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2 ELIANA

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»Eliana sagt, an dem Tag, als das Imperium unsere Stadt einnahm, konnte man vor lauter Blutgeruch kaum atmen. Sie sagt, ich soll froh sein, dass ich noch ein Baby war, aber ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern. Vielleicht wäre ich dann ja stärker. Ein Krieger. So wie sie.«

Tagebuch von Remy Ferracora, Bürger von Orline

3. Februar im Jahr 1018 des Dritten Zeitalters

1020 JAHRE SPÄTER

Eliana war auf der Jagd, als sie den ersten Schrei hörte.

In der Großstadt Orline waren Schreie nichts Ungewöhnliches, besonders in den Brachen, wo sich die Elendsviertel über die Landungsbrücken erstreckten und ein düsteres Bild des Jammers boten.

Dieser allerdings war hoch und grell – der Schrei eines jungen Mädchens – und brach so abrupt ab, dass Eliana glaubte, sie hätte sich ihn nur eingebildet.

»Hast du das gehört?«, fragte sie Harkan flüsternd, der neben ihr an die Wand gepresst stand.

Harkan straffte sich. »Was gehört?«

»Diesen Schrei. Von einem Mädchen.«

»Ich habe keinen Schrei gehört.«

Eliana warf einen kurzen Blick in das verdunkelte Fenster neben ihnen, zupfte ihre neue Samtmaske zurecht und bewunderte ihre schlanke Figur. »Tja, wir alle wissen ja, wie scheiße du hörst.«

»Ich höre nicht scheiße«, brummte Harkan.

»Zumindest nicht so gut wie ich.«

»Es können schließlich nicht alle so großartig sein wie der Fluch von Orline.«

Eliana seufzte. »Traurig, aber wahr.«

»Allerdings glaube ich, dass selbst ich mit meinem bescheidenen Gehör einen Schrei hören würde. Wahrscheinlich hast du dir den nur eingebildet.«

Was Eliana bezweifelte.

In letzter Zeit waren immer wieder Mädchen und Frauen aus Orline verschwunden. Sie waren weder zu den Arbeitslagern des Imperiums verschifft noch in den Jungferntrakt des Palastes des Lords von Orline verschleppt worden. Darüber wäre geredet worden, das hätte irgendwelche Spuren hinterlassen.

Diese kürzlich verschwundenen Mädchen waren einfach geholt worden. In einem Moment waren sie noch da gewesen und im nächsten verschwunden.

Anfangs war Eliana das gleichgültig gewesen. Aus ihrem Stadtviertel war noch niemand weggeholt worden, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass das Imperium seine bevorzugten Bürger jemals entführen würde. Ihre Familie war in Sicherheit. Und deshalb war das alles nicht ihr Problem.

Aber je mehr Mädchen verschwanden und je mehr Geschichten sie über Frauen hörte, die sich scheinbar in Luft auflösten, desto schwerer fiel es ihr, die Lage zu ignorieren. So viele Schwestern waren fort, so viele Mütter – ihren Angehörigen entrissen, im Schlaf geraubt. Keine Verbrecher, keine Rebellen der Roten Krone.

Und dann gab es diese Gerüchte, die sich in manchen Kreisen hartnäckig hielten, obwohl sie völliger Unsinn waren, über ein Loch im Himmel auf der anderen Seite der Welt. Vielleicht in Celdaria. Vielleicht in den Sunderlands. Jedes Gerücht erzählte etwas anderes. Und manche Leute glaubten, dass alles miteinander zusammenhing – das Loch im Himmel, die verschwundenen Mädchen.

Eliana nicht. Ein Loch im Himmel? Das klang eher nach einer Befürchtung, die sich selbstständig gemacht hatte. Die Leute wurden tatsächlich so hysterisch, dass sie in uralten Legenden nach irgendwelchen Hinweisen und nach Trost suchten.

Eliana weigerte sich, da mitzumachen.

Dann hörte sie es wieder: ein zweiter Schrei. Näher diesmal.

