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4 ELIANA

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»Als aber die Streitkräfte des Imperiums nach Orline, in die Hauptstadt von Ventera, kamen, wurden sie von einem strahlenden Licht geblendet. Es war die Sonnenkönigin, funkelnd und rachsüchtig. Mit König Maximilian an ihrer Seite führte sie den Angriff an, und in jedem, den sie berührte, erwachte eine längst vergessene Magie. Auf einmal waren sie wieder Sonnenbändiger, Feuerzeichner und Erderschütterer. Der Fluss war an diesem Morgen rot vor Blut, dem Blut des Imperiums.«

Der Siegeszug der Sonnenkönigin (Eine alternative Geschichtsschreibung des Königreichs von Ventera)

So aufgezeichnet im Tagebuch von Remy Ferracora

14. Juni im Jahr 1018 des Dritten Zeitalters

Nach den Hinrichtungen begleitete Eliana Harkan in seine winzige Wohnung, die im Dachgeschoss des Gebäudes neben ihrem Zuhause lag.

»El?«, sagte er leise, als sie gehen wollte.

Sie zögerte. Wenn sie blieb, würde sie das Bett mit ihm teilen, so wie sie es häufig taten. Seine Berührungen wären ihre Absolution – seine starken braunen Arme, die sanfte Art, wie er sie danach festhielt und ihr über die Haare strich. So würde sie für kurze Zeit vergessen, wer sie war und was sie getan hatte.

Aber danach würde Harkan reden wollen. Er würde ihr in die Augen blicken und nach dem Mädchen suchen, das sie einmal gewesen war.

Die Vorstellung erschöpfte sie.

»Bitte, El«, sagte Harkan gepresst. »Ich brauche dich.«

Er konnte sie kaum ansehen. War es ihm peinlich, dass er nicht allein sein wollte? Oder schämte er sich, weil er sich nach der Berührung eines Monsters sehnte?

Unwillkürlich tauchte eine Erinnerung auf: das trotzige, tränenüberströmte Gesicht des Jungen, kurz bevor das Schwert des Scharfrichters niedersauste.

Eliana zog sich der Magen zusammen. Sie drückte Harkans Hand. »In Ordnung, aber ich möchte nur schlafen.«

»Ich auch«, erwiderte er sanft.

Durch das Terrassenfenster kletterten sie in sein kleines Zimmer, überall lagen zerknitterte Kleider herum. Der Rest seiner Wohnung war einsam und verschlossen. Seit dem Tag vor zehn Jahren, als das Imperium einmarschiert war und seine Mutter und sein älterer Bruder an der Mauer starben, hatte Harkan keine ihrer Sachen berührt, sich nicht auf die Möbel gesetzt, auf denen sie gesessen hatten, oder die Pfannen und Töpfe seiner Mutter benutzt. Die Wohnung der Familie war wie ein Grab, und Eliana setzte keinen Fuß hinein, sonst würde sie womöglich noch einen Geist einatmen.

Doch Harkans Schlafzimmer war ein vertrauter Ort, wenn auch unordentlich. Im Laufe der Jahre hatte Eliana dort mindestens so viele Nächte verbracht wie in ihrem eigenen.

Sie legte sich auf sein Bett und wartete. Er zog die Vorhänge fest zu, ließ das Fenster aber offen. Dann zündete er die vier Stumpenkerzen an, die immer auf dem kleinen Tisch standen – für jedes Mitglied seiner verstorbenen Familie eine. Nachdem er sein Hemd und seine Stiefel ausgezogen hatte, legte er sich neben sie und zog sie in die warme Geborgenheit seiner Arme.

»Danke«, murmelte er an ihre Wange.

Sie lächelte und schmiegte sich enger an. »Wenn ich mit dir zusammen bin, komme ich besser zu Ruhe.«

Er lachte leise. Dann wurde es still. Unruhig spielte er mit ihren Zöpfen. »Eines Tages werden wir genug Geld haben, um diesen Ort zu verlassen.«

Eliana schloss die Augen. Das war der Anfang von Harkans Lieblingsgeschichte, er hatte sie schon unzählige Male erzählt. Sie brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass sie es nicht ertrug, sie noch ein weiteres Mal zu hören, nicht heute. Als sie noch jung gewesen waren und es nicht besser wussten, war die Geschichte tröstlich gewesen, jetzt aber war sie nur überflüssig und grausam.

