Читать книгу Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1) - Claire Legrand - Страница 6

1 RIELLE

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»Lord Kommandant Dardenne kam in tiefer Nacht zu mir, seine Tochter in den Armen. Sie rochen nach Feuer, ihre Kleider waren versengt. Er vermochte kaum zu sprechen. Ich hatte den Mann noch nie in Furcht erlebt. Er drückte mir Rielle in die Arme und sagte: ›Hilf uns. Hilf ihr. Lass nicht zu, dass man sie mir wegnimmt.‹«

Aussage des Großmagisters Taliesin Belounnon

über Lady Rielle Dardennes Beteiligung am Massaker von Boon Chase

29. April im Jahr 998 des Zweiten Zeitalters

ZWEI JAHRE ZUVOR

Rielle Dardenne stürzte in Tals Studierzimmer und warf die Nachricht auf seinen Schreibtisch.

»Prinzessin Runa ist tot«, verkündete sie.

Es war nicht gerade aufregend für sie – denn zwischen ihrem eigenen Königreich Celdaria und ihrem nordöstlichen Nachbarn Borsvall herrschte schon so viele Jahrzehnte ein angespanntes Verhältnis, dass es kaum der Rede wert war, wenn etwa ein Handelsschiff aus Celdaria vor der Küste Borsvalls sank oder Patrouillen an der Grenze aneinandergerieten.

Aber der Mord an einer borsvallianischen Prinzessin? Das war etwas Neues. Und Rielle wollte der Sache genauestens auf den Grund gehen.

Tal legte seufzend den Stift beiseite und fuhr sich mit den tintenfleckigen Händen durch sein zerzaustes blondes Haar. Die an seinen Kragen geheftete Flamme aus blankem Gold blinkte in der Sonne.

»Vielleicht«, hob Tal an und bedachte Rielle mit einem Blick, der nicht missbilligend, aber auch nicht erfreut war, »solltest du in Erwägung ziehen, dir deine Begeisterung über den Mord an einer Prinzessin nicht allzu sehr anmerken zu lassen.«

Sie setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. »Ich bin nicht froh darüber oder so. Ich bin einfach neugierig.« Rielle zog das Papier wieder zu sich her und las die mit Tinte geschriebenen Wörter ein weiteres Mal. »Dann glaubst du also, es war Mord? Audric glaubt das.«

»Versprich mir, dass du heute nichts Dummes anstellst, Rielle.«

Sie lächelte ihn zuckersüß an. »Wann habe ich je etwas Dummes angestellt?«

Er hob eine Braue. »Die Wachen der Stadt sind in höchster Alarmbereitschaft. Ich will, dass du hierbleibst, im sicheren Tempel, falls irgendetwas passiert.« Er nahm ihr das Blatt ab und überflog es. »Woher hast du das überhaupt? Nein, warte, ich weiß. Audric hat es dir gegeben.«

Rielle erstarrte. »Audric hält mich auf dem Laufenden. Er ist ein guter Freund. Was ist schon dabei?«

Tal erwiderte nichts, doch das brauchte er auch nicht.

»Wenn du mir etwas zu sagen hast«, zischte sie, während ihr die Röte in die Wangen stieg, »dann sag es einfach. Sonst lass uns mit dem Unterricht beginnen.«

Tal musterte sie noch eine Weile, dann drehte er sich um und nahm vier dicke Bücher aus dem Regal hinter ihm.

»Hier«, sagte er und ignorierte ihre aufsässige Miene. »Ich habe ein paar Abschnitte markiert, die du lesen sollst. Heute ist Stillarbeit. Und ich frage dich später ab, also komm gar nicht erst auf die Idee, nur querzulesen.«

Mit zusammengekniffenen Augen musterte Rielle das Buch, das obenauf lag. »Eine kurze Geschichte des Zweiten Zeitalters, Band I: Die Nachwirkungen der Engelskriege.« Sie verzog das Gesicht. »Das sieht für mich gar nicht kurz aus.«

»Es ist alles eine Frage der Perspektive«, sagte Tal und wandte sich wieder den Unterlagen auf seinem Schreibtisch zu.

