Читать книгу Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1) - Claire Legrand - Страница 5

EIN ENDE UND EIN NEUER ANFANG

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»Einige behaupten, in ihren letzten Momenten sei die Königin verängstigt gewesen. Aber ich stelle mir lieber vor, dass sie wütend war.

Die Worte des Propheten

Kurz nach Mitternacht hörte die Königin auf zu schreien.

Simon hielt sich in ihrem Wandschrank verborgen und hatte die Finger in die Ohren gesteckt, damit er die Schreie nicht mit anhören musste. Seit Stunden schon hatte er mit angezogenen Knien und gebeugtem Kopf zusammengekauert dort gesessen. Seit Stunden hatten die Gemächer der Königin im Gleichklang mit ihren Schreien gebebt.

Jetzt herrschte Stille. Simon hielt die Luft an und zählte wie bei einem Gewitter, wenn man nach dem Blitz auf das Grollen des Donners wartete, die Sekunden: Zog dieses Unwetter vorbei oder kam es näher?

Eins. Zwei. Drei.

Als er bei zwanzig war, senkte er vorsichtig seine Hände.

Die Stille wurde von dem Weinen eines Babys durchbrochen. Simon lächelte und richtete sich auf, eine Welle der Erleichterung erfasste ihn.

Die Königin hatte ein Kind geboren – endlich. Jetzt konnten er und sein Vater diese Stadt verlassen und mussten nie wieder zurückschauen.

Simon zwängte sich an den Roben der Königin vorbei und stolperte in ihr Schlafgemach.

»Vater?«, fragte er atemlos.

Garver Randell, Simons Vater, drehte sich mit müden Augen, aber einem breiten Lächeln zu seinem Sohn. Hinter ihm lag Königin Rielle, ihre unbändigen schwarzen Haare klebten an ihrer blassen Haut, die Bettlaken und ihr weißes Nachthemd waren rot gefärbt. In ihren Armen hielt sie ein sich windendes Bündel.

Obwohl Simon beim Anblick der Königin vor Wut kochte, schlich er staunend näher ans Bett. Die neugeborene Prinzessin seines Königreiches war ein kleines Ding – mit zerknautschtem rotem Gesicht, die Haut etwas dunkler als die ihrer Mutter, großen braunen Augen und einem Büschel nasser schwarzer Haare.

Simon stockte der Atem.

Die Kleine sah ihrem verstorbenen Vater sehr ähnlich.

Rielle starrte das Kind an, dann blickte sie verblüfft zu Simons Vater.

»Ich dachte, ich würde sie umbringen«, sagte die Königin. Sie lachte und wischte sich mit zittrigen Fingern übers Gesicht. »Ich träumte davon. Und dennoch ist sie hier.« Unsicher rückte sie das Baby in ihren Armen zurecht. Babys zu halten, schien sie nicht gut zu beherrschen.

Es war eigenartig, die Königin so zu sehen. Vor ihren aufgetürmten Kissen wirkte sie schmächtig und kaum älter als ein junges Mädchen, obwohl sie bereits zwanzig Jahre alt war. Diese Königin, die sich mit den Engeln verbündet und ihnen dabei geholfen hatte, Tausende von Menschen umzubringen.

Diese Königin, die ihren Mann ermordet hatte.

»Audric hätte sie geliebt«, flüsterte Rielle und kämpfte gegen die Tränen.

Simon ballte seine kleinen Hände zu Fäusten. Wie konnte sie es wagen, über König Audric zu reden, wo sie ihn doch auf dem Gewissen hatte.

Über die Nacht, als die Hauptstadt fiel, wusste er nur ein paar Einzelheiten. Auf der breiten Terrasse, die vom dritten Stockwerk des Schlosses aus zugänglich war, hatte König Audric gegen Königin Rielle gekämpft. Im Schwert des Königs flammte das Licht der Sonne, seine mit Diamanten und Spiegeln besetzte Rüstung funkelte heller als die Sterne.

Aber nicht einmal König Audric der Lichtbringer, der mächtigste Sonnenbändiger seit Jahrhunderten, war stark genug gewesen, um Königin Rielle zu bezwingen.

Die Königin hatte aus dem Nichts ein Schwert geschaffen, eine grell blendende Waffe, geschmiedet vom Empirium selbst. Rielle und Audric kämpften Schwertschlag um Schwertschlag, aber der Kampf dauerte nicht lange.

