Читать книгу Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1) - Claire Legrand - Страница 14

9 RIELLE

Оглавление

»Die sieben Heiligen vereinten ihre Kräfte und schufen mit Wind und Wasser, Metall und Feuer, Schatten und Erde einen Zugang zur Verdammnis. Und als Sankt Katell als Letzte von allen ihr sonnenhelles Flammenschwert zückte, stürzten die Engel schreiend in ewige Finsternis.«

Das Buch der Heiligen

Die Halle der Heiligen war der größte und heiligste Raum auf Baingarde. Weiße Steinsäulen trugen hohe Gewölbedecken mit Schmuckbändern, die mit aufwendigen Reliefs von Sonnen und Monden, Bäumen und Flammen versehen waren. An der Decke prangte eine Landkarte der Welt von Avitas: Celdaria und die anderen vier Nationen des riesigen östlichen Kontinents. Nördlich von Celdaria lagen die Sunderlands und die Pforte. Und auf der anderen Seite des Großen Ozeans befanden sich die westlichen Königreiche Ventera, Astavar und Meridian.

Auf einem großen weißen Marmorpodium ganz vorn im Raum stand die Bank des Hohen Gerichts: prächtige Stühle mit hohen Lehnen für den König und die Königin; ein üppig verzierter breiter Sessel für den Archon, den Kirchenfürsten; und eine Tribüne mit mehreren Sitzreihen, die groß genug war für die Angehörigen sämtlicher Tempel und des königlichen Rats.

Über dem Podium thronte Sankt Katell, die Schutzheilige von Celdaria und allen Sonnenbändigern der Welt. Mit ihrem rechten Arm hielt sie das Schwert, ihre Urform, in die Höhe, das jetzt irgendwo in Celdaria verborgen lag.

Mit der anderen Hand umfasste Katell ein Büschel zerzauster steinerner Federn. Engel, winzig und erbärmlich, die Gesichter schmerzverzerrt, krochen an den Beinen ihrer weißen Stute empor und flehten vergeblich um Gnade.

Um ihren Kopf schwebte ein Heiligenschein aus Licht, vergoldet, makellos und auf Hochglanz poliert.

Sankt Katell die Herrliche – eine Sonnenbändigerin und nach den Engelskriegen auch eine Königin. Die Celdaria einte. Von einem Engel geliebt, aber stark genug, um der Versuchung des Feindes zu widerstehen.

Und in den tausend Jahren danach hatten stets Nachkommen aus ihrer Linie auf dem Thron gesessen.

Die anderen sechs Heiligen säumten den weiten Saal, drei auf jeder Seite. Gigantisch und ernst, aus Stein und Bronze, trug jeder von ihnen seine persönliche Urform bei sich und wurde von einem Element begleitet: Sankt Nerida, Wasserwandlerin und Schutzheilige von Meridian, schwang ihren Dreizack, während hinter ihr die Wellen aufwogten und sich zu ihren nackten Füßen ihre Krake zusammenrollte. Sankt Grimvald, Metallmeister und Schutzheiliger von Borsvall, bahnte sich, seinen Hammer in der Hand, auf dem Rücken eines Drachen den Weg durch einen Sturm aus Eisensplittern.

Und Sankt Katell ritt auf ihrer strahlend weißen Stute.

Zwanzig bewaffnete Wachleute standen am Fuß des Podiums und musterten Rielle. Es waren die Männer und Frauen ihres Vaters, Menschen, die sie mit Namen kannte. Sie spürte ihre Blicke auf sich – betroffen, neugierig. Furchtsam.

Sie haben allen Grund, sich zu fürchten, kam die Stimme, ohne Warnung. Aber du nicht.

Rielle erstarrte. In dieser Umgebung war es unmöglich, die Stimme zu hören, ohne sich an die Wahrheit zu erinnern: Gedankensprache war einst den Engeln zu eigen gewesen.

Als sie daran dachte, bekam sie eine Gänsehaut. So viele Leute starrten sie an, dass sie kaum still stehen konnte. Ihr Vater war umgeben von einem Trupp bewaffneter Wachen. Königin Genoveve, König Bastien, Ludivine. Der Archon, gleichmütig in seiner Robe. Die Räte – nur Tal war eine auffallende und beunruhigende Ausnahme.

Und Audric.

