Читать книгу Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1) - Claire Legrand - Страница 12
7 RIELLE
Оглавление»Hüte dich vor dem Lächeln der Sauvilliers –
Schön wie die Nacht, wenn der Mond aufgeht,
Frisst sich tief in die Knochen, bis dein Auge bricht,
Sagt ein Mann vom Fluss, der die Wahrheit spricht.«
Celdarisches Reiselied
Rielle schoss in die Höhe, aus feuerumrahmten Träumen in eine Welt plötzlicher Panik.
»Audric«, krächzte sie. Das Wort kratzte an ihrer wunden Kehle. Er musste in der Nähe sein. Wenn er gestorben war, wenn er gestorben war …
»Still.« Kühle Hände hielten ihr einen Becher Wasser an die Lippen, halfen ihr trinken. »Er ist am Leben und wohlauf.«
Rielle blinzelte und konnte allmählich Ludivines Gesicht erkennen. Ludivine trug das lange gewellte goldene Haar offen. Ihre hellblauen Augen leuchteten, der einzige Spalt in ihrer Rüstung aus Gelassenheit. Mit dem offenen Haar und dem frischen Gesicht hätte man sie für wesentlich jünger halten können als neunzehn Jahre. Dennoch war sie die Tochter eines hohen Lords, eine Lady aus dem Haus Sauvillier, Cousine und Verlobte des Kronprinzen und Celdarias zukünftige Königin – und selbst im Morgenrock erfüllte sie genau ihre Rolle.
»Du bist wach«, sagte sie lächelnd. »Zwei Tage lang warst du immer wieder bewusstlos. Wir konnten dir nur ein paar kleine Häppchen geben und dir manchmal einen Schluck Wasser einflößen.« Ludivine runzelte die bleiche Stirn und umfasste Rielles Hände mit ihren. »Du hast mir Angst gemacht, Liebes.«
»Sag mir, was passiert ist«, forderte Rielle und versuchte sich aufzusetzen.
Ludivine zögerte. »Du brauchst Ruhe.«
Doch da fiel Rielle ein, wie Maliya zusammengebrochen war, und schlagartig wurde ihr so übel, dass sie sich heftig übergeben musste. Ludivine hielt ihr die widerspenstige dunkle Mähne aus dem Gesicht und rieb sie zwischen den Schultern, während Rielle ihren Mageninhalt auf den Fußboden entleerte.
Eine von Ludivines Zofen eilte herüber, um die Sauerei wegzuwischen, ehe sie einen ängstlichen Blick auf Rielle warf. Das Mädchen putzte die Lache weg und flüchtete so rasch ins Wohnzimmer, wie es der Anstand erlaubte.
Rielle sah ihr nach. Sobald sie wieder mit Ludivine allein war, verlangte sie nach Aufklärung. »Erzähl es mir.«
»Die Attentäter sind tot«, sagte Ludivine leise. »Fünfzehn der Reiter sind tot. Wir … wir wissen nicht, wie jeder einzelne von ihnen umgekommen ist, aber wir schreiben die Schuld an ihrem Tod den Attentätern zu und den Umständen des Rennens selbst.«
Rielle konnte Ludivine nicht in die Augen schauen. Sie ertrug es kaum, ihre eigene körperliche Existenz zu spüren. Fünfzehn Reiter tot. Fünfzehn.
In ihrem Blut dröhnte die Erinnerung daran – die herabfallenden Felsbrocken und die in Flammen stehende Erde, die gestürzten Reiter und das Gebrüll ihrer Pferde.
Sie ballte die Fäuste, schloss die Augen und zählte ihre Atemzüge. »Lu, es tut mir leid.«
»Alle anderen sind in Sicherheit«, fuhr Ludivine fort. »Tal und seine Tempeldiener haben das Feuer unter Kontrolle gebracht, ehe es sich bis zu den Rennställen und den Feldern ausbreiten konnte.«
Das Feuer. Ihr Feuer.
Rielle wusste nicht einmal mehr, wie es begonnen hatte. Das ganze Geschehen, seit sie die Mörder gesehen hatte, die sich um Audric geschart hatten, war nichts als ein wirrer Nebel.
Scham packte sie wie eine heiße Faust. »Gut. Ich werde mich wohl persönlich bei ihnen bedanken müssen.«
»Das ist das Mindeste«, sagte Ludivine, doch ihre Stimme klang sanft. »Dein Pferd …«
Rielle stieß einen erstickten Laut aus. Sie spürte noch immer das Fleisch des armen Tieres, das unter ihrer Berührung Blasen geworfen hatte. Die Attentäter hatten den Tod verdient, aber nicht Maliya und nicht die fünfzehn anderen Reiter.