Eliana überkam ein ungutes Gefühl, ihr jagten heftige Schauer über den Rücken. Die Welt kippte, erstarrte und richtete sich wieder auf. Der süße Duft, den die weißen Blüten des Gemmabaums über ihrem Kopf verströmten, roch auf einmal ranzig.

Harkan verlagerte leicht sein Gewicht. »Alles in Ordnung?«

»Spürst du das nicht?«

»Was soll ich spüren? Was ist heute Abend mit dir los?«

»Da ist …« Die Ränder ihres Gesichtsfeldes flirrten wie bei einer Luftspiegelung. »Ich weiß auch nicht, was da ist. Als wäre ein Adatrox in der Nähe, nur noch schlimmer.«

Als sie die Soldaten des Imperiums erwähnte, verlor Harkan seine Gelassenheit. »Ich sehe keine Adatrox. Bist du dir sicher?«

Ein dritter Schrei – noch verzweifelter diesmal, und er wurde sofort erstickt.

»Egal, wer das ist«, murmelte Eliana nervös und wütend, »sie sind in der Nähe.«

»Was? Wer?«

»Arabeths nächste Mahlzeit.«

Eliana grinste Harkan kurz an, dann zog sie Arabeth aus der Scheide – einen langen Dolch mit gezackter Klinge, den sie an der Hüfte trug. »Zeit zum Spielen.«

Nachdem sie einen letzten Blick auf ihr Spiegelbild geworfen hatte, flitzte sie aus dem Verborgenen in die engen, schmutzigen Gassen der Unterstadt von Orline. Harkan rief ihr nach, doch sie ignorierte ihn. Wenn er sie aufhalten wollte, sollte er das ruhig versuchen, allerdings würde er dann in zwei Sekunden flach auf dem Rücken liegen.

Eliana grinste. Das letzte Mal, als sie ihn so festgenagelt hatte, war auf seinem Bett gewesen.

Sie konnte sich wirklich nicht entscheiden, welches Umfeld ihr besser gefiel.

Jetzt wollte sie aber keinen Streit vom Zaun brechen. Nicht wenn sie einen Mädchenfänger jagen musste.

Sie betrat die Brachen und schlüpfte zwischen geflickten Zelten und windschiefen Bretterbuden hindurch, hier und da glomm schwach eine Feuerstelle. Hinter dem Gelände schob sich der weite Fluss vorüber, Berge von schwärendem weißem Moos verstopften die Ufer.

Als sie mit zehn Jahren zum ersten Mal in diesem Elendsviertel gewesen war, hätte sie sich beinahe übergeben, so schlimm war der Gestank. Das hatte ihr einen strengen Blick ihrer Mutter eingebracht.

Heute, acht Jahre später, fiel ihr der Gestank kaum noch auf.

Sie spähte in die Nacht. Ein Bettler leerte die Taschen eines ohnmächtigen Betrunkenen. Ein hagerer junger Mann, fein frisiert und gepudert, lockte eine Frau durch eine bemalte Tür.

Wieder ein Schrei. Leiser. Sie waren auf dem Weg zum Fluss.

Das Gefühl, das Eliana über den Rücken kroch, wurde klarer. Es war – anders ließ es sich nicht beschreiben –, als hätte es einen eigenen Willen.

Sie stand vornübergebeugt, stützte sich auf den Knien ab und presste die Augen zusammen. Hinter ihren Lidern tanzten farbige Punkte. Neben ihr hatte jemand eine alberne Zeichnung von einer schwarz gekleideten, maskierten Frau auf einen ramponierten Stützbalken gekritzelt, die mit einem Messer in jeder Hand durch die Luft sprang.

Obwohl dieses üble Gefühl ihre Sehkraft beeinflusste, musste Eliana grinsen.

»Bei aller Liebe zu den Heiligen, was machst du da, El?« Harkan trat neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Was ist los? Bist du verletzt?«

»Ich? Verletzt?« Sie musste stark gegen den Brechreiz ankämpfen. »Liebster Harkan.« Großspurig zeigte sie auf die Zeichnung. »Wie kannst du so etwas nur vom Fluch von Orline denken?«

Und schon rannte sie los und sprang vom höchsten Stockwerk der Hafenanlage zu einem etwa dreißig Meter tiefer liegenden. Den Aufprall nahm sie nur als leichten Ruck wahr. Im Nu stand sie wieder auf den Beinen und rannte weiter. Bei einem solchen Sprung würde Harkan sich beide Beine brechen, er musste den langen Weg nach unten nehmen.