Rielles Lieblingsplatz in Tals Studierzimmer war der Fenstersitz mit Blick auf den größten Innenhof des Tempels. Hier lagen stapelweise dunkelrote Kissen mit goldenen Paspeln, und wenn sie darauf saß und die Beine in der Sonne baumeln ließ, konnte sie fast vergessen, dass es jenseits des Tempels und ihrer Stadt eine riesige Welt gab – eine Welt, die sie niemals zu Gesicht bekommen würde.

Sie setzte sich ans Fenster, streifte die Stiefel ab, raffte die schweren spitzenbesetzten Röcke und stellte ihre nackten Füße auf das Fensterbrett. Die Frühlingssonne legte sich warm auf ihre Beine, und schon bald sah sie im Geist vor sich, wie Audric an heiteren Tagen wie diesen immer aufblühte. Wie seine Haut geradezu leuchtete und um Berührung flehte.

Tal räusperte sich und zerstörte ihren Tagtraum.

Tal kannte sie viel zu gut.

Sie schlug Eine kurze Geschichte auf, warf einen Blick auf die winzigen verblassten Zeilen und hätte das Buch am liebsten aus dem Fenster in den Innenhof des Tempels geworfen, wo die Bürger gerade zum Morgengebet herbeiströmten – zweifellos um zu erbitten, dass die Reiter gewannen, auf die sie beim heutigen Rennen gesetzt hatten. Jeder Tempel der Hauptstadt war gerade mit solch gierigen Seelen gefüllt, nicht nur Tals Tempel des Feuers, wo die Menschen die heilige Marzana als Feuerzeichnerin anbeteten, sondern auch das Haus des Lichts und das Haus der Nacht und die Tempel der Bäder und des Firmaments, der Schmiede und der Burg. Gewisperte Gebete in allen sieben Tempeln, an alle sieben Heiligen und deren Elemente.

Verschwendete Gebete, dachte Rielle mit einem Kribbeln der Erregung. Die anderen Reiter werden im Vergleich zu mir wie Kinder auf Ponys wirken.

Sie blätterte ein paar Seiten durch und kaute an ihrer Unterlippe, bis sie sich ruhig genug fühlte, um zu sprechen. »Ich habe gehört, dass viele am borsvallianischen Hof Celdaria für Runas Tod verantwortlich machen. Wir würden so etwas doch nicht tun, oder?«

Tals Stift kratzte über das Papier. »Natürlich nicht.«

»Aber es spielt keine Rolle, ob es die Wahrheit ist oder nicht, stimmt’s? Wenn König Hallvards Berater ihn davon überzeugen, dass wir seine Tochter getötet haben, erklärt er uns doch noch den Krieg.«

Mit einem verärgerten Schnauben ließ Tal den Stift fallen. »Heute komme ich wohl zu gar nichts, was?«

Rielle verkniff sich ein Grinsen. Wenn du wüsstest, wie recht du hast, liebster Tal …

»Es tut mir leid, wenn ich Fragen zur politischen Situation unseres Landes habe«, sagte sie kühl. »Fällt das in die Kategorie von Themen, die wir nicht diskutieren dürfen, weil sonst mein armes, zartes Gehirn unter der Anstrengung zusammenbrechen könnte?«

Ein Schmunzeln umspielte Tals Mundwinkel. »Borsvall könnte den Krieg erklären, ja.«

»Dich scheint diese Möglichkeit nicht zu beunruhigen.«

»Ich halte es für unwahrscheinlich. Wie stehen schon seit Jahrzehnten am Rande eines Krieges mit Borsvall, und doch ist es nie so weit gekommen. Und es wird auch in Zukunft nie so weit kommen, denn die Leute von Borsvall mögen zwar Kriegstreiber sein, aber König Hallvard ist krank und nicht dumm. Wir würden seine Armee dem Erdboden gleichmachen. Er kann sich keinen Krieg leisten, und erst recht nicht gegen Celdaria.«

»Audric hat gesagt …« Rielle zögerte. Sie verspürte ein leichtes Unbehagen. »Audric glaubt, dass der Tod von Prinzessin Runa und der Sklavenaufstand in Kirvaya darauf hindeuten, dass es jetzt so weit ist. Dass die Königinnen kommen.«

Stille legte sich über den Raum wie ein Leichentuch.

