte die Verriegelung aufgebrochen. Die Glasscheibe hatte einen Sprung.

Während sie regungslos stehen blieb, stieg ihr ein Geruch wie in der Nacht von Quills Festnahme in die Nase. Da war auch das gleiche unangenehme Gefühl, als würde sie mit der Welt rundherum nicht mehr im Einklang stehen. Auf ihre Schultern drückte ein Gewicht und sie hatte einen sauren Geschmack im Mund.

Irgendjemand war hier. Sie waren hier, die Mädchenfänger vom Hafen. Das zumindest sagte ihr Bauchgefühl. Die einzigen Male, dass sie sich so gefühlt hatte, waren in jener Nacht gewesen und jetzt.

Was bedeutete, dass jetzt ihre Mutter …

Und Remy?

Sie nehmen nur Frauen, sagte Eliana sich, während ihr Herz wie verrückt schlug. Sie nehmen nur Mädchen.

Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Sie könnte Harkan zu Hilfe holen, aber vielleicht wäre es dann schon zu spät.

Sie sprang auf die Terrasse einen Stock unter ihr vor das Zimmer ihrer Mutter. Die Blumen aus Rozens Dachgarten dufteten intensiv und Eliana wurde übel.

Das Fenster war nicht verschlossen, was eigenartig war. Vor dem Schlafengehen verriegelte ihre Mutter immer das Fenster. Vorsichtig drückte Eliana es auf, schlüpfte nach drinnen … und hielt inne.

Ihre Mutter war fort.

In dem Zimmer stank es nach diesem undefinierbaren Etwas, das den Entführern anhaftete. Die Bettlaken waren halb aus der Matratze gezogen. Auf dem Boden lag eine zersprungene Tasse.

Und die Beinprothese ihrer Mutter lehnte in der Ecke.

Eliana packte das Grauen.

Du hast Angst, dass wir die Nächsten sind, hatte Remy am Abend von Quills Hinrichtung gesagt.

Nein. Nein. Nicht ihre Mutter. Das konnte nicht sein.

Wer auch immer hinter den Entführungen steckte, holte keine Frauen aus dem Gartenviertel. In dieser Gegend der Stadt war man geschützt.

Aber falls die Entführungen Teil einer größeren Sache waren und nicht irgendeiner Laune Lord Arkelions entsprangen, ja womöglich gar nicht unter seiner Kontrolle standen …

Über ihr waren Schritte. In ihrem eigenen Zimmer. Beinahe lautlos, aber nicht ganz. Das Haus war alt; die Böden knarrten.

Remy, dachte sie, schlaf bitte weiter. Bitte, lieg sicher in deinem Bett.

Sie zog ihren Dolch und schlüpfte aus dem Zimmer ihrer Mutter. Leise schlich sie an Remys geschlossener Tür vorbei die Treppe hinauf bis in den Flur.

Sie drückte sich eng an die Wand neben ihrem Schlafzimmer und wartete. Die Tür öffnete sich, eine groß gewachsene Gestalt trat ins Dunkle. Wartete. Und bewegte sich dann in Richtung Treppe.

Ein Mann.

In dem Mondlicht, das aus ihrem Zimmer drang, sah sie seine Maske aus Netzwerk und Metall.

Angst durchbohrte sie.

Der Wolf.

Es hieß, dass er nie sein Gesicht zeigte und immer eine Maske trug. Aber eine der käuflichen Damen, die Eliana gut kannte, schwor, dass sie einmal gesehen hatte, wie der Wolf sie abgenommen hatte. Er war vernarbt, sagte sie, wie von Klauen gezeichnet.

Sie sagte auch, er hätte Augen wie der Winter – eiskalt und gnadenlos.

Nun denn, dachte Eliana. Dann passen wir ja gut zusammen.

Sie sprang mit einem Satz auf ihn zu und trat ihn fest ins Kreuz. Sie hatte erwartet, dass er die Treppe hinabstürzen würde.

Doch das tat er nicht.