Wenn Remy jetzt hier wäre, würde er sagen, dass sie sich nicht so auffällig verhalten sollte.

»Die Leute bekommen das allmählich mit«, hatte er erst kürzlich zu ihr gesagt. »Ich habe sie in der Bäckerei reden hören.«

Eliana hatte ausgestreckt auf dem Boden ihres Schlafzimmers gelegen und unschuldig »Was reden sie denn?« gefragt.

»Wenn ein Mädchen mitten auf dem Gartenplatz drei Stockwerke tief herunterfällt und sofort wieder auf den Beinen ist, bemerken das die Leute normalerweise. Besonders wenn es einen Umhang trägt.«

Beim Gedanken an ihre großen Augen und ehrfurchtsvollen Mienen hatte Eliana lächeln müssen. »Und was, wenn ich will, dass sie mich bemerken?«

Remy hatte eine ganze Weile geschwiegen. Dann sagte er: »Willst du etwa, dass der Invictus kommt und dich mir einfach wegnimmt?«

Daraufhin war sie verstummt. Sie hatte in das blasse, schmale Gesicht ihres kleinen Bruders geschaut und ihr war anders geworden.

»Tut mir leid«, hatte sie leise gesagt. »Ich bin so ein Esel.«

»Es ist mir egal, ob du ein Esel bist«, hatte er geantwortet. »Gib einfach nicht so an.«

Sie wusste, dass er recht hatte. Das Problem war nur, dass sie gern angab. Wenn sie schon ein Sonderling mit wunderbarem Körper war, dem kein Sturz etwas anhaben konnte, wollte sie wenigstens ein bisschen Spaß damit haben. Dann blieb ihr auch keine Zeit, sich zu fragen, warum ihr Körper das alles konnte.

Oder was das Ganze zu bedeuten hatte.

Während sie durch die Hafenanlage rannte, folgte sie der Spur der Ungerechtigkeit wie dem Geruch einer Beute. Im untersten Stock des Gebäudes war es ruhig, die Sommerluft hing reglos und schwer zwischen den Mauern. Sie rannte um eine Ecke und um eine zweite – und hielt inne. Am Rand dieses wackeligen Piers wurde der Geruch, das Gefühl aufgewirbelt. Sie zwang sich weiterzugehen, obwohl ihr Magen rebellierte und ihr das Blut in den Ohren rauschte. Ihr ganzer Körper schrie geradezu, nicht näher hinzugehen.

Dort am Rand des Stegs warteten zwei Gestalten – maskiert und in dunklen Reisekleidern – in einem langen eleganten Boot. Vermutlich Männer, ihrem großen, kräftigen Körperbau nach zu schließen. Eine dritte Person trug ein kleines Mädchen mit goldbrauner Haut, genau wie die von Harkan. Das Mädchen wehrte sich, in seinem Mund steckte ein Knebel und es war an Hand- und Fußgelenken gefesselt.

Rote Krone? Unwahrscheinlich. Was wollten die Rebellen mit gestohlenen Kindern? Und wenn die Rote Krone in diese Entführungen verwickelt wäre, hätte Eliana bestimmt schon Gerüchte aus der Unterwelt gehört.

Vielleicht waren es ja Kopfgeldjäger, so wie sie, aber warum sollte das Unsterbliche Imperium für etwas bezahlen, was es sich doch einfach nehmen konnte? Und dann in einer Gruppe zusammenarbeiten? Äußerst unwahrscheinlich.

Eine der beiden Gestalten im Boot streckte die Arme aus, um das Mädchen entgegenzunehmen. Auf dem Boden lagen dicht an dicht einige Bündel – weitere Frauen, weitere Mädchen, gefesselt und bewusstlos.

Elianas Wut war entfacht.