»Audric war schon immer fasziniert von der Prophezeiung«, sagte Tal mit verdächtig gelassener Stimme. »Er sucht seit Jahren nach Anzeichen für die Ankunft der Königinnen.«

»Diesmal klingt er ziemlich überzeugt.«

»Ein Sklavenaufstand und eine tote Prinzessin reichen wohl kaum für –«

»Aber ich habe Großmagister Duval davon sprechen hören, dass es in Meridian, auf der anderen Seite des Ozeans, Stürme gegeben hat«, drängte sie weiter, während sie ihn prüfend musterte. »Und sogar in Ventera und Astavar. Seltsame Stürme, außerhalb der Saison.«

Tal blinzelte. Ah, dachte Rielle. Das wusstest du nicht, was?

»Gelegentlich gibt es auch außerhalb der Saison Stürme«, sagte Tal. »Die Wege des Empiriums sind unergründlich.«

Rielle vergrub die Finger in ihren Röcken und tröstete sich damit, dass sie schon bald in Reithosen und Stiefeln stecken würde, den Kragen geöffnet im Wind.

Sie würde am Start sein.

»In dem Bericht, den ich gelesen habe«, fuhr sie fort, »stand, dass ein Staubsturm in Süd-Meridian den gesamten Hafen von Morsia tagelang lahmgelegt hat.«

»Audric soll aufhören, dir jeden Bericht zu zeigen, der über seinen Schreibtisch wandert.«

»Audric hat mir überhaupt nichts gezeigt. Ich habe den Bericht selbst gefunden.«

Tal hob eine Braue. »Du meinst, du hast dich in sein Studierzimmer geschlichen, als er nicht dort war, und seine Papiere durchwühlt.«

Rielles Wangen wurden heiß. »Ich habe nach einem Buch gesucht, das ich dort liegen gelassen hatte.«

»Tatsächlich. Und was würde Audric sagen, wenn er wüsste, dass du ohne seine Erlaubnis in seinem Studierzimmer warst?«

»Es wäre ihm egal. Ich darf kommen und gehen, wie es mir beliebt.«

Tal schloss die Augen. »Lady Rielle, du kannst nicht einfach Tag und Nacht die Privaträume des Kronprinzen aufsuchen, als wäre nichts dabei. Ihr seid keine Kinder mehr. Und du bist nicht seine Verlobte.«

Rielle vergaß für einen Augenblick zu atmen. »Das ist mir wohl bewusst.«

Tal winkte ab und stand auf, und schon war das Gespräch über die Prophezeiung und die Königinnen beendet.

»Die Stadt ist heute voller Menschen und unberechenbar«, sagte er, ehe er quer durch den Raum ging und sich noch eine Tasse Tee einschenkte. »Der Tod von Prinzessin Runa spricht sich überall herum. In einem solchen Klima könnte sich das Empirium auf ähnlich unberechenbare Art und Weise verhalten. Vielleicht sollten wir ein paar Gebete sprechen, um unseren Geist zu sammeln. Inmitten des Chaos der Welt ist die brennende Flamme ein Anker, der uns in Frieden an das Empirium und an Gott bindet.«

Rielle funkelte ihn an. »Sprich nicht in deinem Magister-Tonfall, Tal. Dabei klingst du so alt.«

Seufzend nippte er an seinem Tee. »Ich bin alt. Und verdrießlich – was ich dir zu verdanken habe.«

»Zweiunddreißig ist doch nicht alt, und erst recht nicht, wenn man schon Großmagister des Feuers ist.« Sie hielt inne. Nun musste sie vorsichtig sein. »Es würde mich nicht wundern, wenn du zum nächsten Archon ernannt werden würdest. Mit jemandem an meiner Seite, der so begabt ist wie du, könnte ich das Rennen gefahrlos von deiner Loge aus verfolgen …«

»Versuch nicht, mir zu schmeicheln, Lady Rielle.« Er sah sie mit blitzenden Augen an. Das war der Tal, den sie mochte – der temperamentvolle Hitzkopf, nicht der fromme Lehrer. »Es ist momentan nicht sicher für dich dort draußen, außerdem wäre es auch für alle anderen gefährlich, wenn dich etwas aus der Fassung bringen und du die Beherrschung verlieren würdest.«

Rielle schlug Eine kurze Geschichte zu und verließ den Fenstersitz. »Verdammt noch mal, Tal.«

»Nicht im Tempel, bitte«, mahnte Tal über den Tassenrand hinweg.

