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3 RIELLE

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»Nach der Abspaltung der Sunderlands kehrten die Sieben zum Festland zurück und fanden immer noch keine Ruhe. Ihr Volk führte schon seit Jahrzehnten Krieg, und sie sehnten sich nach einem sicheren Ort, den sie als ihr Zuhause betrachten konnten. Und so begannen die Heiligen, mit ihren Kräften in Katells Heimatland ein Paradies aus den hohen Bergen zu erschaffen. Dieser Zufluchtsort war durch hohe Gipfel geschützt und mit grünen Wäldern und Ackerland gesegnet. Er wurde Âme de la Terre getauft und zur Hauptstadt von Celdaria bestimmt. Sie erbauten die Stadt der Königin in den Ausläufern der höchsten Berge und umgaben sie mit einem kristallklaren See, der aussah, als hätte man ihn aus dem blanken Himmel ausgeschnitten.«

Eine kurze Geschichte des Zweiten Zeitalters, Band I: Die Nachwirkungen der Engelskriege von Daniel Riveret und Jeannette d’Archambeau aus der Ersten Gelehrtengilde

An der Startlinie herrschte Chaos.

Einige Reiter traten im Namen der Kirchentempel an. Die vom Tempel des Feuers, von Tals Tempel, trugen Scharlachrot und Gold. Schwarz und Tiefblau stand für das Haus der Nacht, den Tempel der Schattenwerfer und Tals Schwester Sloane. Und die Reiter der Burg, vom Tempel der Erderschütterer, waren in Umbra und Hellgrün gekleidet.

Auch die großen Häuser Celdarias hatten ihre Vertreter geschickt. Rielle passierte Reiter in Violett und Salbeigrün für das Haus Riveret und rotbraune und stahlgraue Reiter für das Haus Sauvillier. Manche kamen sogar aus den weit entfernten Königreichen Ventera und Astavar, die jenseits des Großen Ozeans lagen.

Viele Reiter waren wie Rielle von Kaufleuten engagiert worden, die auf das Preisgeld erpicht waren – doch keiner von ihnen war so reich wie Rielles Gönner Odo Laroche.

Und keiner genoss wie sie das Privileg, mit den besten Rittmeistern des Königs trainieren zu dürfen, seit sie alt genug war, um im Sattel zu sitzen.

Schmunzelnd führte Rielle ihre Stute am Gewirr der auf Stelzen gebauten Zuschauerlogen vorüber. Ihr klangen die Ohren von dem Lärm – Wettlustige, die ihre Einsätze brüllten, Kinder, die durch die Menge flitzten und vor Freude kreischten. Der Rauch von den Marktständen, wo es Brote mit Schweinebraten und schwarz verbrannte Geflügelspieße gab, brannte ihr in den Augen.

Endlich erreichte sie das für Odos Reiter reservierte Zelt. Das Kleid, das sie trug, war eines ihrer liebsten – waldgrün wie ihre Augen, mit glitzernden Rebenmustern am Saum und einem tiefen Ausschnitt, der ihre Schlüsselbeine offenbarte. Doch in dieser Mittagssonne hätte sie es sich am liebsten vom Leib gerissen. Sie ließ ihr Pferd bei den bezahlten Schwertträgern, die den Eingang bewachten, schlüpfte zum Umziehen hinein – und erstarrte.

Audric war bereits da, bekleidet nur mit Reithosen und Stiefeln. Sein feiner smaragdgrüner Rock und seine bestickte Jacke hingen ordentlich an einem Stuhlrücken. In den Händen hielt er ein schlichtes Reithemd aus Leinen.

Er grinste sie an. »Du hast dir ja reichlich Zeit gelassen«, sagte er und warf ihr eines ihrer Hemden zu.

Sie fing es gerade noch auf. »Der Andrang ist größer, als ich erwartet hätte«, erwiderte sie. Ihre Kehle war auf einmal trocken und es erstaunte sie, dass sie überhaupt ein Wort herausbrachte.

Es war lange her, dass sie den Prinzen ihres Königreichs so leicht bekleidet gesehen hatte.