Sie zog den langen dünnen Pfeifer aus ihrem linken Stiefel.

»Wohin des Wegs, meine Herren?«, rief sie und rannte auf sie zu.

Als der Mann auf dem Pier sich umsah, war Eliana schon bei ihm. Sie machte eine halbe Drehung und erwischte ihn mit dem Stiefel unter dem Kinn. Er fiel und rang nach Luft.

Einer der Männer sprang vom Boot auf den Kai. Eliana zog ihm Arabeth über die Kehle und stieß ihn zu seinem Kameraden ins Wasser.

Siegesgewiss wandte sie sich zu dem Entführer, der noch im Boot wartete, und winkte ihm zu.

»Kommst du, Schätzchen?«, sagte sie gurrend. »Oder hast du etwa Angst vor mir?«

Früher war sie vor dem Töten zurückgeschreckt. Ihr erstes Mal lag sechs Jahre zurück, damals war sie zwölf gewesen. Rozen Ferracoara, Elianas Mutter, hatte sie bei einem Auftrag mitgenommen – dem letzten, den Rozen vor ihrer Verletzung angenommen hatte –, aber irgendjemand hatte sie verpfiffen. Die Rebellen wussten, dass sie kommen würden. Sie waren in einen Hinterhalt geraten.

Rozen hatte zwei von ihnen niedergestreckt, während Eliana im Verborgenen blieb. Ich halte dich vom Töten fern, solange es geht, meine Süße, hatte ihre Mutter immer gesagt. Schau fürs Erste nur zu. Lerne. Übe. Ich bringe dir bei, was mein Vater mir beigebracht hat.

Als einer der Rebellen Rozen zu Boden drückte, spürte Eliana nichts als blinde Wut.

Sie hatte sich auf die Rebellin gestürzt und ihre kleine Klinge tief in den Rücken der Frau gestoßen. Danach stand sie fassungslos da und sah dabei zu, wie die Frau in einer Lache aus Blut ihr Leben aushauchte.

Rozen hatte Eliana an der Hand genommen und war mit ihr davongeeilt. Zu Hause in der Küche hatte ihr Bruder Remy – er war damals fünf Jahre alt – große Augen gemacht, als Elianas Schock in Panik umschlug. Mit Händen, noch immer rot vor Blut, hatte sie sich in den Armen ihrer Mutter heiser geschluchzt.

Zum Glück war das Töten einfacher geworden.

Aus den Schatten stürzten zwei maskierte Gestalten, die kleine Bündel mit sich trugen. Noch mehr Mädchen? Sie warfen die Bündel zu ihrem Kameraden ins Boot und stellten sich ihr entgegen. Geschickt wich sie einem Schlag aus, und noch einem, musste dann aber einen harten einstecken, der sie im Magen traf, und bekam einen heftigen Kinnhaken verpasst.

Sie stolperte, schüttelte sich. Der Schmerz verging so rasch, wie er gekommen war. Sie fuhr herum und erstach einen weiteren der brutalen Kerle, der ins schmutzige Wasser kippte.

Dann wurde ihr speiübel, so schlimm, als würde ihr jemand einen Stiefelabsatz in den Bauch bohren. Sie ging in die Knie und rang nach Luft. Auf ihren Schultern lastete ein schweres Gewicht, sie konnte nicht mehr klar sehen und wurde fest auf den glitschigen Kai gepresst.

Fünf Sekunden. Zehn. Dann verschwand der Druck. Die Luftmassen um ihren Körper waren nicht länger verschoben, ihre Haut kribbelte nicht mehr. Sie hob den Kopf und zwang sich, die Augen zu öffnen. Das Boot glitt davon.

Wutentbrannt kam Eliana auf die Füße, ihr war immer noch schwindelig. Gerade als sie zum Kopfsprung ansetzte, legte sich ein starker Arm um ihre Taille und hielt sie zurück.

»Lass mich los«, sagte sie gereizt, »sonst werde ich ungemütlich.« Sie rammte Harkan ihren Ellenbogen in die Rippen.