»Ich bin kein Kind mehr. Glaubst du nicht, dass ich es inzwischen besser weiß?«

Ihre Stimme bekam einen spöttischen Unterton. »›Rielle, lass uns zusammen beten, damit du dich beruhigst.‹ – ›Rielle, lass uns ein Lied über Sankt Katell die Herrliche singen, um dich abzulenken.‹ – ›Nein, Rielle, du darfst nicht zum Maskenball gehen. Du könntest dich vergessen. Du könntest dich amüsieren, Gott bewahre.‹ Wenn es nach Vater ginge, würde ich den Rest meines Lebens eingesperrt bleiben, die Nase in einem Buch oder kniend ins Gebet vertieft, und mich jedes Mal selbst kasteien, wenn versehentlich ein zorniger Gedanke in mir aufsteigt. Ist das die Art von Leben, die auch du mir wünschen würdest?«

Tal musterte sie ungerührt. »Wenn das hieße, dass du in Sicherheit bist und dass auch die anderen sicher sind? Ja, dann schon.«

»Hinter Schloss und Riegel wie eine Verbrecherin.« Ein vertrautes Gefühl der Enttäuschung wallte in ihr auf, das sie vehement zurückdrängte. Sie würde nicht die Beherrschung verlieren, nicht ausgerechnet heute.

»Weißt du eigentlich«, sagte sie in gezwungen heiterem Tonfall, »dass mein Vater mich, wenn ein Gewitter naht, immer nach unten in die Dienstbotenquartiere bringt und mir Taubwurz gibt? Davon schlafe ich ein, und dann lässt er mich eingesperrt dort zurück.«

Tal antwortete erst nach einer Pause. »Ja.«

»Ich habe mich immer gegen ihn gewehrt. Doch er hat mich niedergerungen, mich geschlagen und mir die Nase zugehalten, bis ich keine Luft mehr bekam und den Mund öffnen musste. Dann hat er mir das Fläschchen zwischen die Lippen gesteckt und mich zum Trinken gezwungen. Ich habe alles wieder ausgespuckt, doch er zwang mich weiter, den Trank herunterzuschlucken, und flüsterte mir all meine Verfehlungen ins Ohr, und während ich ihm ins Gesicht schrie, wie sehr ich ihn hasse, schlief ich ein. Und als ich wieder aufwachte, war das Gewitter vorbei.«

Eine längere Pause. »Ja«, erwiderte Tal leise. »Ich weiß.«

»Er glaubt, Gewitter provozieren mich zu sehr. Sie geben mir gewisse Gedanken ein, sagt er.«

Tal räusperte sich. »Das war meine Schuld.«

»Ich weiß.«

»Aber die Medizin war seine Idee.«

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Und hast du versucht, es ihm auszureden?«

Er antwortete nicht und seine geduldige Miene brachte sie zur Weißglut.

»Ich kämpfe nicht mehr gegen ihn an«, sagte sie. »Wenn ich einen Donnerschlag höre, gehe ich sofort nach unten, noch ehe er mich dazu auffordert. Wie armselig ich doch geworden bin.«

»Rielle …« Tal seufzte und schüttelte den Kopf. »Alles, was ich dir sagen könnte, habe ich schon gesagt.«

Sie ging auf ihn zu, und die Einsamkeit, die sie sonst vor ihm – und vor allen – verbarg, ließ ihr Gesicht weich erscheinen. Komm, braver Magister Belounnon. Bemitleide deine süße Rielle. Er wandte als Erster den Blick ab. Ein Anflug von Kummer huschte über sein Gesicht, und sein Kiefer verspannte sich.