Und als Rielle mit ihrer glühenden Hand in Audrics Brustkorb eintauchte, um sein Herz herauszureißen, und er zu ihren Füßen zu Asche zerfiel, lag in ihren Augen pure Mordlust.

Simon war kein gewalttätiges Kind, aber er befürchtete, wenn er die Königin noch eine Sekunde länger anschauen musste, würde er nach ihr schlagen.

Stattdessen murmelte er zu Audrics Ehren das Sonnenkönigin-Gebet – Möge das Licht der Königin ihn nach Hause führen – und drehte sich lieber zu seinem Vater.

In diesem Augenblick erstarrte Garver Randell. »Er weiß es«, flüsterte er und ging keuchend in die Knie.

Simon eilte zu ihm. »Vater? Was hast du? Was ist los?«

Garver umklammerte seinen Kopf, sein Körper zuckte. »Er weiß es, Gott steh uns bei, er weiß es«, stöhnte er, und als er aufsah, waren seine Augen grau verschleiert.

Simon wurde das Herz schwer. Er kannte solche Augen und wusste, was sie bedeuteten.

In den Geist seines Vaters war ein Engel eingedrungen.

Und dem Grauen nach zu urteilen, das sich auf seinem Gesicht abzeichnete, musste es Corien sein.

»Vater, hör mir zu! Ich bin bei dir!« Simon packte ihn am Arm. »Lass uns aufbrechen. Wir können jetzt fort von hier! Bitte, beeil dich!«

Hinter Simon sang die Königin leise: »So hält man sein kleines Kind. So tötet man seinen Ehemann.« Ihr Lachen war tränenerstickt.

»Er weiß, wer ich bin«, sagte Garver mit rauer Stimme.

Simon fürchtete sich noch mehr und konnte sich nicht mehr rühren.

Corien wusste – dass sein Vater ein Gezeichneter war, genau wie Simon auch. Weder Engel noch Mensch, aber mit beider Blut in den Adern.

Plötzlich kamen Simon die Male auf seinem Rücken, die unter seinem Hemd versteckt waren, wie Leuchtfeuer vor, die jedem in der eroberten Stadt verrieten, wo er sich versteckte. Seit Jahren schon lebten er und sein Vater unentdeckt in Celdarias Hauptstadt und verbargen ihren gezeichneten Rücken und ihre verbotene Magie. Sie waren ehrliche und fleißige Heiler gewesen, die von Bürgern und Tempelrichtern und sogar von Mitgliedern des Königshauses aufgesucht wurden.

Aber jetzt … jetzt wusste Corien Bescheid.

Simon schob seinen Vater zur Tür. »Komm, Vater, bitte!«

»Geh weg von mir!«, würgte Garver hervor. »Sonst wird er dich finden!« Er packte Simon am Kragen und stieß ihn von sich.

Simon schlug mit dem Kopf gegen das Himmelbett der Königin und sackte benommen zu Boden. Er sah mit an, wie sein Vater sich abwandte, kurz lachte und wieder seinen Kopf umklammerte. Sah, wie sein Vater wütend fremde Worte vor sich hin murmelte, mit einer Stimme, die halb ihm und halb Corien gehörte – und wie er schließlich humpelnd zum Terrassenfenster eilte.

Dann stürzte Garver Randell sich mit einem heiseren Schrei vom Turm der Königin.

Simon raffte sich auf, hielt sich taumelnd an den Bettvorhängen fest, stolperte nach vorn und fiel. Mit rasenden Kopfschmerzen und nur mühsam unterdrücktem Brechreiz kroch er zur Terrasse. An der Brüstung peitschte ihm der Wind von den Bergen ins Gesicht und er wagte es nicht, hinabzusehen. Er presste seine Wange gegen den kühlen Stein und schlang seine Arme um zwei Pfosten. Irgendjemand oder irgendetwas schien schrecklich zu würgen.

»Simon«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er selbst es war, der da würgte.

Er sprang auf.

»Das ist deine Schuld«, fuhr er Königin Rielle an. »Du bringst uns alle um! Du bist ein Monster! Du bist böse!«

Er wollte noch mehr sagen: Sie hatte jeden im Königreich Celdaria hintergangen, nein, jeden auf der ganzen Welt. Sie war die verheißene Sonnenkönigin, ihre Retterin und Beschützerin. Und dennoch war sie zur Blutkönigin geworden. Zum Königsfluch. Zur Herrin des Todes.