Er fluchte, ließ aber nicht los. »Hast du den Verstand verloren, El? Diese Mädchen gehen dich nichts an.«

»Sie haben sie entführt.« Sie trat heftig auf seinen Spann, wand sich aus seinem Griff und rannte zum Ende des Kais.

Harkan folgte ihr, schnappte sie am Arm und zog sie zu sich herum. »Das tut nichts zur Sache. Es geht dich nichts an.«

Ihr Lächeln war eiskalt. »Wann ist es je zu deinem Vorteil ausgegangen, wenn du mich zurückgehalten hast? Oh, warte …« Sie kam näher und lächelte freundlich. »Ein, zwei Gelegenheiten fallen mir doch tatsächlich ein –«

»Hör auf, El. Was hast du mir die ganze Zeit gepredigt?« Er schaute mit seinen dunklen Augen fest in ihre. »Nicht dein Auftrag, nicht dein Problem.«

Ihr Lächeln erstarb. Sie riss ihren Arm los. »Die Entführungen hören einfach nicht auf. Aber warum? Wer sind diese Leute? Und warum nehmen sie ausschließlich Mädchen? Und was war das für ein … für ein Gefühl? So etwas habe ich noch nie erlebt.«

Er sah sie unsicher an. »Vielleicht brauchst du einfach Schlaf.«

Sie zögerte, erste Zweifel kamen in ihr auf. »Hast du gar nichts gespürt?«

»Tut mir leid, nein.«

Trotzig starrte sie ihn an und ignorierte dieses irritierende Gefühl in ihrem Bauch. »Na gut, aber das Mädchen war keine Rebellin. Sie war noch ein Kind. Warum machen sie sich die Mühe, sie mitzunehmen?«

»Egal welchen Grund sie haben, es ist nicht unser Problem«, wiederholte Harkan. Er atmete langsam und tief ein, wahrscheinlich um sich selbst zu überzeugen. »Zumindest nicht heute Abend. Wir haben noch etwas zu erledigen.«

Eliana schaute lange auf den Fluss hinaus. Sie stellte sich vor, wie sie ein Gesicht in eine makellose Steinplatte ritzte – ohne Narben und unerschrocken. Mit einem seltenen unnachgiebigen Lächeln und Augen, so stechend wie Messer in der Nacht. Als sie damit fertig war, war ihre Wut verflogen und das gefühllose Gesicht zu ihrem geworden.

Sie drehte sich zu Harkan und rang sich das leichte schnippische Lächeln ab, das er so gar nicht an ihr mochte. »Wollen wir? Diese Schweinehunde haben meinen Appetit angeregt.«


Der Schmuggler der Roten Krone, der unter dem Namen Quill bekannt war, brachte sowohl Menschen als auch Informationen unbemerkt aus Orline heraus. Und er war gut darin – einer der Besten.

Es dauerte Wochen, bis Eliana und Harkan ihn aufgespürt hatten.

Jetzt kauerten sie auf einem Dach. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf den winzigen Innenhof in der Altstadt, wo Quill ihren Informationen zufolge eine Gruppe von Rebellen-Sympathisanten treffen sollte, die aus der Stadt fliehen wollten. Im Hof roch es penetrant nach den süß duftenden Rosen, die an den Mauern emporrankten.

Harkan neben ihr regte sich, er hatte wohl etwas gehört.

Eliana beobachtete die dunklen Gestalten, die gerade den Hof betraten und sich unter einer Kletterrose in der Ecke zusammenkauerten. Sie warteten.

Kurze Zeit später kam eine vermummte Gestalt durch das Eingangstor und näherte sich ihnen. Eliana schloss die Finger um ihren Dolch, ihr Herz raste.

Die Wolken trieben weiter, der Hof lag jetzt hell im Mondlicht.

Eliana hielt angespannt die Luft an.

Quill. Das musste er sein. Er humpelte leicht, es war eine Verletzung, die er bei der Invasion davongetragen hatte.

Und hier warteten eine Frau und drei kleine Kinder auf ihn.