Also wartete sie, bis sie sich so weit unter Kontrolle hatte, dass sie ihn nicht anbrüllte, und fragte, was sie immer fragte: »Wohin würden wir dann gehen?«

»Nach Norden über das Schmale Meer nach Astavar.«

Astavar. Eliana hatte sich oft vorgestellt, wie es dort wohl war – weiße Bergkuppen, üppig grüne Täler, eine Welt aus Schnee und Eis und der Nachthimmel voller bunter, sich windender Lichtbänder.

Im Augenblick war es nur ein Ort auf der Landkarte. Venteras nördlichster Nachbar und das letzte freie Land auf der Welt.

»Nach Astavar kommt keiner rein und von dort kommt auch keiner raus«, entgegnete Eliana und fiel damit in ihre eingeübte Routine aus Für und Wider.

»Wir suchen uns einen Schleuser«, fuhr Harkan fort. »Einen guten. Wir bezahlen, was immer er verlangt.«

»Auch Astavar wird eines Tages fallen. Dem Imperium widersetzt sich niemand. Sieh dir an, wie es uns ergangen ist.«

»Vielleicht. Aber bis dahin könnten wir dort ein paar Jahre in Frieden leben. Du, ich, deine Mutter, Remy.« Er drückte ihre Hand. »Eine richtige Familie.«

Genau wie die, die Eliana erst vor wenigen Stunden zerstört hatte. Mit einem Mal fiel ihr das Schlucken schwer. Mit einem Mal brannten ihre Augen und liefen fast über.

Verdammt. Das hatte man davon, wenn man eine gute Freundin sein wollte.

»Ich weiß nicht, ob ich das hinbekäme. Ist zu anständig«, neckte sie ihn. Was aber nicht einmal in ihren eigenen Ohren überzeugend klang.

»Denk darüber nach, El.« Harkan malte mit dem Daumen Kreise in ihre Armebeuge. »Das Meer ist nicht groß. Wir könnten in einer Stunde in Astavar sein, maximal zwei. Und dann suchen wir uns ein kleines, ruhiges Fleckchen, vielleicht an einem See. Ich könnte Gemüse anbauen. Remy könnte backen. Deine Mutter könnte weiter Sachen reparieren. Und du –«

»Und ich?« Eliana setzte sich auf. Sie wollte dieses Spiel nicht länger weiterspielen. »Wenn wir wirklich an den Truppen des Imperiums an unserer Grenze vorbeikämen und einen Schleuser fänden, der uns nicht an das Imperium verrät, und wenn wir die Astavaris überzeugen könnten, uns über ihre Grenze zu lassen … Wenn uns das wirklich alles gelänge, mit Geld, das wir nicht haben, was sollte ich dann deiner Meinung nach in diesem Wunschtraum tun?«

Harkan ignorierte den scharfen Unterton in ihrer Stimme. Er küsste ihr Handgelenk. »Was du willst. Du kannst Wild jagen gehen. Ich kann dir beibringen, wie man Tomaten zieht. Du könntest sogar einen Strohhut aufsetzen.« Er drückte seine Lippen auf ihre Schulter. »Den Hut könntest du aber auch weglassen. Allerdings träume ich schon so lange davon, dass es mir womöglich das Herz brechen würde, wenn du ihn nicht trägst.«

»Das wird nicht funktionieren«, sagte sie schließlich.

»Der Hut?« Harkan blickte sie sanft an. »Ganz im Gegenteil, ich glaube, er würde dir sehr gut stehen.«

In diesem Moment hasste sie ihn fast so sehr wie sich selbst.

Sie wich von ihm zurück, zog sich ihr Hemd über den Kopf und drückte seine Handgelenke sachte ins Kissen.

»In deiner Traumwelt gibt es keinen Platz für ein Mädchen wie mich, mein Schatz«, erklärte sie und lächelte zurückhaltend. »Schon vergessen? Ich weiß nur, wie man tötet.«

»Und das hier«, sagte Harkan, seine Augen waren dunkel und seine Stimme gedämpft.