In ihrer gemeinsamen Kindheit hatte es überhaupt nichts bedeutet. Sie hatte stundenlang mit ihm und Ludivine in den Gärten hinter dem Schloss gespielt. Sie waren zusammen im See vor der Stadt geschwommen und hatten im Tempel der Bäder am Gottesdienst teilgenommen.

Doch das war früher gewesen.

Vor Audrics und Ludivines Verlobung, einem Abkommen, dass die Häuser Courverie und Sauvillier noch enger miteinander verband. Bevor Audric sich von ihrem schüchternen, schlaksigen Freund in Prinz Audric den Lichtbringer verwandelt hatte, den mächtigsten Sonnenbändiger der letzten Jahrhunderte.

Bevor Rielle begriffen hatte, dass sie Audric liebte. Und dass er ihr nie gehören würde.

Sie genoss seinen Anblick – die sehnigen Muskeln an seinen Armen, seine breite Brust, die schmale Taille. Er war weder so dunkel wie sein Vater noch so bleich wie seine Mutter, die Königin. Dunkelbraune, hitzefeuchte Locken umrahmten sein Gesicht. Sprenkel von Sonnenlicht drangen durch den Netzstoff des Zelts und ließen seine Haut strahlen.

Als er zu ihr aufsah, errötete sie unter der Wärme seines Blicks. »Ist mit Lu alles in Ordnung?«, fragte er.

»Bestimmt genießt sie die Aufmerksamkeit. Und was ist mit deiner Mutter?«

»Ich habe ihr gesagt, ich würde mich um Lu kümmern, und sie soll nur ganz beruhigt sein und das Rennen genießen.« Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Sie hält mich für einen gehorsamen Sohn …«

»Und stattdessen schleichst du dich davon und riskierst Leib und Leben.« Rielle warf ihm ein verschmitztes Grinsen zu. »Deine Lüge war eine gute Tat. Sie wäre außer sich, wenn sie wüsste, wo du wirklich bist.«

Audric lachte. »Mutter kann gelegentlich einen Schrecken vertragen. Sonst wird ihr langweilig, und wenn ihr langweilig wird, fängt sie an, sich einzumischen, und wenn sie sich einmischt, fängt sie an, Lu und mich unter Druck zu setzen.«

Was den Termin unserer Heirat betrifft. Die unausgesprochenen Worte hingen in der Luft, und Rielle konnte ihm nicht länger in die Augen sehen.

Sie trat hinter den Wandschirm, den Odo bereitgestellt hatte, öffnete ihr Kleid und zog es aus. Nur noch im Unterkleid, griff sie nach der Hose, die Audric ihr zuwarf.

»Wenn ich es nicht besser wüsste«, sagte sie, indem sie einen lockeren Ton beibehielt, »würde ich sagen, du klingst ganz schön rebellisch. Dabei dachte ich immer, du wärst keiner, der gegen die Regeln verstößt.«

Er lachte erneut. »Du bringst mich dazu.«

Allmählich dämmerte ihr, dass das hier eine schlechte Idee gewesen war. Sie hätte Odo um ein separates Zelt bitten sollen. Sich anderthalb Meter von Audric entfernt umzuziehen, war genau die Art von prickelndem Wahnsinn, auf den sie nicht vorbereitet war.

Guter Gott, jetzt hörte sie, wie der Stoff der Reittunika über seinen Oberkörper glitt. Ja, sie konnte es beinahe spüren, als stünde er direkt neben ihr, zöge ihr das Gewand über den Kopf und befreite sie von der letzten verbliebenen Barriere zwischen ihnen.

Während sie sich mühsam in ihre eigene schwarze Tunika zwängte und sich und ihre lästige lebhafte Fantasie verfluchte, blieb sie mit dem Arm in dem reich bestickten Kragen stecken.

»Rielle?«, hörte sie Audrics Stimme. »Beeil dich, sie kündigen schon die Reiter an.«

Verdammt, verdammt, verdammt. Rielle wand sich verzweifelt und zerrte an ihrem Hemd.