Harkan fluchte gedämpft. Er zeigte auf die Kinder, machte mit der Hand ein Zeichen. Er und Eliana hatten vor Jahren, als sie nach Rozens Verletzung zum ersten Mal zusammen auf Jagd gegangen waren, eine Geheimsprache entwickelt. Harkan hatte darauf bestanden, dass sie nicht alleine loszog, und deshalb gelernt, wie man jagte und Fährten las, wie man tötete, seine eigenen Leute angriff und stattdessen dem Imperium diente – und das alles nur für sie.

Nein, signalisierte er ihr. Abbruch.

Sie wusste, was ihn berührte. Die Kinder gehörten nicht zu ihrem Auftrag. Quill war eine Sache, aber die Vorstellung, dem Lord von Orline unschuldige Kinder auszuhändigen … Damit würde Harkan nicht klarkommen.

Und sie, ehrlich gesagt, auch nicht.

Aber dort im Schatten des Eingangs zum Hof standen drei Rebellen: Quills Begleiter und Beschützer. Sie durften keine Zeit verlieren. Wenn sie die Familie verschonten, gingen sie ein viel zu hohes Risiko ein. Sie und Harkan mussten schnell handeln.

Sie schüttelte den Kopf. Hol sie dir, bedeutete sie ihm.

Harkan atmete laut ein, seine grimmige Enttäuschung war unüberhörbar.

Quill drehte blitzschnell den Kopf.

Eliana sprang vom Dach, landete geschmeidig, rollte sich ab und stand sofort wieder auf den Füßen.

Wie schade, dachte sie, dass ich mich nicht einfach zurücklehnen und mir beim Kämpfen zuschauen kann. Bestimmt sieht es so gut aus, wie es sich anfühlt.

Quill zog einen Dolch, die Mutter fiel auf die Knie und flehte um Gnade. Der Schmuggler schob seine Kapuze zurück. Er war mittleren Alters und rotgesichtig, hatte wache Augen und strahlte eine gewisse Gelassenheit aus – Den Tod fürchte ich nicht, aber die Kapitulation, schien sie zu besagen.

Vier Sekunden später hatte Eliana ihm sein kaputtes Bein weggetreten, ihn um sein Messer erleichtert und ihm mit dem Griff auf den Hinterkopf geschlagen. Er stand nicht wieder auf.

Sie hörte, wie Harkan hinter ihr landete, und dann die raschen Schritte der anderen Rebellen, die in den Innenhof stürmten. Wenig später hatten sie die Rebellen zur Strecke gebracht. Eliana wirbelte herum und warf ihren Dolch. Er blieb in der hölzernen Hoftür stecken und nagelte das älteste Kind mit seinem Mantel daran fest.

Die anderen erstarrten und brachen in Tränen aus.

Die Mutter lag mit glasigen Augen auf einem Bett verblühter Rosen. Aus ihrem Herzen ragte der Dolch eines Rebellen.

Eliana riss ihn heraus. Eine weitere Klinge für ihre Sammlung. Warum hatten die Rebellen diese Frau getötet?, fragte sie sich. Um sich selbst zu schützen?

Oder waren sie gnädig gewesen, weil sie wussten, was ihr sonst bevorstand?

»Hol die Wachen«, befahl Eliana und durchsuchte die Mutter nach Wertgegenständen. Sie fand lediglich ein kleines Götzenbild des Kaisers, das aus Lehm und Zweigen gefertigt worden war. Bestimmt trug sie es nur für den Fall bei sich, dass sie von einer Adatrox-Patrouille angehalten und durchsucht würde. Die schwarzen Knopfaugen auf dem Bild glitzerten im Mondlicht. Sie warf es weg. Die Schluchzer der Kinder wurden lauter. »Ich bleibe bei ihnen.«

Harkan zögerte, dieser traurige, müde Gesichtsausdruck machte sie wütend. Er hoffte noch immer, dass das alles sie eines Tages ändern würde. Besser machen. Wieder gut machen.

Sie zog eine Augenbraue hoch. Tut mir leid, Harkan. Gute Mädchen leben nicht lange.

Schließlich verschwand er.