Er fuhr herum, schnappte ihr Bein und schleuderte sie auf den Treppenabsatz. Mit ihrem freien Fuß trat sie gegen sein Schienbein, wand sich aus seinem Griff und sprang auf. Seine behandschuhte Faust schoss auf sie zu; sie duckte sich und er traf stattdessen die Wand.

Das hielt ihn ein wenig auf. Sie verpasste ihm einen Tritt in die Kniekehle. Sein Bein gab nach, aber er war schnell. Er drehte sich zur ihr und schubste sie kräftig. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel die Treppen ein Stockwerk weit hinunter.

Der Wolf setzte ihr nach, packte sie am Oberarm und warf sie übers Geländer.

Sie stürzte in die Diele und landete hart auf dem Rücken. Mit dem Kopf schlug sie auf die Bodenfliesen und für einen kurzen Moment sah sie Sterne. Aber dann biss sie die Zähne zusammen und sprang wieder auf.

Der Wolf war ihr nachgeeilt, er war noch immer in Kampfbereitschaft. Er musste gewusst haben, dass so ein Sturz sie nicht ernsthaft verletzte – oder gar umbrachte – wie vielleicht jemand anderen.

Eliana packte erneut das Grauen. Plötzlich schien ihre Haut nur noch schlecht über ihren unzerbrechlichen Knochen zu sitzen.

Er war ihr also gefolgt. Er hatte sie arbeiten sehen. Oder aber er hatte zumindest die Gerüchte über den unverwundbaren Fluch von Orline gehört und ihnen Glauben geschenkt – egal wie lächerlich sie auch zu sein schienen. Jetzt jedenfalls war er hier. Er hatte sie überrumpelt.

Interessant. Und beunruhigend.

Sie wich seinem Schlag hier unten auf dem Treppenabsatz aus, wirbelte herum und trat zu. Er griff nach ihrem Mantel und riss sie zu sich. Sie rammte ihm den Ellenbogen in den Magen und hörte ihn ächzen. Sie zog Arabeth von ihrer Hüfte und zielte auf sein Herz –

Aber er war zu schnell, ihr Dolch traf ins Leere. Sie taumelte, war aus dem Gleichgewicht gebracht. Er stieß sie an die Wand neben der Küchentür. Ihr Kopf schlug gegen den Backstein, die Diele schwankte und kippte weg.

Er schnappte ihr Handgelenk und drehte es, bis sie Arabeth fallen ließ. Die Klinge stieß er außer Reichweite in die Diele und nahm Eliana in den Schwitzkasten. Sie zog Pfeifer von ihrem Oberschenkel und holte nach ihm aus. Keine tödliche Wunde, aber er fluchte dennoch und ließ sie los.

Dann riss sie Sturmwind aus ihrem Stiefel – jetzt würde sie ihn kriegen – und sah auf.

Genau in die Mündung eines Revolvers, mit dem der Wolf auf ihr Gesicht zielte.

Es war totenstill.

»Lass die Messer fallen.« Seine Stimme klang tief, vornehm und kalt wie Eis. »An die Wand. Langsam.«

»Das ist unfair«, sagte sie aufgebracht. »Du hast eine Pistole dabei.« Aber sie gehorchte und wich zurück, bis sie mit den Schultern an die Holzregale stieß.

Der Wolf folgte ihr, sein Körper überragte sie. Er riss Nox und Tuora von ihrem Gürtel und drückte ihr Tuoras Klinge gegen die Kehle, dann ließ er seine Pistole fallen und trat sie beiseite.

Eliana starrte in das ausdruckslose metallene Gesicht, das drohend näher kam, suchte hinter dem Gitter nach den Augen und fand keine.

»Nimm deine Maske ab«, befahl er.

Das tat sie, und dann fixierte sie ihn mit dem besten Lächeln, das sie zustande brachte.

»Ein Fluch«, murmelte er und sein Atem strich über ihre Wange, »ist bloß ein Gefühl, das man ganz leicht zermalmen kann. Aber Wölfe, meine Liebe, haben Zähne.«

Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1)

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