Er saß neben seinen Eltern, auf der Stuhlkante, als wäre er bereit, sich im schlimmsten Fall vom Podium zu stürzen. Als Rielles Blick seinem begegnete, warf er ihr ein kurzes Lächeln zu, das vor Sorge etwas dünn ausfiel.

Rielle entspannte sich ein wenig.

Audric ist hier, sagte sie sich. Er wird nicht zulassen, dass sie mir etwas antun.

Sie erspähte den König über ihm. Sein Gesichtsausdruck ließ ihn besorgter wirken, als sie ihn je erlebt hatte. König Bastien war bekannt für seine gute Laune. Von Kindesbeinen an war Rielle an den Klang seines Lachens gewöhnt, das durch die Flure Baingardes schallte, und sie hatte vor Freude gekreischt, wenn er beim Fangenspielen in ihrem Zimmer unzählige Male hinter ihr, Audric und Ludivine hergejagt war.

Von diesem Mann war heute keine Spur mehr zu sehen.

Rielle unterdrückte das Bedürfnis, sich den Schweiß abzuwischen, der sich an ihrem Haaransatz sammelte. Sie machte einen tiefen Knicks, sodass sich ihre Röcke auf dem blitzsauberen Boden bauschten.

»Eure Majestät.«

»Lady Rielle Dardenne«, begann König Bastien, »du wurdest heute hierhergebracht, um Fragen über den Vorfall zu beantworten, der sich vor zwei Tagen beim Boon-Chase-Rennen zugetragen hat. Ich werde dir eine Reihe von Fragen stellen, und du wirst sie im Angesicht der Heiligen wahrheitsgemäß beantworten.«

»Natürlich, mein König.« Der riesige Raum verschluckte Rielles Stimme.

König Bastien nickte und hielt inne. Die Silberfäden in seinem schwarzen Bart und die Lachfältchen in seinem braunen Gesicht ließen ihn älter wirken, als Rielle ihn je empfunden hatte.

Sein Blick wurde hart. Rielle widerstand dem Drang, vor der neuen, gefährlichen Spannung im Raum einen Schritt zurückzuweichen.

»Wie lange«, fragte er mit kühler und sachlicher Stimme, »weißt du schon, dass du Macht über die Elemente besitzt?«

Irgendwie hatte Rielle gedacht, es würde etwas weniger direkt beginnen. Mit einer Frage oder zwei oder fünf, die ihr Zeit geben würden, ihre Stimme zu finden.

Aber wenigstens, dachte sie, glaubten sie, dass sie nur eine Elementherrscherin war und nicht – was auch immer sie in Wirklichkeit war. Vielleicht würde ihre Strafe – und die von Tal und ihrem Vater – dadurch nicht so streng ausfallen, wie sie befürchtet hatte.

Die Worte der Prophezeiung gingen ihr durch den Kopf. Sie werden die Macht der Sieben besitzen.

»Seit ich fünf Jahre alt war«, antwortete sie.

»Und wie bist du zu diesem Schluss gekommen?«

Er fragte das so beiläufig, als wüssten sie die Antwort nicht längst.

Ein Stuhl knarrte, als jemand das Gewicht verlagerte. Rielle sah hinüber und erkannte Tals Schwester Sloane Belounnon, die mit dem übrigen Richterrat rund um den Archon saß. Sie verharrte starr auf ihrem Stuhl und ihr dunkles, kinnlanges Haar wirkte wie ihr fahler Teint ungewohnt streng. Sie sah aus, als hätte sie nicht geschlafen.

Wie musste Sloane sich fühlen, nachdem sie erfahren hatte, dass ihr Bruder ihr ein solches Geheimnis vorenthalten hatte?

»Als ich … als ich fünf Jahre alt war«, fuhr Rielle fort, »habe ich unser Haus in Brand gesteckt.«

»Wie?«

»Ich war wütend. Meine Mutter und ich hatten uns gestritten.«

»Worüber?«

Es klang lächerlich, furchtbar belanglos. »Ich wollte nicht schlafen gehen. Ich wollte mit Vater aufbleiben und lesen.«

»Deshalb«, sagte der König gelassen, »hast du euer Haus in Brand gesteckt.«

»Es war ein Unfall. Ich war wütend und die Wut hat sich gesteigert, bis ich sie nicht mehr beherrschen konnte. Ich bin hinausgerannt, weil mir das Gefühl Angst gemacht hat. Es hat sich angefühlt, als würde etwas in mir brennen. Und dann … als ich mich umwandte«, sagte sie, während die Erinnerung von ihr Besitz ergriff, »sah ich, wie das Feuer unser Haus erfasste. Im einen Moment war es noch nicht da und im nächsten plötzlich schon.«

»Und du hattest es ausgelöst.«

»Ja.«

»Woher wusstest du das?«

Woher wusste man, wenn man die eigene Hand sich bewegen sah, dass sie am eigenen Arm befestigt war, an der eigenen Schulter und zum eigenen Blut und den eigenen Knochen gehörte? Von selbst.