Sie schloss die Augen. »Odo wird wütend sein.«
»Er ist nur froh, dass du noch lebst.«
»Und Audric?«
Ludivine legte eine Hand über die von Rielle. »Audric geht es gut.«
»Er ist nicht verletzt?«
»Wirklich, Rielle. Es geht ihm bestens. Ich sollte ohnehin bald nach ihm schicken. Er kann es kaum erwarten, mit dir zu sprechen.«
Rielle registrierte den förmlichen Unterton in der Stimme ihrer Freundin. Manchmal hätte sie schwören können, dass Ludivine bis ins Kleinste über ihre Gefühle Bescheid wusste. »Noch nicht.« Wenn ich ihn sehe, sage ich etwas Unverzeihliches. Dann verrate ich zu viel. »Es gibt vieles zu erklären, und ich –«
»Ja, allerdings. Ich wusste nicht, dass du eine Erderschütterin bist, Rielle. Und eine Feuerzeichnerin noch dazu?«
Rielle erstarrte angesichts der trügerischen Süße in Ludivines Stimme. Es war ein Tonfall, den sie ihr gegenüber nur selten verwendete. »Ich bin keines von beiden.«
»Du bist auf jeden Fall irgendetwas. Die Hauptstadt ist in hellem Aufruhr. Tote können wir wegerklären. Aber verschobene Bergketten, verbrannte und zertrümmerte Erde? Da haben viele Leute Fragen.«
»Und der König will Antworten.«
»Ja.«
»Tja, die wird er wohl aus mir herausfoltern müssen.«
»Das ist nicht lustig.«
»Ich will nicht –«
»Hör auf, mich anzulügen.« Ludivine erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. Als sie sich wieder umwandte, war ihr Gesicht zornesrot. »Wie konntest du das vor mir geheim halten? Wir vertrauen einander. Ich hätte nie zugelassen, dass dir etwas zustößt.«
»Es war nicht die Wahrheit, die für dich bestimmt war«, erwiderte Rielle reserviert.
»Und was ist das für eine Wahrheit? Was ist da draußen passiert? Was bist du?«
Das war ein Schlag. Rielles Stimme wurde brüchig. »Wenn ich das nur selbst wüsste.«
»Die Prophezeiung besagt …« Ludivine hielt inne, um sich zu sammeln. »›Sie werden die Macht der Sieben besitzen.‹ Die beiden Königinnen werden imstande sein, sämtliche Elemente zu beherrschen, nicht nur eines.«
Rielle stieß ein harsches, müdes Lachen aus. »Willst du mir allen Ernstes die Prophezeiung erklären?«
»Die Leute werden glauben, du bist eine der beiden.«
»Das ist mir durchaus bewusst, Lu.«
»Es sind bereits Gerüchte im Umlauf. Die Stadt –«
»Hat Angst?« Rielle rieb sich mit zitternden Händen das Gesicht. »Da ist sie nicht allein.«
»Ich dachte, wir hätten keine Geheimnisse voreinander.«
»Ich kann es unterbinden. Ich brauche nur … mehr Zeit.«
»Unterbinden? Als wäre diese Kraft, die du in dir trägst, nur eine schlechte Angewohnheit? Das sind die Worte deines Vaters.«
Rielle schloss die Augen. »Mein Vater. Gott steh mir bei.«
»Er ist jetzt beim König.«
Rielle sank der Mut, doch sie zwang sich, das Kinn zu heben. »Ich lasse nicht zu, dass sie mich töten.«
Ludivines Miene wurde weich. »Rielle …«
»Sie können es versuchen, und ich bin sicher, das werden sie auch. Aber ich lasse es nicht zu.« Mit pochendem Schädel erhob sie sich.
Ludivine fasste Rielle sanft am Handgelenk und legte dann die Hände um ihr Gesicht. Rielle ließ die Augen zufallen. Ludivines Duft – Lavendelöl und saubere Haut – hüllte sie in Erinnerungen: Morgenspaziergänge im Garten, die Arme untergehakt. Kindheitsnächte, in denen sie, Ludivine und Audric aneinandergeschmiegt vor dem breiten Kamin in seinen Gemächern lagen.
»Ich lasse ebenfalls nicht zu, dass sie dir etwas antun«, wiederholte Ludivine mit fester und klarer Stimme. »Niemals. Hörst du mich?«
Rielle versuchte unbeschwert zu klingen. »Ach, und was willst du tun? Die liebliche Lady Ludivine könnte nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun, hat man mir gesagt.«
Ludivine lächelte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch Rielle hielt sie davon ab. Der Augenblick der Stille hatte eine Erinnerung heraufbeschworen.
»Jemand hat zu mir gesprochen«, stieß sie abrupt hervor.
Ludivine blinzelte verständnislos. »Was?«
»Davor. Ich habe das Feuer gesehen und konnte nicht aufstehen. Audric hat mich aufgefangen, und dann … habe ich jemanden zu mir sprechen hören.«
»Du meinst, Audric hat zu dir gesprochen?«
»Nein. Jemand anders. Es war …« Rielle hielt inne und versuchte sich genau an das Gefühl zu erinnern, wobei ihre Haut prickelte, als hätte ihr jemand mit einer Feder über den Bauch gestrichen. »Es kam aus meinem Inneren.«
Ludivine zog eine Braue hoch. »Audrics Heiler meinte, du könntest leichtes Fieber haben.«
»Nein, Lu, ich sage dir –«
Jemand klopfte an der äußeren Tür zu Ludivines Gemächern, und die Zofe kam wieder hereingeeilt, die Augen weit aufgerissen. Sie blickte hinter sich: »Ich bitte um Verzeihung, Mylady, aber Sie haben Besuch –«
Ludivine behielt Rielles Hand in ihrer. »Lady Rielle kann noch keine Besucher empfangen.«
»Entschuldigen Sie, Mylady, ich habe versucht, es zu erklären –«
»Es ist der König«, sagte Rielle. »Nicht wahr?«
Das Mädchen sah ihr nicht in die Augen. »Man hat mir befohlen, Bescheid zu geben, sobald Sie aufgewacht sind, Mylady.«
»Seine Majestät hat viele Fragen, Rielle«, erklang eine ihr wohlbekannte Stimme.