Aber Simons Tränen erstickten seine Stimme. Der Wind, der über die Berghänge fegte, ließ ihn frösteln. Sein kleiner Körper schwankte, er bekam kaum Luft.

Seine Welt wurde aus den Angeln gehoben, und er schlang ganz fest die Arme um sich und presste die Augen zusammen. Doch er wurde das Bild nicht los, wie sein Vater auf die Terrasse rannte und sich über die Brüstung stürzte.

»Vater«, flüsterte er, »bitte, komm zurück.«

Behutsam ließ sich die Königin ihm gegenüber auf einer Sitzbank nieder. Ihr Baby hielt sie noch immer im Arm. Sie war barfuß, die Füße voller Blut, und ihr Nachthemd war schweißgetränkt.

»Du hast recht, weißt du«, sagte Rielle. »Ich habe es tatsächlich getan.«

Simon war froh, dass die Königin nicht versuchte, sich zu entschuldigen. Ganz gleich, was sie sagte, nichts würde irgendetwas besser machen.

»Ich glaube«, fuhr Rielle langsam fort, »dass er sie umbringen wird.«

Simon schniefte und wischte sich über den Mund. Seine Zähne schlugen aufeinander. Er konnte nicht aufhören zu weinen. »Was meinst du damit?«

Rielle drehte sich zu ihm, ihre Lippen waren aufgesprungen und rissig. Früher, erinnerte sich Simon, fand er die Königin schön.

»Meine Tochter.« Rielles Stimme war dumpf. »Ich glaube, Corien wird sie umbringen. Zumindest wird er es versuchen.«

»Er sollte lieber dich umbringen«, spuckte Simon ihr entgegen.

Da musste Rielle lachen, fast hysterisch klang es, sie konnte gar nicht mehr aufhören, und Simon starrte sie wütend und verängstigt an – bis sie sich zu ihrem Kind beugte und ihre Wange an die Wange der Kleinen schmiegte. Das Baby gurrte und seufzte.

»So hält man«, flüsterte Rielle, »sein kleines Kind.« Leise gab sie einen Klagelaut von sich. »Audric hätte sie geliebt.«

Da verzerrte sich das Gesicht der Königin und sie schrie vor Schmerz. Sie presste ihr Baby gegen ihren Bauch, krümmte sich und rang nach Luft.

Unter Simons Füßen bebten die Steine. Die Wände der Gemächer der Königin schoben sich nach vorn und wieder zurück, als würden sie gemeinsam mit ihr atmen.

Rielles Haut glühte, veränderte sich, und für einen kurzen schrecklichen Augenblick dachte Simon, er könnte durch ihr Fleisch die dahinterliegenden Knochen und das Blut sehen – und sogar das noch tiefer liegende Licht. Ihre Konturen schimmerten golden, wie hingetupft, ein leuchtendes Geschöpf aus Funken und Glut.

Dann verblasste das Licht, und Rielle war wieder schwach und menschlich.

Simon wurde von seiner Angst fast überwältigt. »Was war das?«

»Jetzt dauert es nicht mehr lange.« Rielle richtete ihren funkelnden Blick auf ihn, und Simon schauderte. Die Haut um ihre Augen war dunkel und dünn. »Viel länger kann ich mich nicht mehr zusammennehmen.«

»Willst du damit sagen … dass du stirbst?«

»Ich habe es so lange versucht«, murmelte Rielle, und dann schrie sie wieder auf und wurde ganz starr. Aus ihren Fingern schossen Lichtblitze und fuhren als leuchtender Bogen über der Stadt in die Nacht hinaus. Auf dem Terrassenboden bildeten sich verkohlte Streifen und Risse.

Rielle sah auf, ihr Gesicht glänzte vor Schweiß. Unter ihrer Haut pulsierte in Wellen das Licht. Simon konnte seinen Blick nicht abwenden: Sie war das lieblichste und gleichzeitig das grauenhafteste Geschöpf, das er je gesehen hatte.

»Hast du … Schmerzen?«, fragte Simon.

Rielle lachte, eigentlich war es eher ein überraschtes Aufkeuchen. »Ich habe immer Schmerzen.«

»Gut«, antwortete Simon und schämte sich dann doch ein wenig. Es stimmte zwar, sie war ein Monster, aber ein erschöpftes Monster mit bloßen Füßen und einem Kind, das sie liebevoll in ihren Armen hielt.