»Ich wusste es, weil es wie ich ausgesehen und geklungen und sich angefühlt hat«, erklärte sie. »Es fühlte sich genauso an wie meine Wut. Der gleiche Geruch, der gleiche Geschmack. Ich fühlte mich damit verbunden.« Sie zögerte. »Großmagister Belounnon hat mir seitdem geholfen zu verstehen, dass das, was ich damals gespürt habe, das Empirium war. Die Verbindung zwischen mir und dem Feuer war die Kraft, die alle Dinge miteinander verbindet, und ich hatte Zugang dazu.«

Rielle riskierte einen Blick auf den Archon, der neben dem Richterrat saß. Er starrte sie ungerührt an, ohne mit seinen kleinen, hellen Augen zu blinzeln. Das Licht der Fackeln ließ sein bleiches Gesicht und seinen glatten Schädel glänzen.

»Und konnte deine Mutter entkommen?«, fuhr der König fort.

Rielle schnürte es die Kehle zu, und einen Moment lang konnte sie nicht sprechen. »Nein. Sie saß im Haus in der Falle. Mein Vater rannte hinein, um sie herauszuholen. Sie war noch am Leben, doch dann …«

Sag es, Kind. Die Stimme kehrte zurück, voller Mitgefühl. Sag es ihnen. Sie können dir nichts tun.

Angesichts der steinernen Heiligen, die auf sie herabstarrten, die gefühllosen Augen kalt und ernst, hätte die fremde Stimme kein Trost sein dürfen. Trotzdem beruhigte es ihren aufgewühlten Magen, sie zu hören.

»Ich hatte Angst«, fuhr sie fort, »als ich meine Mutter sah. Ich hatte nie zuvor Verbrennungen gesehen. Sie hat geschrien und ich habe sie angebrüllt, sie soll aufhören, doch sie hat nicht aufgehört, und dann … konnte ich nur noch daran denken, dass ich sie unbedingt dazu bringen muss, mit dem Schreien aufzuhören.« Rielle hetzte durch die Geschichte, als wollte sie die Erinnerung an diese lodernden Flammen hinter sich lassen. »Dann hat sie aufgehört. Mein Vater hat sie auf die Erde gelegt und sie angebrüllt, dass sie aufwachen soll. Aber sie war tot.«

Bewegung kam in die Zuschauer, es wurde getuschelt.

»Und du hast diesen Mord dreizehn Jahre lang vor uns geheim gehalten«, sagte König Bastien.

»Es war kein Mord«, widersprach Rielle, sie sehnte sich danach, zu sitzen. Ihr Körper war noch wund von den Kämpfen in den Bergen. »Ich wollte meine Mutter nicht töten. Ich war ein Kind und es war ein Unfall.«

»Wir beschäftigen uns hier mit Fakten, nicht mit Absichten. Fakt ist, dass du Marise Dardenne getötet hast und dass du – mit der Hilfe deines Vaters und von Großmagister Belounnon – dreizehn Jahre lang in dieser Sache gelogen hast.«

»Wenn mich jemand gefragt hätte, ob ich meine Mutter getötet habe, und ich es geleugnet hätte«, erwiderte Rielle und sah dem König direkt in die Augen, »dann wäre das eine Lüge gewesen, Eure Majestät. Ein Geheimnis zu wahren ist nicht lügen.«

»Lady Rielle, Spitzfindigkeiten interessieren mich nicht. Du hast verheimlicht, welchen Schaden du anrichten kannst, während du an meinem Tisch gegessen hast und während du mit meinem Sohn und meiner Nichte zur Schule gegangen bist, und hast damit sie und alle anderen um dich herum in Gefahr gebracht. Manche würden eine derartige Täuschung auch als Verrat bezeichnen.«

Verrat. Rielle hielt den Blick auf König Bastien gerichtet und presste die Hände an ihre Schenkel. Falls er ihr Angst hatte einjagen wollen, war ihm das gelungen.