Gut.

»Er würde mich mein ganzes Leben verschlafen lassen, wenn er könnte«, sagte sie.

»Er liebt dich, Rielle. Er macht sich Sorgen um dich.«

Hitze zerrte an Rielles Fingerspitzen und steigerte sich zusammen mit ihrem Groll. Plötzlich widerspenstig und wütend, ließ sie es zu. Sie wusste, dass das nicht passieren durfte, dass ein Ausbruch es für sie nur noch schwerer machen würde, sich davonzuschleichen, doch mit einem Mal war es ihr einfach egal.

Er liebt dich, Rielle.

Ein Vater, der seine Tochter liebte, machte sie nicht zur Gefangenen.

Sie griff sich eine der Kerzen von Tals Schreibtisch und beobachtete mit grimmiger Zufriedenheit, wie der Docht zu einer flackernden, unbeherrschbaren Flamme aufloderte. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihre Wut als einen dahinströmenden Fluss, der über seine Ufer trat und die Flamme in ihren Händen nährte.

Die Flamme wuchs – zur Größe eines Stiftes, eines Dolches, eines Schwerts. Dann folgten alle anderen Kerzen, ein Wald aus lodernden Klingen.

Tal entfernte sich von seinem Schreibtisch und nahm den feinen, blanken Schild von seinem Ständer in der Ecke. Jeder Elementherrscher, der je gelebt hatte – jeder Wasserwandler und Windflüsterer, jeder Schattenwerfer und auch Tal der Feuerzeichner –, brauchte eine Urform, einen mit seinen eigenen Händen gefertigten Gegenstand, um damit Zugang zu seiner Macht zu erhalten. Zu seiner einzigartigen Macht, dem Element, das er beherrschen konnte.

Aber nicht Rielle.

Sie brauchte keine Urform, und Feuer war nicht das einzige Element, das ihr gehorchte.

Ihr gehorchten alle.

Tal stellte sich hinter sie, in der einen Hand den Schild, während die andere sanft auf ihrer lag. Als Kind, als sie noch geglaubt hatte, Tal zu lieben, hatten solche Berührungen sie beglückt.

Jetzt zog sie ernsthaft in Erwägung, ihm einen Hieb zu versetzen.

»Im Namen von Sankt Marzana der Glorreichen«, murmelte Tal, »widmen wir dieses Gebet den Flammen und hoffen, dass das Empirium unsere Bitte erhören und uns Kraft schenken möge: Leichtfüßiges Feuer, lodere nicht mit Wut oder Gier. Brenne ruhig und treu, brenne sauber und hell.«

Rielle verkniff sich barsche Worte. Wie sie das Beten hasste. Jedes der altbekannten Worte kam ihr wie ein weiterer Gitterstab des Käfigs vor, den ihr Vater und Tal für sie gebaut hatten.

Der Raum begann zu beben – das Tintenfass auf Tals Tisch, die Glasscheiben in dem offenen Fenster, Tals halb volle Teetasse.

»Rielle?«, hob Tal an und bewegte seinen Schild.

Sie spürte die Hitze in seinem Körper hinter ihr aufwallen, während er sich bereit machte, ihr Feuer mit seiner Macht zu löschen. Ohne dass sie es verhindern konnte, löste die Betroffenheit in seiner Stimme leichte Reue in ihr aus. Sie wusste, dass er es gut meinte. Er wollte unbedingt, dass sie glücklich wurde.

Im Gegensatz zu ihrem Vater.

Also beugte Rielle den Kopf und schluckte ihren Ärger hinunter. Schließlich konnten ihre Pläne Tal für immer gegen sie einnehmen. Sie würde ihm diesen kleinen Sieg gönnen.

»Lodere nicht mit Wut oder Gier«, wiederholte sie und schloss die Augen. Sie schob innerlich auch den letzten Rest an Gefühlen, jedes Geräusch, jeden Gedanken beiseite, bis ihr Geist nur noch ein weites dunkles Feld war – abgesehen von dem winzigen Lichtfleck, den die Flamme in ihren Händen bildete.