Die Königin, hatte sein Vater immer zu ihm gesagt, wenn Simon nicht wusste, wohin mit seinem Hass, war einmal ein einfaches Mädchen. Vergiss das nicht. Vergiss sie nicht.

Dann wurde Rielle ganz still.

»Oh Gott«, flüsterte sie. »Er kommt.«

Simon wich zurück, in seinen Ohren rauschte es. »Corien?«

Rielle drückte sich an der Wand hoch, ihre Gesichtszüge, die sich ständig veränderten, waren jetzt schmerzverzerrt. »Ich darf nicht zulassen, dass er dich findet. Garver hat dich gut versteckt, aber sobald ihm klar wird, dass du jetzt hier bist und was du bist …«

Simon berührte seinen Rücken, als könnte er die Male darauf verbergen. »Du … du weißt über uns Bescheid?«

Über Rielles Gesicht huschte eine Regung, die Simon nicht einordnen konnte. »Eine Freundin hat es mir erzählt. Für alle Fälle … nun ja. Für den Fall, dass ich es wissen muss.«

»Das verstehe ich nicht –«

»Und mir bleibt keine Zeit, es dir zu erklären. Versteck dich mit ihr, halte dich von hier fern. Ich werde ihn ablenken.«

Und schon drückte Rielle ihre Tochter in Simons Arme und eilte zurück in ihre Gemächer.

Simon blickte erstaunt auf die Kleine. Mit ihren dunklen, ernsten Augen sah sie ihn unverwandt an, als wäre er die interessanteste Sache der Welt. Trotz seines brummenden Schädels und des schrecklich dumpfen Schmerzes in seinem Bauch schenkte Simon ihr ein kleines Lächeln.

»Hallo«, sagte er und berührte sie an der Wange. »Ich bin Simon.«

»Hier, nimm das.« Rielle war wieder aufgetaucht und in ihrer Hand lag eine Halskette – ein flacher goldener Anhänger, in den ein geflügeltes Pferd mit ausgebreiteten Schwingen eingraviert war. Auf dem Pferd saß eine Frau mit wehenden dunklen Haaren und einem im Triumph erhobenen Schwert. Hinter ihr verliefen fächerförmig Sonnenstrahlen.

Seit die Kirche Rielle vor zwei Jahren zu der prophezeiten Sonnenkönigin erklärt hatte, war dieses Bild in Celdaria sehr verbreitet.

Wie sehr sie Rielle doch alle geliebt hatten, früher einmal.

Während die Königin die Kette in die Decke ihres Babys steckte, beobachtete Simon sie ruhig. »Tut dir leid, was du getan hast?«

»Würde es dir besser gehen, wenn es so wäre?«

Simon wusste es nicht.

Die Königin küsste ihre Tochter auf die Stirn. »Dich bekommt er nicht«, flüsterte sie. »Dich nicht, mein Schatz.«

Dann drehte sie sich zu Simon, und bevor er es verhindern konnte, strich sie seine aschblonden Haare zur Seite und drückte auch ihm einen Kuss auf die Stirn. Dort, wo ihre Lippen ihn berührten, brannte seine Haut; ihm stiegen Tränen in die Augen. Er hatte den Eindruck, als stünde er am Rand eines schwankenden Felsvorsprungs, als würde gleich etwas Schreckliches passieren und er könnte nichts dagegen tun.

»Geh nach Borsvall«, befahl Rielle ihm. »Suche König Ilmaire und Kommandantin Ingrid. Zeige ihnen die Halskette. Sie werden euch verstecken.«

In Rielles entlegeneren Gemächern wurden Türen laut aufgestoßen.

»Rielle?«, brüllte Corien.

Rielle legte eine Hand an Simons Wange und schaute ihm in die Augen. »Was auch immer passieren mag, pass auf, dass er dich nicht sieht.«

Als sie gehen wollte, griff Simon nach ihrer Hand. Ohne sie würde er ganz allein sein mit diesem Kind, und plötzlich wünschte er sich nichts sehnlicher, als sein Gesicht in ihren Armen zu vergraben. Monster oder nicht, jetzt war sie Mutter, und nach einer Mutter sehnte er sich am allermeisten.

»Kannst du nicht bleiben?«, flüsterte er.

Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln. »Du bist stark, Simon. Du schaffst das.«

Dann eilte sie nach drinnen und stellte sich Corien mitten in ihrem Schlafzimmer entgegen.