»Und am Tag des Pferderennens«, sagte der König, »hast du nicht nur ein Feuer entfacht, als du diese Männer attackiert hast –«

Zorn wallte in ihr auf. Wenn sie des Verrats für schuldig befunden wurde, dann konnte sie sich diese Strafe genauso gut verdienen. »Als ich Prinz Audric das Leben gerettet habe, meinen Sie.«

Lauteres Murmeln ertönte von der Galerie, doch König Bastien neigte nur den Kopf. Rielle wusste, das war der einzige Dank, den sie dafür bekommen würde, doch es genügte, um ihr ein wenig Mut zu machen.

»Als du diese Männer attackiert hast«, fuhr der König fort, »hast du nicht nur ein Feuer entfacht. Du hast den Erdboden entzweigerissen. Du hast Felsplatten aus den Bergen geschnitten. Einer der überlebenden Reiter hat beschrieben, wie du Sonnenlicht aus der Luft gesammelt hast, einzig und allein mit deinen Händen. Eine andere Reiterin behauptet, du hättest die Attentäter von ihren Pferden geworfen, ohne dass sie irgendwelche Hilfsmittel hätte entdecken können. Obwohl die Attentäter selbst Elementherrscher waren, hast du sie mühelos überwältigt.« Der König sah von seinen Notizen auf. »Stimmt das mit deinen eigenen Erinnerungen überein?«

Dann wussten sie also, was sie getan hatte, und dass sie nicht nur eine einfache Elementherrscherin war. Ihr schmerzte der Kiefer, so fest biss sie die Zähne zusammen. »Ja, Eure Majestät.«

»Dann bist du also nicht nur eine Feuerzeichnerin, sondern auch eine Erderschütterin, eine Sonnenbändigerin und vielleicht auch noch anderes. Ich glaube, du wirst unsere Besorgnis verstehen, wenn wir uns vor Augen führen, was das bedeutet. Kein Mensch, der je gelebt hat, war imstande, mehr als ein Element zu kontrollieren. Nicht einmal die Heiligen.«

Ein winziger Funken Stolz flammte in Rielle auf.

»Lady Rielle«, fuhr er fort, »wenn du bei diesem Rennen in der Nähe eines Gewässers gewesen wärst, hättest du es dann zum Überlaufen gebracht?«

»Es ist unmöglich zu sagen, ob ich das getan hätte oder nicht, Eure Majestät.«

»Hättest du es tun können?«

Eine Überschwemmung. Der jahrelange Unterricht bei Tal hatte ihr nur Ansätze einer solchen Macht gezeigt, und obwohl sie bei Wasser nie so stark gewesen war wie bei Feuer –

Du weißt, dass du es könntest, murmelte die Stimme. Du könntest die ganze Welt überfluten. Diese Macht schlummert unter deiner Haut. Nicht wahr?

Eine verhaltene Freude überkam sie. Wer bist du?, fragte sie die Stimme.

Sie antwortete nicht.

Rielle reckte das Kinn. »Ja, ich glaube, das hätte ich tun können.«

Eine andere Stimme meldete sich. »Hat es dir gefallen?«

Es war eine so absolut scharfsinnige und schreckliche Frage, dass Rielle nicht sofort antwortete. Sie entdeckte den Fragenden – enorm gut aussehend, blond und mit einem elegant geformten Unterkiefer. Lord Dervin Sauvillier. Der Bruder der Königin und Ludivines Vater.

Neben ihm saß, souverän und mit klarem Blick, Ludivine in ihrem zartrosa Kleid, mit Spitzen am Ärmelsaum.

»Lord Sauvillier«, sagte der König streng, »auch wenn ich Ihr Interesse an diesen Ereignissen zu schätzen weiß, habe ich Ihnen nicht die Erlaubnis erteilt zu sprechen.«

Königin Genoveve – mit ihrem rotbraunen Haar und ebenso blass wie ihre Nichte Ludivine – berührte ihren Mann am Arm. »Es ist aber eine vernünftige Frage, wenn wir entscheiden sollen, wie wir am besten weiter verfahren.«

Rielle sah die Königin an und wurde mit einem milden Lächeln belohnt, das sie an Ludivine erinnerte – eine Ludivine, die nicht zusammen mit Audric in den riesigen, sonnendurchfluteten Gemächern von Baingarde aufgewachsen war, sondern in den kalten Fluren von Belbrion, dem Stammsitz des Hauses Sauvillier, der in den Bergen lag.