Lord Kommandant Armand Dardenne schritt aus dem Wohnzimmer herein und stieß die Tür zu Ludivines Schlafgemach auf, ohne sich die Mühe zu machen anzuklopfen. Er war ein Mann wie aus Stahl und Eisen, makellos von Kopf bis Fuß. Nun musterte er seine Tochter mit der Herzlichkeit einer Statue.
Rielle preschte vor. »Ist Tal –?«
»Großmagister Belounnon wurde bereits von den Räten befragt«, fiel ihr Vater ihr ins Wort. »Genau wie ich. Du bist die Nächste. Zieh dich ordentlich an.«
Ohne ein weiteres Wort führten Ludivine und ihre Zofen Rielle hinter den Wandschirm und steckten sie in ein mattblaues und elfenbeinfarbenes Kleid mit hohem Kragen und Bändern an den Ärmeln. Es war hübsch genug, um ihr zu schmeicheln, und schlicht genug, um keinen Anstoß zu erregen.
»Sollte ich jetzt verärgert sein, weil du ohne meine Erlaubnis deine Mädchen losgeschickt und in meinem Kleiderschrank hast wühlen lassen?«, murmelte Rielle mit einem halbherzigen Lachen.
»Es ist mir völlig gleich, ob du verärgert bist oder nicht«, sagte Ludivine und strich Rielles Röcke glatt. »So viele Jahre bist du schon unter meiner Anleitung, und noch immer kann ich mich nicht darauf verlassen, dass du deine Kleidung passend zur Gelegenheit auswählst.«
»Manche würden sagen, mein Modebewusstsein ist eben einzigartig und fortschrittlich.«
»Ja, aber dieses Modebewusstsein solltest du lieber nicht bei einer Befragung durch den König zur Schau stellen.« Ludivine gab einer ihrer Zofen ein Zeichen. »Ich brauche die juwelenbesetzten Kämme dort drüben auf dem Tisch.«
Nachdem Ludivine ihr das lange dunkle Haar nach hinten gesteckt hatte, überprüfte Rielle ihr Aussehen im Spiegel. Sie wirkte klein und fremd, und die Weichheit ihres Kleids stand in starkem Kontrast zu den roten Kratzern auf ihrem Gesicht und den Schatten unter ihren scharfen grünen Augen.
»Wenn du dann so weit bist«, erklang die Stimme ihres Vaters.
Rielle schloss die Augen und holte tief Luft, doch ehe sie aufbrechen konnte, zog Ludivine sie in eine herzliche Umarmung und küsste sie auf die Wange.
»Vergiss nicht«, flüsterte Ludivine, »wenn dir irgendjemand etwas antun will, muss er erst an mir vorbeikommen. Und an Audric. Und an Tal. Und an vielen, vielen anderen. Der König wird nicht überstürzt handeln. Vertraue ihm. Vertraue uns.«
Rielle hielt Ludivine noch einen Moment lang fest, ehe sie hinter dem Wandschirm hervortrat. Ihr Vater bot ihr seinen Arm an, den sie widerwillig akzeptierte.
»Vater«, begann sie, »ehe wir hinuntergehen –«
Er ignorierte sie. »Im Augenblick lechzen alle im Schloss nach Klatsch und Tratsch. Sprich von nichts Wichtigem, während sie uns nach unten bringen.«
»Sie?«, fragte sie, aber sobald sie das Wohnzimmer betreten hatten, begriff sie.
Zwanzig Soldaten der königlichen Wache warteten mit gezückten Schwertern auf sie.
Rielle wankte nur kurz, als die Wachen sie aus Ludivines Gemächern in den Korridor mit den zahlreichen Fenstern brachten, wo das morgendliche Sonnenlicht den geschliffenen Stein in einen goldenen Glanz tauchte.
Sie reckte das Kinn und biss die Zähne zusammen. Audric lebte noch. Sie bereute nicht, was sie getan hatte.
Gut, ertönte die Stimme und klang erfreut. Du sollst auch nichts bereuen. Es war allerhöchste Zeit.
Sie fieberte. Sie war erschöpft und bildete sich Sachen ein.
Dennoch …
Wer bist du?, dachte sie.
Es kam keine Antwort.
Das Schweigen machte sie nervös, und obwohl es kindisch war, konnte sie sich nicht verkneifen, zu ihrem Vater zu sagen: »Ich fürchte mich nicht.«
»Meine Tochter«, antwortete er mit einem neuen, verstörten Unterton in der Stimme, »das solltest du aber.«