Das älteste Kind hatte seine Arme um seine Geschwister gelegt und beobachtete Eliana. Tief in ihrem Inneren regte sich etwas, das sie drängte, es gehen zu lassen. Nur dieses eine Mal. Es würde niemandem schaden; das waren Kinder, sie waren nichts.

Aber Kinder konnten ihren Mund nicht halten. Und wenn jemals jemand herausfinden würde, dass der Fluch von Orline, Lord Arkelions Lieblingsjägerin, Verräter freigelassen hatte …

»Wir hatten Angst, dass die bösen Männer sie auch holen würden«, sagte der Junge nur. »Deswegen wollten wir von hier weg.«

Die bösen Männer. Eliana kroch ein winziger Schauer über den Nacken. Die maskierten Männer vom Hafen?

Aber mehr sagte der Junge nicht. Er versuchte nicht einmal wegzulaufen.

Kluger Junge, dachte Eliana.

Er wusste, dass er nicht weit kommen würde.


Am nächsten Nachmittag stand Eliana auf einem Balkon mit Blick auf den Galgen.

Lord Arkelion fläzte an der Ostseite des Platzes in seinem Thron, dessen hohe Rückenlehne in Form von zwei Flügeln geschnitzt war.

Eliana beobachtete ihn und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie verlagerte ihr Gewicht auf ein Bein und versuchte die Gestalt zu ignorieren, die in einer schwarz-roten Invictus-Uniform neben dem Thron seiner Lordschaft stand.

Aus dieser Entfernung konnte Eliana nicht erkennen, wer es war, aber das war auch nicht wichtig. Schon vom Anblick der vertrauten Silhouette wurde ihr übel.

Die Leute des Invictus waren eine Truppe von Attentätern, die um die Welt reisten und die Befehle des Kaisers ausführten. Die gefährlichsten und blutigsten Aufträge.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Eliana rekrutieren würden. Was sie sich täglich in Erinnerung rief, um zu sehen, ob die Vorstellung sie irgendwann nicht mehr in Furcht versetzte.

Das war bisher noch nicht der Fall gewesen.

Wahrscheinlich würden sie Rahzavel nach ihr schicken. Im Laufe der Jahre war Eliana ihm auf einigen Festen seiner Lordschaft begegnet. Er hatte sie jedes Mal zum Tanzen aufgefordert. Und sein strenger grauer Blick hatte sie jedes Mal davor gewarnt, ihn zurückzuweisen.

Oh, wie hatte sie sich gewünscht, genau das zu tun.

»Eine unverwundbare Kopfgeldjägerin«, hatte er ihr vorigen Sommer bei ihrem letzten gemeinsamen Tanz ins Ohr geraunt. »Wie eigenartig.« Er schob seine kalten Finger zwischen ihre. »Eines Tages wirst du unsere Familie wunderbar ergänzen.«

Wenn Rahzavel sie holen käme, würde sie sich vielleicht nicht einmal von ihren Lieben verabschieden können, bevor er sie nach Übersee brachte, nach Celdaria, ins Zentrum des Unsterblichen Imperiums – und zum Kaiser höchstpersönlich.

Willkommen, Eliana Ferracora, sagte der Kaiser in ihren schlimmsten Träumen, wobei sein Lächeln seine schwarzen Augen nicht erreichte. Ich habe schon viel von dir gehört.

Und das würde das Ende des Lebens bedeuten, wie sie es bisher kannte. Sie würde ein Mitglied der Elite werden – eine Streiterin des Invictus.

Und genau wie Rahzavel würde sie eine neue Art Monster werden.

Heute allerdings war es noch nicht so weit.

Also beobachtete Eliana das Spektakel, trommelte mit den Fingern auf ihre Arme und wünschte sich, dass seine Lordschaft es endlich hinter sich brachte. Sie war hungrig und müde, und Harkan schämte sich abgrundtief, und je länger sie hier standen, umso dringender schien er etwas von ihr zu erwarten, das sie ihm nicht geben konnte:

Reue.

Die Wachen des Imperiums führten Quill und das älteste Kind zu dem Galgen. Er war auf den Ruinen des Tempels der heiligen Marzana errichtet worden, der verehrten Feuerzeichnerin der Alten Welt – in einer Zeit, bevor Blutkönigin Rielle gestorben war, vor dem Aufstieg des Imperiums.