»Und das hier«, stimmte sie zu und küsste ihn so heftig, dass er nichts mehr sagen konnte.


An diesem Abend kam sie erst bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause, um das Abendessen zuzubereiten.

»Liebste Mutter!« Sie gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange.

»Was war los heute?«, fragte Rozen Ferracora. Sie saß an ihrem Tisch, auf der abgenutzten Holzplatte lagen Teile ihrer letzten Arbeit. Schrauben und Muttern. Nägel und Messer. »Ich habe von dem Jungen gehört, und von Quill.«

»Oh, hast du das?« Eliana zuckte mit den Schultern und fing an Karotten zu schneiden. Sie spürte, wie ihre Mutter sie beobachtete, und schnitt schneller. »Tja. Was hast du erwartet? Wieder einer dieser glorreichen Tage des ruhmreichen Königreichs von Ventera.«

Später gesellte sich Remy zu ihnen. Er setzte sich an den Tisch und sah Eliana dabei zu, wie sie den Abendbrottisch deckte – ein Laib frisches Brot, Gemüseeintopf, ein Stück Hartkäse –, alles von bester Qualität, frisch gekauft im Gartenviertel.

Eliana waren ihr hübsches kleines Zuhause, ihr Lebensmittelvorrat und der einigermaßen sichere Stadtteil, in dem sie lebten, noch nie so bewusst geworden wie heute.

Alles mit dem Blut an ihren Händen erkauft.

Sie füllte die Schüssel ihrer Mutter und stellte sie schwungvoll vor sie hin.

Remy durchbrach mit zitternder Stimme das Schweigen. Seine Augen glänzten vor zurückgehaltenen Tränen. »Du bist ein Feigling.«

Eliana hatte das erwartet. Doch die Schärfe in seiner Stimme war wie ein Schlag in die Magengrube und sie ließ beinahe den Teller fallen.

»Hör auf, Remy«, wies Rozen ihn zurecht.

»Ich hab gehört, dass heute ein Kind hingerichtet wurde, und dieser Rebell Quill, der die Leute aus der Stadt schleust.«

Eliana schnürte es die Kehle zu. So einen Gesichtsausdruck hatte sie noch nie an Remy gesehen – als würde er sie nicht mehr erkennen und wollte es auch gar nicht.

Genüsslich biss sie ein Stück Brot ab. »Alles wahr!«

»Das ist deine Schuld«, flüsterte er.

»Was ist meine Schuld?«

»Du hast sie umgebracht.«

Eliana schluckte, kippte einen Schluck Wasser hinterher und wischte sich über den Mund. »Wie oft habe ich das jetzt schon erklärt? Meine Feigheit hält uns satt und warm und am Leben. Also, mein liebster Bruder, wenn du nicht verhungern willst …«

Remy schob seinen Teller von sich. »Ich hasse dich.«

Rozen saß starr auf ihrem Stuhl. »Tust du nicht. Sag so was nicht.«

»Er soll mich ruhig hassen.« Eliana schaute kurz zu Remy und dann schnell wieder weg. Er kannte ihren weichen Kern, diese leere Stelle, die sonst niemand zu Gesicht bekam. Seine Worte hatten gesessen. »Wenn er dadurch heute Nacht besser schlafen kann, soll er mich ruhig bis ans Ende aller Tage hassen.«

Remys Blick huschte zu ihrem Hals, wo die Halskette hing. Jetzt schaute er noch finsterer drein.

»Du trägst König Audric den Lichtbringer um deinen Hals, aber das verdienst du gar nicht.« Seine Augen wanderten wieder zurück zu ihrem Gesicht. »Wenn die Blutkönigin ihn nicht umgebracht hätte, würde er sich jetzt für dich schämen. Er würde sich für jeden schämen, der dem Imperium hilft.«

»Wenn die Blutkönigin ihn nicht umgebracht hätte«, erklärte Eliana ruhig, »würde das gar keine Rolle spielen, oder? Wahrscheinlich wäre das Imperium dann nie so mächtig geworden. Und wir würden alle in einer Welt voller Magie und fliegender Pferde leben, mit Schlössern, die von den Heiligen höchstpersönlich gebaut wurden.«

Sie faltete ihre Hände und betrachtete ihn übertrieben geduldig. »Aber Königin Rielle hat ihn nun mal umgebracht. Und deshalb sind wir jetzt hier. Und sein Bildnis trage ich um meinen Hals, damit es mich immer daran erinnert, dass wir nicht in dieser anderen Welt leben. Wir leben in einer Welt, wo gute Könige sterben, und die, die dumm genug sind und auf bessere Zeiten hoffen, gleich mit dazu.«

Danach ignorierte sie ihren Bruder und ihre Mutter und schlang schweigend ihren Eintopf hinunter.