»Wo ist es?« Coriens Stimme klang leise und gefährlich.

Simon verlagerte sein Gewicht ein wenig und lugte durch den schmalen Spalt der Vorhänge. Als er den Anführer der Engel erblickte – ein schöner Mann, blass und wie in Stein gemeißelt, mit glänzendem schwarzem Haar und vollen Lippen, die ein grausamer Zug umspielte –, setzte sein Herzschlag einen Moment lang aus.

»Sie«, verbesserte Rielle ihn. »Ich habe eine Tochter.«

Coriens Blick war noch immer tödlich. »Und wo ist sie

»Ich habe sie weit weggeschickt. Mit jemandem, der so mächtig ist, dass du sie niemals finden wirst.«

Simon schöpfte Mut. War etwa jemand unterwegs, um ihnen zu helfen?

Corien lachte unfreundlich. »Ach ja? Und wer soll das sein?«

»Versuche gern, die Wahrheit herauszufinden«, sagte Rielle, »aber dann wirst du schnell merken, dass du nicht länger in mir willkommen bist.«

Mit einem Knurren schlug Corien ihr fest ins Gesicht. Rielle stolperte, ihre Lippen waren blutverschmiert, und Simon fing ihren Blick auf. Ihre flammend goldenen Augen wirkten entschlossen und triumphierend. Ihre erschöpfte Miene strahlte eine Stärke aus, die er so an ihr nicht kannte.

Ich habe sie weit weggeschickt. Mit jemandem, der so mächtig ist, dass du sie niemals finden wirst.

Du bist stark, Simon. Du schaffst das.

Und plötzlich wurde Simon klar, dass niemand kommen würde, um ihnen zu helfen.

Er selbst war der mächtige Jemand.

Es lag also allein an ihm, die Prinzessin zu retten.

Wenn er sie beide Hunderte von Kilometern nach Borsvall und in Sicherheit bringen wollte, würde er seine magischen Kräfte gebrauchen müssen – die Magie eines Halbblut-Gezeichneten, die Reisemagie, die fast jedem seiner Art bisher Unglück gebracht hatte.

Rielle richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Corien.

»Du solltest besser nicht so wütend werden«, sagte sie zu ihm. »Wenn du wütend wirst, machst du Fehler. Wenn du nicht so blind vor Wut gewesen wärst, dann wärst du bei mir geblieben und hättest sie in dem Moment, als sie geboren wurde, gepackt, um ihr an Ort und Stelle die Gurgel durchzuschneiden.«

Corien lächelte kalt. »Dafür hättest du mich wahrscheinlich getötet.«

Die Königin zuckte mit den Schultern. »Womöglich töte ich dich sowieso.«

Simon wandte sich ab, seine Brust war vor Angst wie zugeschnürt. Wie sollte ihm das bloß gelingen? Er war erst acht Jahre alt. Natürlich hatte er seine Reisebücher ein ums andere Mal gelesen, aber er begriff noch immer nicht alles, was darin stand. Und nach dem, was sein Vater ihm über die vergangenen Zeiten erzählt hatte, als die Gezeichneten noch nicht von Menschen und Engeln zur Strecke gebracht worden waren, versuchten die meisten seiner Art sich erst im Erwachsenenalter am Reisen.

Du schaffst das, Simon, erklang eine Stimme. Eine Frauenstimme, doch nicht die der Königin. Vertraut, aber …

Er wirbelte herum, spähte in die Dunkelheit, entdeckte jedoch niemanden.

Du musst das schaffen, sagte die Stimme. Du und das Kind, Simon, ihr seid die Einzigen, die uns retten können. Beeile dich jetzt. Bevor er dich entdeckt. Dein Vater hat dich gut versteckt, aber ich kann dich nicht weiter schützen.

Aus dem Schlafzimmer kam ein sattes, volles Geräusch. Glas zerschellte am Boden. Die Königin schrie auf und Corien zischte ihr etwas Hasserfülltes zu.

Das Schloss stöhnte. Die Wand, hinter der Simon sich verbarg, grollte, als würde etwas tief im Inneren des Schlosses erwachen. Aus dem Schlafzimmer drang explosionsartig ein Schwall heißer Luft, die Fenster zersplitterten. Simon beugte sich tief über das Baby und drückte es gegen seine Brust. Die Kleine wand sich und stieß einen gedämpften, wütenden Schrei aus.