Königin Genoveves Blick wanderte über Rielle und entfernte sich dann wieder von ihr.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Rielle, »ob ich Lord Sauvilliers Frage ganz verstehe.«

Ludivines Vater sah den König mit respektvoll erhobener Augenbraue an. Der König nickte einmal.

»Nun gut, Lady Rielle«, sagte Dervin Sauvillier, »wenn du mir meine Direktheit verzeihst, dann wüsste ich gern, ob dir das, was du auf der Rennstrecke getan hast, Vergnügen bereitet hat. Ob es dir Vergnügen bereitet hat, die Attentäter zu verletzen.« Er machte eine Pause. »Und deine Mutter zu verletzen.«

»Ob es mir Vergnügen bereitet hat?«, wiederholte Rielle, um Zeit zu schinden.

Natürlich hatte es ihr Vergnügen bereitet. Nicht die Schmerzen, die sie verursacht hatte, und nicht der Tod ihrer armen Mutter.

Doch die Erleichterung, die sie dabei empfunden hatte … Danach sehnte sie sich. Die berauschende Befreiung, die durch jeden Muskel ihres Körpers brauste. Diese verbotenen, strahlenden Momente – beim Training mit Tal, beim Pferderennen –, in denen sie nichts anderes gekannt hatte als ihre Macht und was diese bewirken konnte. Die leuchtende Klarheit der Einsicht, dass dies ihr wahres und ganzes Wesen war.

Manchmal konnte sie nicht schlafen, weil sie das unbedingt wieder fühlen wollte.

»Dein Zögern ist beunruhigend, Lady Rielle«, sagte Lord Sauvillier.

»Die … die Schmerzen, die ich anderen zugefügt habe, haben mir kein Vergnügen bereitet«, antwortete Rielle schleppend. »Dafür empfinde ich nichts als Scham und Reue. Und ich bin sogar entsetzt darüber, dass irgendjemand glauben könnte, es wäre mir ein Vergnügen, einem Lebewesen solche Dinge zuzufügen, ganz zu schweigen von meiner eigenen Mutter. Aber … sagen uns die Lehren unserer Heiligen nicht, dass wir an der Verwendung der Kraft, die Gott uns gegeben hat, auch Freude haben sollen?«

Aus dem Augenwinkel sah Rielle, dass sich der Archon endlich regte und sich leicht nach vorn beugte.

Es war, als hätte Audric auf ein Signal von ihr gewartet, und er enttäuschte sie nicht. »Mylord, darf ich ihre Frage beantworten?«, sagte er zu seinem Vater. König Bastien wirkte nicht erfreut darüber, doch er nickte.

»Die Lehren der Heiligen sagen uns das tatsächlich, Mylady«, erwiderte Audric und sah sie direkt an, als wären sie allein im Raum, »und sie sagen uns auch, dass Macht etwas ist, was Elementherrscher weder leugnen noch ignorieren sollten. Selbst wenn diese Macht gefährlich ist, und vielleicht gerade dann. Und ich weiß ganz besonders, wie wahr das ist.«

Rielle sagte nichts, obwohl sie sich vor Erleichterung wie schwerelos fühlte. Mit diesen Worten hatte Audric ihr gezeigt, dass er sie verstand. Er vergab ihr. Der unerschütterliche Glaube, der aus seinen Augen leuchtete, wärmte sie bis in die Zehenspitzen.

»Bei allem Respekt, Eure Majestät«, sagte Lord Sauvillier, der nun richtig verärgert klang, »wir können diese Frau und die leichtsinnige Zerstörung ihrer Umgebung nicht ernsthaft mit Ihrem Sohn vergleichen, der ausnahmslos über jeden Zweifel erhabene Disziplin bewiesen hat und dessen Kraft kein einziges Mal außer Kontrolle geraten ist.«

Sofort stieg Wut in Rielle auf. »Vielleicht ist die Herausforderung, die ich zu bewältigen habe, ja größer, da ich anscheinend mächtiger bin als unser Prinz.«

Die nun folgende Stille war so groß, dass sie beinahe lebendig wirkte. Lord Sauvillier lehnte sich angewidert zurück, sein Mund war ein wütender Strich. Der König hätte auch aus Stein gemeißelt sein können, wie eine der umstehenden Heiligenstatuen.