Auf der anderen Seite des Wandschirms öffnete sich die Zeltklappe. »Das Rennen beginnt, und meine zwei Reiter sind nirgends zu entdecken«, ertönte Odos sonorer Bariton mit einem Hauch von Verärgerung. »Darf ich euch daran erinnern, dass ich ein hübsches Sümmchen auf euch beide gesetzt habe, ganz zu schweigen von meinem eigenen Kopf, falls einer von euch dumm genug sein sollte, sich erkennen zu geben? Oder schlimmer noch, sich den Hals zu brechen.«

»Wir sind gleich da«, rief Rielle. »Habe ich dir je einen Grund gegeben, an mir zu zweifeln?«

»Ehrlich gesagt, des Öfteren«, versetzte Odo. Dann hielt er inne. »Soll ich dir die einzelnen Male aufzählen?«

»Einen Moment noch, Odo«, rief Audric mit einem Lachen in der Stimme.

Die Zeltklappe schloss sich.

»Kann ich rüberkommen?«, fragte Audric.

»Ja, aber … ach, warte mal.« Mit einer ruckartigen Bewegung konnte Rielle sich befreien. Sie zerrte die Tunika nach unten und machte sich an den goldenen Bändern am Hals zu schaffen. »Ja, in Ordnung, jetzt bin ich angezogen.«

Audric ging um den Wandschirm herum, ihre lederne Reitjacke und die Kappe in der Hand. »Wenn wir uns jetzt in dieses lebensgefährliche Rennen stürzen – könnte es sein, dass du die Verzagte bist?«

»Dabei warst du doch derjenige, der so oft versucht hat, sich aus der Sache rauszuwinden.« Rielle riss ihm die Kappe aus der Hand. »Und der in seinem ganzen Leben noch gegen keine einzige Regel verstoßen hat.«

»Aber für mein erstes Aufbegehren ist es doch nicht schlecht, findest du nicht auch?« Er trat näher, um ihr dabei zu helfen, die Spange der Tunika zwischen ihren Schultern zu schließen. Seine Finger streiften ihren Nacken. »Ich meine, ich hätte meine rebellische Phase auch mit etwas Einfacherem beginnen können. Morgens zu spät zum Hof kommen, meine Gebete ausfallen lassen oder mit einer Dienstmagd ins Bett gehen …«

Sie prustete vor Lachen los. Es klang schriller, als ihr lieb war. »Du? Mit einer Dienstmagd? Du hast doch keine Ahnung davon, wie man eine Frau umgarnt.«

»Meinst du.«

»Ich glaube nicht.«

»Bin ich in deinen Augen ein hoffnungsloser Fall?«

»Fürs Erste müsstest du mal gelegentlich deine Bücher beiseitelegen.«

»Lady Rielle«, entgegnete er in spöttischem Tonfall, »möchtest du mir etwa anbieten, mich in der Kunst zu unterweisen, wie man eine Frau verführt?«

Beklommenes Schweigen machte sich breit. Rielle spürte, wie sich Audric hinter ihr verspannte. Die Röte stieg ihr in die Wangen. Warum hatte sie sich ausgerechnet in ein solches Gespräch verwickeln lassen? Sie hatte keine Ahnung davon, wie man jemanden umgarnte.

Dafür hatte ihr Vater gesorgt.

Einmal, mit dreizehn, war Rielle nach Hause gekommen, nachdem sie dem fünfzehnjährigen Audric dabei zugesehen hatte, wie er sich im Kasernenhof in der Schwertkunst geübt hatte. Sie war so aufgekratzt gewesen, dass sie fast aus der Haut geplatzt wäre.

Ihr Vater und seine Leutnants hatten Audric an diesem Tag viele Übungen durchexerzieren lassen. Magistra Guillory hatte daneben gesessen und Ratschläge erteilt, wann immer sie es für angebracht hielt. Als Großmagistra vom Haus des Lichts überwachte die grimmige alte Frau Audrics Ausbildung zum Sonnenbändiger schon seit Jahren. Sie und Rielles Vater hatten Audric geholfen, den manchmal überwältigenden Ansturm seiner Macht in die verlässlichere körperliche Arbeit mit dem Schwert umzulenken.

Rielle hatte Audric schon oft beim Training zugesehen, doch dieses Mal war es anders gewesen. Er war ihr danach nicht mehr aus dem Kopf gegangen – wie er sich im Nachmittagslicht bewegt hatte, jeder Schritt sicher und gezielt, die Stirn konzentriert in Falten gelegt, während sein Schwert Sonnenblitze über seine Haut warf. An diesem Abend hatte sie ihrem Vater nach dem Essen sein gewohntes Getränk gebracht und war so aufgewühlt gewesen, dass sie den Becher fallen ließ.