»Scht, bitte!«, flüsterte Simon. Um ihn herum vibrierte die Luft, die Terrasse unter seinen Füßen schwankte. Schweißperlen liefen ihm den Rücken hinab. Aus dem Schlafzimmer quoll surrend ein helles Licht, das immer strahlender leuchtete.

Er schloss die Augen, versuchte die seltsame Frauenstimme zu vergessen und sich zu konzentrieren. Er musste sich an die Worte aus seinen verbotenen Büchern erinnern, die jetzt verwaist unter den Bodendielen im Geschäft seines Vaters lagen:

Das Empirium ruht in jedem Lebewesen und jedes Lebewesen ist Teil des Empiriums.

Seine Macht verbindet nicht nur Haut mit Knochen, Wurzeln mit Erde, Sterne mit Himmel, sondern auch Straße mit Straße und Stadt mit Stadt.

Augenblick mit Augenblick.

Nur Gezeichnete, das wusste Simon, hatten diese mächtige Gabe. Die Gabe zu reisen. Die Fähigkeit, von einem Augenblick zum anderen riesige Entfernungen zu überwinden und einfach durch die Zeiten hindurchzuspazieren, so wie Menschen Straßen entlangspazierten.

Simon hatte sich schon oft vorgestellt, wie es wäre, wenn er in die Zeit zurückreisen könnte, bevor die Pforte gebaut wurde – lange vor den frühen Kriegen, damals, als Engel noch auf der Erde wandelten und Drachen den Himmel bevölkerten.

Aber über Zeit durfte er nicht nachdenken, nicht jetzt. Zeit war gefährlich und nur schwer fassbar. Er sollte lieber über Entfernungen nachdenken: von Celdaria nach Borsvall.

»Nein, Rielle«, schrie Corien. »Nein! Tu das nicht!«

Simon warf einen Blick in Rielles Gemach zurück, wo die Königin kniete, ihr Gesicht dem Himmel zugewandt, und sich nur mühsam aufrecht hielt, während sie von strahlendem Licht umhüllt wurde. Corien schlug auf das Licht ein und verbrannte sich die Fäuste, aber es gelang ihm nicht, sie zu berühren. Er schlug und brüllte, verfluchte sie und flehte sie an.

All seine Beschimpfungen waren nutzlos. Rielles Körper öffnete sich in lange Lichtstrahlen, ihre Haut platzte ab und wurde wie Asche vom Wind verweht.

Simon wandte seinen Blick ab. »Keine Angst, ich lass dich nicht los«, flüsterte er der Prinzessin zu. »Ich halte dich fest.«

Er schloss die Augen, biss sich auf die Lippe und ignorierte Coriens verzweifelte Schreie und das blendende Licht, das von der Königin ausging. Er richtete seine Gedanken nach Nordosten auf Borsvall. Dann lenkte er seinen Atem in jede Faser seines Körpers, jeden Muskel und jeden Knochen, genau so, wie er es in seinen Büchern gelesen hatte.

Jetzt.

Er riss die Augen auf.

Vor ihm schwebten dünn und durchscheinend ineinander verschlungene Bänder aus Licht.

Mit pochendem Herzen und nur einem Arm hielt Simon die Prinzessin eng an sich gedrückt und streckte den anderen aus. Er hörte in sich hinein, tief in seinem Inneren kannte er den Weg, so wie er wusste, wann er laufen musste, schlucken oder atmen. Er fühlte in die Nacht hinein und suchte nach den richtigen Bändern von hier nach dort. Irgendwo da draußen lag ein Weg, den er zwar nicht sehen konnte, den die Macht, die durch seine Adern pulsierte, aber zweifellos kannte. Jetzt musste er nur noch das entsprechende Band finden, es aufknüpfen und wie einen Teppich vor seinen Füßen ausrollen.

Da.

Vor seinen Fingerspitzen tanzte ein einzelnes Band, das heller als die anderen leuchtete.

Simon traute sich fast nicht, danach zu greifen. Wenn er sich zu langsam oder zu schnell bewegte oder sich nicht genug konzentrierte, würde das Band ihm entwischen.

Hinter ihm schrie die Königin Corien an, ihre Stimme war voller Zorn. »Ich gehöre dir nicht mehr!«

Zum Zaudern blieb keine Zeit. Simon griff nach dem hellsten Band und wickelte es wie eine glänzende Haarlocke vorsichtig um seine Finger.