Dann ließ sie die Dunkelheit auch über diese Flamme wandern und blieb in der kühlen, stillen Leere ihres Geistes allein zurück.

Der Raum wurde ruhig.

Tals Hand fiel herab.

Rielle lauschte, als er den Schild wieder zurück auf den Ständer stellte. Das Gebet hatte sie gereinigt, und nach der Wut, die sie empfunden hatte, fühlte sie nun … nichts. Ein hohles Herz und ein leerer Kopf.

Als sie die Augen aufschlug, waren sie trocken und müde. Verbittert fragte sie sich, wie es wohl wäre, ohne den ständigen Refrain der Gebete in ihren Gedanken zu leben, die sie vor ihren eigenen Gefühlen warnten.

Die Tempelglocken läuteten elf Mal. Rielles Herz hüpfte vor Erleichterung. Jetzt würde sie jeden Moment Ludivines Signal vernehmen.

Rielle wandte sich zum Fenster. Gebete und Lesungen waren beendet. Jeder Muskel in ihrem Körper strotzte vor Energie. Sie wollte reiten.

»Ich wäre lieber tot, als die Gefangene meines Vaters zu sein«, erklärte sie schließlich. Etwas zu theatralisch, doch das kümmerte sie nicht.

»Tot wie deine Mutter?«

Rielle erstarrte.

Als sie Tal in die Augen sah, hielt er ihrem Blick stand. Mit dieser Grausamkeit hatte sie nicht gerechnet – von ihrem Vater schon, aber nicht von Tal.

Die Erinnerung an lange erloschene Flammen flackerte vor ihrem inneren Auge vorüber. Sie sprach mit tonloser Stimme.

»Hat mein Vater dich angewiesen, das vorzubringen, wenn ich mich ungebührlich verhalte?«, fragte sie. »Wegen des Pferderennens und allem?«

»Ja«, erwiderte Tal ungerührt.

»Tja, dann kann ich dir gern verraten, dass ich nur das eine Mal getötet habe. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.«

Nach einem kurzen Moment drehte er sich um und machte sich an den Büchern auf seinem Schreibtisch zu schaffen. »Es geht um deine Sicherheit wie um die aller anderen. Wenn der König erfährt, dass wir die Wahrheit über deine Kräfte jahrelang verschwiegen haben … du weißt, was dann passieren könnte. Vor allem deinem Vater. Und trotzdem tut er es, weil er dich mehr liebt, als du je begreifen wirst.«

Rielle lachte hell auf. »Das ist kein Grund, mich so zu behandeln. Ich werde es ihm nie verzeihen. Eines Tages werde ich es auch dir nicht mehr verzeihen.«

»Ich weiß«, sagte Tal. Seine Stimme klang so traurig, dass Rielle beinahe Mitleid empfand.

Beinahe.

Doch dann ertönte von unten ein lautes Krachen, dazu ein unverkennbarer Aufschrei.

Ludivine.

Tal warf Rielle den üblichen Blick zu, den er schon so häufig auf sie gerichtet hatte – als sie mit sieben im Tempel der Bäder das Becken zum Überlaufen gebracht hatte oder als er sie mit fünfzehn dabei erwischt hatte, wie sie sich zum ersten Mal in Odos Taverne geschlichen hatte. Dieser Blick besagte: Womit habe ich solche Prüfungen verdient?

Rielle sah ihn unschuldig an.

»Bleib hier«, befahl er. »Das ist mein Ernst, Rielle. Ich verstehe deine Enttäuschung – ganz ehrlich –, aber hier geht es um mehr als um die Ungerechtigkeit, dass du dich langweilst.«

Rielle kehrte zum Fenstersitz zurück in der Hoffnung, dass ihre Miene betreten genug wirkte.

»Ich liebe dich, Tal«, sagte sie und das war so wahr, dass sie sich selbst ein wenig dafür hasste.

»Ich weiß«, antwortete er. Dann legte er sein Magistergewand an und rauschte zur Tür hinaus.