Ihr Vater hob eine Braue hoch. »Du bist heute nicht du selbst.«

Sie hatte nichts erwidert, da sie nicht wusste, was sie sagen sollte.

»Ich habe dich heute im Hof beobachtet«, bemerkte ihr Vater milde. »Du kommst in letzter Zeit oft vorbei.«

Rielle bückte sich, um die verschüttete Flüssigkeit aufzuwischen, das Gesicht hinter ihren Haaren verborgen.

Dann zog ihr Vater sie in die Höhe, so unsanft, dass er sie am Handgelenk verletzte.

»Ich weiß, was du denkst«, hatte er gesagt, »und ich verbiete es dir. Du könntest eines Tages die Kontrolle verlieren und ihm wehtun. Er besitzt eine seltene Gabe, verstehst du? Die stärkste Kraft, die jemand seit einem halben Zeitalter besessen hat. Es ist wichtig für das Reich, dafür zu sorgen, dass er sie zu beherrschen lernt, und nicht umgekehrt. Es hätte Audric gerade noch gefehlt, dass jemand wie du um ihn herumschwirrt.«

Rielles Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. »Jemand wie ich?«

Ihr Vater hatte sie ungerührt losgelassen. »Eine Mörderin.«

Danach hatte Lord Kommandant Dardenne seiner Tochter nicht mehr erlaubt, Audrics Training beizuwohnen.

Bis jetzt hatte Rielle mit ihren achtzehn Jahren noch niemanden geküsst, ja sie war einem Kuss noch nicht einmal nahegekommen. Sie hatte es sich natürlich schon ausgemalt, und zwar oft. Sie wusste, dass sie schön war – nicht im üblichen Sinn, doch auf eine Art, die die Leute zum Hinsehen brachte, und zwar zum genauen Hinsehen. Umwerfend war das Wort, das Ludivine oft benutzte, oder atemberaubend.

Ihr Vater hatte sich nur einmal zu ihrem Aussehen geäußert: »Du hast das Gesicht einer Lügnerin. Ich sehe sämtliche Intrigen der Welt in deinen Augen.«

Trotzdem pflegte Rielle ihre Schönheit, so gut sie konnte. Sie trug die ungewöhnlichsten Kleider, die sie sich erlauben konnte – auffallend und beinahe freizügig, aus exotischen Stoffen genäht, die Ludivine heimlich für sie bestellte und in denen Rielle wie ein Pfau unter Tauben am Hof hervorstach. Jedes Mal, wenn sie sich in einem solchen Kleidungsstück zu zeigen wagte, spürte sie die gierigen Blicke auf sich und ihre eigene heimliche Begierde, die sich heiß und stürmisch in ihrem Bauch aufbäumte.

Doch schon damals lagen die Worte ihres Vaters um ihren Hals wie ein Dornenjoch und sie unterdrückte sämtliche Gelüste.

Außerdem wollte sie nicht einfach irgendjemanden, zumindest nicht so sehr, dass sie das Risiko eingegangen wäre.

Und so hielt sie sich zurück, während sich ihre Entbehrungen in wilden und schlüpfrigen Träumen niederschlugen, manchmal von Audric, manchmal von Ludivine oder Tal – vor allem aber von Audric. Nach solchen Nächten, in denen der Traum-Audric sie zu sich ins Bett gezogen hatte, waren die Spiegel in ihrem Zimmer beim Aufwachen zerbrochen und ausgelöschte Kerzen hatten sich erneut entzündet und flackerten heftig.

Ihr Vater täuschte sich nicht: Rielle barg eine Gefahr, etwas Unberechenbares. Das durfte sie nicht in das Bett eines anderen Menschen tragen.

Erst recht nicht in das Bett von jemandem, der ihrer Freundin versprochen war.

Rielle beging den Fehler, sich über die Schulter nach Audric umzusehen, und sein dunkler Blick verfing sich kurz in ihrem, ehe sie sich beide abwandten.