Später am Abend, als Eliana gerade die Klingen ihrer Waffen reinigte, kam ihre Mutter zu ihr ins Zimmer.

»Eliana«, sagte Rozen leicht außer Atem, »du solltest dich ausruhen.« Mit ihrer Beinprothese bereitete es ihr einige Mühe, ohne Hilfe die Treppe hochzusteigen. Sie stützte sich schwer auf ihren Stock.

»Was machst du denn da, Mutter?« Eliana stand auf und half ihr beim Hinsetzen. Ihre Dolche und Rauchgranaten lagen über den Fußboden verteilt, ein Bild des Todes.

»Du bist diejenige, die sich ausruhen sollte.«

Rozen starrte lange auf den Fußboden. Dann verlor sie die Fassung und vergrub ihr Gesicht in Elianas Schulter.

»Ich ertrage es nicht, dich so zu sehen«, flüsterte sie. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid, dass ich dir beigebracht habe, wie … Einfach alles tut mir leid.«

Eliana hielt sie fest und streichelte über ihren wirren dunklen Haarknoten. Geduldig hörte sie zu, wie Rozen sich unzählige Male flüsternd bei ihr entschuldigte.

»Was genau tut dir leid?«, fragte Eliana schließlich. »Dass Großvater dir das Töten beigebracht hat? Und du mir?«

Rozen legte ihre rauen Hände an Elianas Wangen und betrachtete sie eingehend mit diesen feuchten Augen, die Eliana immer an ihren Bruder erinnerten – forschend und unermüdlich. »Du sagst mir, wenn du eine Pause brauchst! Wir können Lord Arkelion um eine Auszeit –«

»Eine Auszeit, wofür? Um Plätzchen zu backen und die Wände neu zu streichen?« Eliana lächelte und drückte die Hand ihrer Mutter. »Ich wüsste nichts mit mir anzufangen.«

Rozen bekam ganz schmale Lippen. »Du musst mir nichts vormachen, Eliana. Ich kann dein Lächeln durchschauen. Ich habe dir dieses Lächeln beigebracht

»Dann entschuldige dich nicht dafür, dass du mir beigebracht hast, wie wir überleben, in Ordnung? Mir geht es gut.«

Eliana streckte sich und half Rozen in ihr Bett. Sie machte ihr eine Tasse Tee, küsste sie auf die Wange und half ihr, das Bein abzuschnallen – eine gut gearbeitete hölzerne Prothese, für die Eliana den Lohn zweier Aufträge bezahlt hatte.

Zwei Hinrichtungen. Zwei abgeschlachtete Seelen.

Als Eliana in ihr Zimmer zurückkam, wartete dort bereits Remy, er saß mit angezogenen Knien da und hielt seine Beine fest umklammert.

Während sie neben ihm aufs Bett krabbelte, wurde ihr plötzlich eng um die Brust, sodass sie nur noch schwer atmen konnte. Trauer überrollte sie wie eine große Welle. Und Eliana ließ sich, ohne eine Träne zu vergießen, von ihr nach unten ziehen.

»Ich hasse dich nicht«, sagte Remy ruhig und ließ es zu, dass sie sich fest an ihn klammerte. Eliana schloss die Augen und versuchte, sich nur auf ihn zu konzentrieren – auf den Mehlgeruch in seinen Kleidern und den nach Tinte an seinen Händen. Auf den Klang seiner Stimme, während er »Ein Lied für den goldenen König« für sie sang. Als Eliana noch ein Kind war, war das ihr liebstes Schlaflied gewesen – ein Klagelied für Audric den Lichtbringer.