»Magister, es ist etwas mit Lady Ludivine«, erklang eine panische Stimme im Flur – einer von Tals jungen Tempeldienern. »Sie war gerade erst in der Kapelle eingetroffen, Mylord, als sie plötzlich bleich wurde und zusammenbrach. Ich weiß nicht, was geschehen ist!«

»Hole meinen Heiler«, wies Tal ihn an, »und schicke der Königin eine Nachricht. Sie ist bestimmt schon in ihrer Loge am Startplatz. Sage ihr, dass ihre Nichte krank geworden ist und nicht zu ihr in die Loge kommen kann.«

Nachdem sie gegangen waren, zog Rielle lächelnd ihre Stiefel an.

Hierbleiben?

Ausgeschlossen.

Eilig schritt sie durch den Wohnraum, der vor Tals Studierzimmer lag, und hinaus auf die Korridore des Tempels mit ihren Wänden aus rot geädertem Marmor und den dicken Teppichen, die mit Stickereien von glühenden Flammen verziert waren. Am Eingang zum Tempel, dessen Parkettboden zu goldenem Glanz poliert worden war, herrschte reges Treiben, während Gläubige, Tempeldiener und Dienstboten auf die spitzbogigen Türen der Kapelle zueilten.

»Es ist etwas mit Lady Ludivine«, flüsterte eine junge Tempeldienerin ihrer Begleitung zu, als Rielle vorüberging. »Offenbar ist sie krank geworden.«

Rielle grinste und stellte sich vor, wie sich alle besorgt um die arme Ludivine scharten, die theatralisch hingegossen auf dem Fußboden des Tempels lag. Ludivine würde die Aufmerksamkeit genießen – und die Erinnerung daran, dass sie die ganze Hauptstadt wie eine Marionette an den Fäden gehalten hatte.

Trotzdem war Rielle ihr nach diesem Auftritt einen riesigen Gefallen schuldig.

Was auch immer sie verlangen würde, es wäre die Sache auf jeden Fall wert.

Ludivines Pferd stand neben ihrem eigenen direkt vor dem Tempel, von einem jungen Stallburschen gehalten, der einer Panik nahe zu sein schien. Als er Rielle erkannte, fiel er vor Erleichterung förmlich in sich zusammen.

»Entschuldigen Sie bitte, Lady Rielle, aber geht es Lady Ludivine gut?«, fragte er.

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Rielle und schwang sich in den Sattel. Sie griff nach den Zügeln, und schon jagte ihre Stute die Hauptstraße hinab, die vom Tempel des Feuers ins Zentrum der Stadt führte. Die Hufe klapperten über die Pflastersteine. Eine bunte Ansammlung von Wohnhäusern und Tempelbauten erhob sich zu beiden Seiten – graue Steinmauern, auf denen Szenen von der Gründung der Hauptstadt eingraviert waren, Kuppeldächer aus poliertem Kupfer, hohe, von üppigem Efeu umrankte Säulen und Brunnen, die mit Abbildern der ins Gebet vertieften sieben Heiligen geschmückt waren. Anlässlich des Pferderennens waren so viele Besucher aus der ganzen Welt nach Âme de la Terre gekommen, dass die kühle Frühlingsluft mittlerweile schon muffig und verbraucht war. Die Stadt roch nach Schweiß und Gewürzen, schnellen Pferden und schnellem Geld.

Als Rielle die Straße entlanggaloppierte, teilte sich die Menge erschrocken vor ihr, und die Leute stießen derbe Flüche aus – bis sie begriffen hatten, wer sie war, und verstummten. Sie lenkte ihre Stute durch die kurvenreichen Straßen und hielt auf die Hauptstadttore zu, ihr Körper aufs Äußerste angespannt.

Doch heute würde sie ihrer Macht nicht nachgeben.

Sie würde am Boon-Chase-Pferderennen teilnehmen, wie es jedem Bürger zustand, und ihrem Vater beweisen, dass sie sich beherrschen konnte, selbst wenn ihr Leben in Gefahr war und die Blicke der ganzen Stadt auf ihr lagen.

Sie würde ihm und Tal beweisen, dass sie es verdient hatte, ein normales Leben zu führen.

Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1)

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