»Wir müssen gehen«, sagte sie und riss ihm ihre Jacke aus den Händen. Sie stopfte sich die Haare unter die Reitkappe und ging hinaus, um aufs Pferd zu steigen. Dann drapierte sie den Schleier ihrer Kappe über Gesicht und Hals und steckte sich die Enden in den Kragen. Als sich Audric in seiner eigenen Schutzkleidung zu ihr gesellte, sprachen sie kein Wort mehr, und sie war froh darüber.

Das Rennen würde ihr nicht gewogen sein, wenn sie sich weiterhin ablenken ließ.


Gemeinsam folgten sie den anderen Reitern zur Startlinie.

Audric saß auf einem von Odos Pferden, einer celdarischen Fuchsstute aus dem südlichen Flussland. Rielles Reittier, das ebenfalls aus Odos Ställen stammte, war kleiner – eine graue kirvayanische Stute namens Maliya, die ihren geschmückten Schweif hoch trug.

Rielle nahm ihren Platz an der Startlinie ein, fünf Positionen links von Audric und zwei hinter ihm. Hoch über ihnen kündigte der Ausrufer jeden Reiter durch einen kleinen runden, in der Schmiede gefertigten Verstärker an.

Als Rielle ihren falschen Namen vernahm, winkte sie der Menge zu und erntete großzügigen Applaus. Auch wenn ihre und Audrics Schein-Identität den Leuten nichts sagte, hatte doch der Name ihres Gönners, des reichen Kaufmanns Odo Laroche, dem die Hälfte der Geschäfte in der Stadt gehörte, enormes Gewicht.

Hoch oben nahm König Bastien seinen Platz vor dem Verstärker ein, um einleitende Worte zu sprechen.

»Zur Feier eines weiteren Friedensjahres in unserem Königreich«, dröhnte die Stimme des Königs, »und in der Hoffnung auf eine gute Ernte – und ein fröhliches Fest – und um Gott zu danken, der Celdaria mit solchen Gaben gesegnet hat, heiße ich euch alle zum diesjährigen Boon-Chase-Pferderennen willkommen!«

König Bastien kehrte an seinen Platz zurück und die Trommler begannen. Die Reihen der Reiter gerieten in Bewegung und die Luft prickelte auf Rielles Haut.

Die Rennherolde bliesen in ihre Hörner. Einmal. Zweimal.

Rielle schlang die behandschuhten Finger um Maliyas Zügel, ihr Körper bebte vor Spannung.

Die letzten Reiter nahmen ihre Plätze ein – zwölf maskierte Schiedsrichter in den königlichen Farben Pflaumenblau, Smaragdgrün und Gold. Sie würden das Rennen mitreiten und auf Regelwidrigkeiten achten.

Die Trommelschläge wurden schneller, genau wie Rielles pochendes Herz.

Die Herolde bliesen zum dritten Mal in ihre Hörner.

Begleitet von einem ohrenbetäubenden Schrei der Menge stürmten die Reiter los, hinaus in das weite, mit Gras bewachsene Tiefland direkt vor den Stadttoren.

Das Rennen hatte begonnen.


Die ersten Minuten waren eine blinde Raserei aus Geräuschen und Farben. Die Hufe von fünf Dutzend Pferden wirbelten dichte Staubwolken auf.

Rechts von Rielle riss ein Mann mit einer metallenen Schutzspange über den Zähnen einen mit Eisenspitzen versehenen Handschuh heraus und stieß mit einem einzigen Hieb seines kräftigen Arms einen anderen Reiter vom Pferd. Die übrigen Reiter trampelten über ihn hinweg und übertönten seine Schreie. Sein Pferd trottete mit herabhängenden Zügeln von der Rennstrecke.

Rielle trieb Maliya an und sah sich aufgeregt um. Ein Schiedsrichter hätte den Mann für seine Tat disqualifizieren müssen. Doch in dem Staubwirbel konnte sie die Farben der Schiedsleute nirgends erkennen. Es schien, als wären sie verschwunden.

Sie durchquerte die flache Ebene und lenkte Maliya durch ein Meer aus rempelnden Ellbogen und fliegenden Peitschen, aus Reitern, die ihre Tiere lautstark anspornten und in den verschiedensten Sprachen Drohungen brüllten. An den Ausläufern des Mount Taléa angelangt, verlangsamte sie ihren Ritt und lenkte Maliya den steilen Anstieg durch den Wald hinauf. Zwischen den Bäumen sah sie vor sich vertraute Farben aufblitzen. Schwarz und Gold. Odos Farben.