Remys kleine Hände strichen über ihre Haare. Wenn sie wollte, könnte sie ihn vernichten. Und dennoch würde ihr kleines Vögelchen von einem Bruder nicht zögern und dem Kaiser entgegentreten. Sogar wenn er dafür mit dem Leben bezahlen müsste.

Ich habe zwar die Kraft einer Kriegerin, dachte sie, aber das Herz eines Feiglings.

Was für ein grausamer Scherz. Und die Welt war voll davon.

»Ich ertrage das nicht«, flüsterte sie und ihre Stimme wurde von Remys Hemd gedämpft.

»Was erträgst du nicht?«, fragte er ruhig.

»Du weißt schon.«

Er erwiderte nichts. Er wollte, dass sie es aussprach.

Sie seufzte. »Menschen töten. Menschen jagen. Gut darin sein.«

»Du bist gern gut darin«, gab er zu bedenken.

Sie widersprach ihm nicht. »Es wird schlimmer da draußen. Und ich habe noch immer keine Antworten.«

»Die verschollenen Frauen?«

»Wer holt sie? Wohin werden sie gebracht? Und warum?« Sie schloss ihre Finger fest um seine Handgelenke. Am liebsten hätte sie ihn unter ihr Bett gezogen oder an einen anderen dunklen, sicheren Ort und ihn nie mehr gehen lassen.

»Du hast Angst, dass wir die Nächsten sind«, sagte er.

»Stimmt, das wäre durchaus möglich. Es kann jeden treffen.«

»Du hast recht.« Remy legte sich neben sie, seine Augen waren ganz nah und glänzten. »Aber im Moment zählt nur, dass du hier bist, und ich auch.«

Eliana legte seine Hand auf ihr Herz und ließ sich von ihm in einen unruhigen Schlaf singen.


Den nächsten Auftrag erhielt Eliana einige Tage später an ihrer Haustür.

Eingeschlagen in braunes Packpapier und mit der Adresse des teuersten Schneiders der ganzen Stadt versehen.

Eliana nahm das Paket entgegen und gab dem Boten drei Silbermünzen. Der blasse Mann trug das einfache Gewand eines Lehrlings, auf den ersten Blick sah er ganz unauffällig aus. Aber Eliana wusste sofort, dass dieser Mann kein Schneiderlehrling war.

Sie bedankte sich mit einem Nicken und ging in ihr Zimmer zurück. Vom Fenster aus beobachtete sie, wie er die Straße entlanglief, auf der viele Käufer aus dem Gartenviertel unterwegs waren.

Er ging nahezu perfekt. Aber Eliana hatte gelernt, auf eine gewisse hölzerne Steifheit in den Bewegungen der Adatrox zu achten – auf ein gelegentliches unnatürliches winziges Zucken, wenn sie die Richtung änderten. Auf leicht getrübte Augen und verzögerte Bewegungen von Lippen und Augenbrauen. Auf die feineren Teile des Gesichts, die einem verrieten, was in dem Gegenüber vorging.

Es wirkte immer, als würden die Soldaten des Imperiums sich nicht aus freien Stücken bewegen, sondern von jemandem gelenkt werden.

Hoffentlich würde sie nie herausfinden, warum Adatrox sich in einem Augenblick ganz normal verhielten – lachten, redeten, gähnten – und dann ohne Vorwarnung vollkommen ruhig und reglos wurden. So reglos wie eine Statue. Dann fiel ein Schatten über ihr Gesicht und ihre Augen wurden trüb. Das konnte einen Moment lang dauern, manchmal aber auch Stunden.

Ganz gleich was das Imperium seinen Heerscharen an Soldaten auch antat, sie hoffte, dass ihrem Vater, wo auch immer er gerade sein mochte, dieses Schicksal erspart geblieben war. Falls er überhaupt noch lebte.

Eliana legte das Paket auf ihr Bett und zögerte einen Moment, sie machte sich auf alles gefasst.

Von neuen Aufträgen erfuhr sie häufig, wenn sie Remy in der Bäckerei besuchte oder mit Harkan auf eins der Feste seiner Lordschaft ging. Dort ließ sie sich in verborgenen Ecken von irgendwelchen Lieblingssöhnen und Lieblingstöchtern des Imperiums küssen und man flüsterte ihr Geheimnisse zu. Später stürzten Harkan und sie sich dann ins Bett, bis sie sich nicht mehr so benutzt vorkamen.