Rielle wartete mit pochendem Herzen. Sie hätte gern zu Audric hinübergesehen, verkniff es sich aber.

Endlich ergriff König Bastien wieder das Wort. »Lady Rielle, bist du vertraut mit der Prophezeiung, wie sie vom Engel Aryava verkündet und von Königin Katell übersetzt wurde?«

Natürlich war sie damit vertraut. Jeder war es.

»Ja, Eure Majestät«, antwortete Rielle.

»Die Pforte wird fallen«, zitierte der König. »Die Engel werden zurückkehren und der Welt Verderben bringen. Ihr werdet es erkennen, wenn zwei menschliche Königinnen sich erheben – eine Blutkönigin und eine Lichtkönigin. Eine mit der Macht, die Welt zu retten. Eine mit der Macht, sie zu zerstören. Zwei Königinnen werden sich erheben. Sie werden die Macht der Sieben besitzen. Sie werden euer Schicksal in ihren Händen halten. Zwei Königinnen.«

Der König hielt inne. Im Nachklang der Worte der Prophezeiung schien es im Saal kühl geworden zu sein.

»Die am meisten verbreitete Interpretation besagt«, fuhr König Bastien fort, »dass die Ankunft der zwei Königinnen den Fall der Pforte und die Rache der Engel nach sich ziehen wird. Und dass diese zwei Königinnen imstande sein werden, nicht nur ein Element zu beherrschen, sondern alle.«

Ja, natürlich, und das wusste auch jeder. Auch wenn die meisten Menschen heutzutage nicht viel über die unterschiedlichen Interpretationen nachdachten – falls sie überhaupt einen Gedanken an die Prophezeiung verschwendeten.

Rielle war eine der Ausnahmen. Sie hatte sich oft dabei ertappt, wie sie immer wieder die Worte der Prophezeiung studiert hatte und mit den Fingern über die handgeschriebenen Lettern in Tals Büchern gefahren war:

Eine Königin aus Blut und eine Königin aus Licht. Die Blutkönigin und die Sonnenkönigin, diese Namen hatte man ihnen im Lauf der Jahrhunderte gegeben.

Doch jetzt, nach so vielen Jahren, wirkten sie kaum mehr real. Die Pforte stand fest in den Sunderlands, weit oben im Nordmeer, bewacht und ungestört, während die Engel sicher auf der anderen Seite eingesperrt waren. Königinnen aus einer Prophezeiung hätten ebenso gut Märchenfiguren sein können. Kinder schlugen sich auf die eine oder die andere Seite, stellten zum Spaß Armeen auf und inszenierten auf den Straßen Kriegsspiele.

Die böse Königin gegen die gute Königin. Blut kämpfte gegen Licht.

Bin ich eine von ihnen?, hatte Rielle sich gefragt, obwohl sie nie den Mut aufgebracht hatte, Tal oder ihren Vater geradeheraus danach zu fragen. Und … welche?

»Weißt du, Lady Rielle«, sagte der König, »meine Aufgabe ist es nicht, zu entscheiden, ob das, was du getan hast, ein Verbrechen ist, und ob – oder wie – du bestraft werden sollst. Es sieht so aus, als wärst du weder Feuerzeichnerin noch Sonnenbändigerin noch Erderschütterin, sondern alles auf einmal und noch mehr, was etwas noch nie Dagewesenes darstellt. Du hast Magie gewirkt, die mächtiger ist, als sie in einem halben Zeitalter jemals aufgetreten ist, obwohl du dreizehn Jahre lang darin unterwiesen wurdest, deine Fähigkeiten zu unterdrücken, in der Hoffnung, dass sie dadurch verschwinden. Und du hast es ohne die Hilfe einer Urform getan, was nicht einmal die Heiligen auf dem Gipfel ihres Ruhmes vermochten.«

»Meine heilige Pflicht«, sagte der König mit ernster Miene, »ist es, zu bestimmen, was genau du bist. Ich muss entscheiden, ob du eine dieser Königinnen bist – und wenn ja, welche.«

Rielle vernahm die unausgesprochenen Worte deutlich: Und was das für dich bedeutet.

Sie ballte die Fäuste in ihren Röcken und machte einen Knicks vor dem König. Der Schatten von Königin Katell fiel wie ein Schwert über ihren Nacken.

Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1)

Подняться наверх