Audric.

Sie duckte sich auf Maliyas Hals, trieb die Stute die Anhöhe hinauf und verließ den Wald vor dem ersten Bergpass. Ein breiter Streifen Gras wogte vor ihr im Wind. Zu beiden Seiten ragten Felswände auf.

Rielle wurde leicht ums Herz. Sie murmelte die kirvayanischen Worte, auf die ihre Stute reagieren würde, wie Odo ihr versichert hatte: »Reite auf dem Wind, Falke meines Blutes, Schwingen meines Herzens!«

Maliya stürmte los.

Der Wind pfiff an ihnen vorüber und presste Tränen aus Rielles Augen. Sie schloss zu Audric auf und jubelte triumphierend.

Er blickte zu ihr hinüber und sein Tuch fiel herab. Als er sie angrinste, machte ihr Herz einen Satz. Trotz der Gefährlichkeit des Rennens wünschte sie sich, sie könnten hier draußen bleiben – fern vom Hof, fern von allen anderen –, für immer.

Sekunden später bog Audric ab und schlug den kürzesten Weg um den Berg ein. Seine celdarische Stute war für solche steilen, steinigen Wege wie geschaffen.

Doch Maliya war für Tempo gut geeignet. Rielle trieb sie weiter über den Pass und Maliya gehorchte. Der Wind heulte in Rielles Ohren. Sie konnte kaum ihren eigenen Atem hören. Die Umrisse der anderen Reiter, die sich über den Pass verteilten, waren nur vage Farbtupfer. Sie schlossen allmählich zu ihr auf.

Rielle lenkte Maliya nach rechts, auf einen schmalen Felsenpfad. Nicht ihre erste Wahl, doch dadurch würde sie Zeit gutmachen. Sie schärfte sich ein, nicht hinzuschauen, und konnte es sich doch nicht verkneifen, über die Kante in den Abgrund zu spähen. Es schüttelte sie vor Grauen, und ihr Blickfeld kippte. Eine falsche Gewichtsverlagerung, ein Fehltritt ihres Pferdes, und sie würde dem sicheren Tod entgegenstürzen.

Hinter ihr erklang das Klappern von Hufen auf Stein. Als der Weg breiter wurde und zu den bewaldeten Gebirgsausläufern hin abfiel, wandte sie sich um.

Ein Reiter raste an ihr vorbei, dann drei weitere, so nah, dass sie ihren Schweiß roch. Hinter ihnen rammte ein Reiter sein Pferd gegen die Flanke eines anderen und stieß Pferd und Reiter in den Abgrund, den Rielle soeben passiert hatte. Das fallende Pferd stieß einen entsetzlichen Schrei aus, ehe es verstummte.

Mit klopfendem Herzen wandte Rielle sich ab. Ihre Augen brannten von der staubgeschwängerten Luft. Sie verließ den Wald kurz vor dem Weg zum zweiten Pass, der sie um den Mount Taléa herum und wieder in die Stadt führen würde.

Dort entdeckte sie schließlich die Schiedsrichter: sieben an der Zahl, ein Stück von ihr entfernt. Sie hatten die Masken abgelegt und ließen ihre blonden Zöpfe fliegen. Dabei stießen sie schrille Kriegsrufe aus, die Rielle aufgrund eines von Audrics endlosen Vorträgen über Borsvall auf der Stelle erkannte.

Immer dichter drängten sie sich um den Reiter, der ihnen am nächsten war – einen Mann in Schwarz und Gold, dessen Kappe und Tuch heruntergefallen waren, sodass ihm der Wind durch die dunklen Locken wehte.

Die ganze Welt zog sich zu diesem einzigen schrecklichen Moment zusammen. Das Entsetzen sog die Luft aus Rielles Lungen.

Die Schiedsrichter, wer auch immer sie sein mochten, waren keine Soldaten ihres Vaters. Sie kamen aus Borsvall.

Und nun umringten sie Audric, die Schwerter zum Töten erhoben.

Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1)

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