Aber manchmal kamen die Aufträge auch als geschriebene Nachrichten, nur für Eliana.

Diese teilte sie nicht mit Harkan.

Häufig lagen sie eingewickelt in dünnes Papier zwischen puderzuckerüberstäubten Krapfen, um Eliana daran zu erinnern, wie nah Remy dem Zettel und seinem Überbringer mit den ausdruckslosen Augen gewesen war. Diese Befehle las sie immer mit zitternden Händen.

Heute lag der Auftrag in Seide versteckt – ein weinroter Hauch von einem Kleid mit langen Schlitzen an den Beinen, der schimmerte, als wäre er mit Diamanten überzogen. Über den Rücken liefen lediglich drei dünne geflochtene Bänder. Die Farbe stand ihr gut und die Größe schien auch zu stimmen. Das Kleid würde ihre Figur besonders betonen.

Sie kämpfte gegen das ungute Gefühl in ihrer Brust. Lord Arkelion schenkte ihr zu viel Aufmerksamkeit – und das schon seit geraumer Zeit. Eliana faltete die Nachricht auseinander und las die verschlüsselte Anweisung gleich drei Mal:

Der Wolf kommt auf dem Vollmond geritten.

Ich will ihn lebendig.

Heil dem Imperium.

Lang lebe seine heilige Majestät, der unsterbliche Kaiser.

Sie starrte auf die feine Handschrift.

Auch wenn die Nachricht Lord Arkelions Siegel trug, geschrieben hatte er sie nicht.

Sie kam von Rahzavel.

Das Schreiben enthielt eine Nachricht in der Nachricht: Rahzavel war auf dem Weg nach Orline. Er war hinter dem Wolf her und wollte Elianas Hilfe.

Sie konnte es ihm nicht verdenken.

Anders als Quill war der Wolf nicht irgendein Lakai der Roten Krone. Er war die rechte Hand des Propheten, Leutnant des geheimnisvollen Anführers der Roten Krone höchstpersönlich. Schon seit Jahren war der Wolf dem Imperium immer wieder entwischt und jetzt war er hier in der Stadt.

Nun ruhte Elianas Blick auf der Zahl, die mit derselben sorgfältigen Handschrift quer über den unteren Rand des Zettels geschrieben war:

20000 Gold

Ihr Herz raste.

Eine Zahlung von 20000 in Imperium-Gold?

Eine solche Summe war ein kleines Vermögen – und wenn sie von Rahzavel kam, war es die Aufforderung, vor der Eliana sich schon lange gefürchtet hatte: Bring uns den Wolf. Nimm dein Geld.

Schließe dich dem Invictus an.

Diene dem Kaiser.

Sie hatte Harkan nie erzählt, dass sie während der letzten beiden Jahre heimlich noch mehr Aufträge angenommen und so viel wie möglich beiseitegelegt hatte.

Sie hatte ihm nie erzählt, wie sehr sie sich nach seiner Traumwelt sehnte, nach diesem ruhigen Fleckchen Erde in Astavar mit Ziegen und frischem Brot und Tomatenpflanzen.

Stattdessen hatte sie gespart und getötet und gejagt und gespart. Und jetzt, mit diesen zusätzlichen 20000 Goldmünzen zu ihrem Ersparten …

Unten läutete die Glocke. Remy war zu Hause, sein Lachen schallte durch das Haus. Wie wunderbar, dass er noch immer so leicht lachen konnte.

Eliana warf die Nachricht ins Feuer und sah zu, wie Rahzavels Worte verbrannten. Sobald die Nachricht als Asche im Kamin lag, schaute sie aus ihrem Fenster auf den dunkler werdenden Himmel. Es war die erste Vollmondnacht.

Wenn der Invictus sie wollte, sollte er sie haben – aber ihrer Familie würde er kein Haar krümmen.

Sie würde den Wolf wie befohlen ausliefern.

Sie würde ihren Lohn entgegennehmen und sicherstellen, dass Remy, Harkan und ihre Mutter unbehelligt das Land verlassen konnten.

Und heute Nacht schon würde die Jagd beginnen.

Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1)

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