Lass dir einen Moment Zeit, hatte in seinen Büchern gestanden, um dein Band kennenzulernen. Je vertrauter es dir ist, desto wahrscheinlicher wird es dich dorthin bringen, wohin du willst.

Während Simon auf das Band starrte, das in seiner Hand schwebte, nahmen andere an Helligkeit zu und trieben durch die Kraft seiner Gedanken in seine Richtung.

Obwohl die Bänder unangenehm auf der zarten Haut seiner Handteller brannten, nahm er sie auf und lenkte sie durch die kalte Nachtluft. Schon bald hatte er sie zu einem flackernden Ring gewunden und hinter diesem Ring führte ein Weg in die Dunkelheit.

Das erste Band, das hellste, näherte sich Simons Brustkorb, verfing sich dort wie eine Dornenranke und zog ihn sanft vorwärts.

Simon kam sich albern vor, schickte dem Band in Gedanken aber trotzdem ein Hallo.

Der Druck, mit dem es ihn berührte, ließ etwas nach.

Hinter dem Durchgang, der sich ständig veränderte, aber immer deutlicher wurde, zeichneten sich schwach Umrisse ab: ein sich windender Pfad aus schwarzen Steinen, ein hohes, schmales Tor. Berge mit schnee- und eisbedeckten Gipfeln. Soldaten, die ehrfürchtig auf etwas zeigten und sich in ihrer harten Borsvall-Sprache etwas zuriefen.

In Simons jungem Körper spannten sich alle Muskeln. Die Welt verblasste mit jedem Atemzug mehr. Und doch stieg ein Lachen in ihm auf. Glücklicher würde er wohl nie wieder sein. Diese Macht war nicht einfach zu steuern, aber sie fühlte sich richtig an und sie gehörte ihm.

Plötzlich rief Königin Rielle etwas, Simon verstand sie nicht. Ihre Stimme brach.

Coriens verzweifelte Schreie klangen heiser und gequält.

Simon holte Luft, seine Ängste umkreisten ihn wie ein Schwarm Insekten.

Dann schluckte plötzlich vollkommene Stille jedes Geräusch – das Weinen des Säuglings, die sirrenden Bänder. Die Welt verstummte.

In dem Moment, als Simon zurückschaute, schoss eine Lichtsäule aus dem Schlafzimmer der Königin hinaus in die Nacht und tauchte den Himmel in helles Dämmerlicht. Simon schützte sein Gesicht und beugte den Kopf über den Säugling in seinen Armen. Seine Reisehand zitterte vor Anstrengung. Eine Sekunde später zerbrach die Stille mit einem ohrenbetäubenden Knall, der die Berge zum Beben brachte und Simon beinahe von den Füßen riss.

Das Schloss rutschte unter ihm weg. In der Luft über der Hauptstadt lag plötzlich ein Brandgeruch. Einer der umliegenden Berge stürzte in sich zusammen, und dann noch einer und noch einer.

Halte sie gut fest – da war die Frauenstimme wieder, hoch und deutlich hörte Simon sie in seinem Kopf. Lass sie auf keinen Fall los.

Die Bänder entglitten dem Zugriff seiner Gedanken. Simon spürte einen Zug, der von der Stelle, wo das Band an seiner Brust zerrte, bis zu seinen Füßen reichte.

Geh, Simon!, rief die Frauenstimme. Jetzt!

Simon schritt auf den Ring aus Licht zu, der nach Osten zeigte – als sich hinter ihm eine glutheiße Hitze ausbreitete.

Die letzten Dinge, die Simon wahrnahm, begriff er nur allmählich:

Eine grelle Feuerwand, brausend wie unzählige Feuersbrünste, rast von allen Seiten auf ihn zu. Während er den Ring aus Bändern durchquert, verschieben sich die Luftmassen und gleiten wie kaltes Wasser über seine Haut. Die Prinzessin in seinen Armen schreit.

Die Berge von Borsvall verblassen.

Das Band, das sich an sein Herz geheftet hat, verändert sich. Verdreht sich.

Wird dunkler.

Und reißt mit einem Donnerschlag.

Etwas kracht mit voller Wucht gegen ihn und zieht ihn vorwärts.

Das Baby wird aus seinen Armen gerissen, ganz gleich wie sehr er es festzuhalten versucht.

Ein Stück Stoff, das in seinen Fingern zerreißt.

Und dann, nichts.

Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1)

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