Als die Soldaten des Imperiums Orline einnahmen, zerstörten sie den Tempel fast vollständig. Früher war es ein großartig angelegter Komplex aus verschiedenen Hallen mit Kuppeldächern, Klassenzimmern und Heiligtümern gewesen, durch die der Wind wehte, der vom Fluss her kam, und die Innenhöfe waren mit blühenden Reben bewachsen gewesen. Heute zeugten nur noch ein paar bröckelnde Säulen von der alten Pracht. Die Statue der heiligen Marzana, die einst den Tempeleingang bewacht hatte, war zerstört. Stattdessen ragte dort jetzt drohend das Abbild des Kaisers auf, seine Gesichtszüge waren verdeckt und sein Körper verhüllt. Um seinen Kopf wehten Fahnen in Gold, Schwarz und Purpurrot.

Der große Platz war gedrängt voll, aber man hörte keinen Ton. Die Bürger von Orline waren Hinrichtungen zwar gewohnt, doch Quill war in gewissen Kreisen durchaus beliebt. Und nicht einmal seine Lordschaft schlachtete für gewöhnlich Kinder ab.

Als Eliana und Harkan ihm die Kinder vorgeführt hatten, hatte Lord Arkelion freundlich gelächelt, sich die Zähne der Jüngeren genauer angeschaut und sie mit einer seiner Mätressen fortgeschickt. Die Kinder hatten ihre Hände nach ihrem Bruder ausgestreckt und auf dem ganzen Weg durch den Thronsaal geweint, bis jemand glücklicherweise die Tür geschlossen hatte.

Doch das älteste Kind hatte nicht geweint. Und der Junge weinte auch heute nicht, nicht einmal als der Scharfrichter sein Schwert hob.

»Das Imperium wird brennen!«, brüllte Quill, seine Haare klebten ihm schweißnass am Kopf.

Das Schwert sauste herab und Quills Kopf rollte. Durch die Menge ging ein unruhiges Raunen.

Erst jetzt, als sein Gesicht voller Blutspritzer war, kamen dem Jungen die Tränen.

»El«, sagte Harkan erstickt. Er nahm Elianas Hand in seine verschwitzte und rieb mit dem Daumen über die Handfläche. Seine Stimme klang brüchig. Er hatte nicht geschlafen.

Sie dagegen hatte wie ein Stein geschlafen. Schlaf war wichtig. Ohne erholsamen Schlaf konnte man nicht jagen.

»Wir müssen nicht zusehen«, sagte sie so geduldig wie möglich. »Wir können auch gehen.«

Er ließ ihre Hand los. »Geh, wenn du willst. Ich muss zusehen.«

Da war er wieder – dieser erschöpfte Tonfall seiner Stimme, er war wie ein Hund mit traurigen Augen, der schicksalsergeben auf die nächsten Schläge wartete.

Um ihn nicht anzublaffen, spielte Eliana mit dem abgegriffenen goldenen Anhänger unter ihrem Mantel. Sie trug ihn immer an einer Kette um den Hals und kannte jede der eingravierten Linien auswendig. Den Bogen des Pferdehalses. Die aufwendig gestalteten Flügel. Die Figur, die rittlings und mit erhobenem Schwert auf dem Pferd saß und deren Gesicht inzwischen kaum mehr zu erkennen war: Audric der Lichtbringer. Einer der toten Könige der Alten Welt, von denen ihr Bruder, warum auch immer, geradezu besessen war. Elianas Eltern hatten ihr erzählt, dass sie das Schmuckstück auf der Straße gefunden hätten, als Eliana noch ein Baby war, und dass sie es ihr eines Nachts zur Beruhigung gegeben hätten. Sie trug den Anhänger schon, solange sie denken konnte, allerdings nicht aus Liebe zum Lichtbringer. Tote Könige waren ihr vollkommen gleichgültig.

Nein, sie trug ihn, weil das vertraute Gewicht der Halskette an manchen Tagen das Einzige war, was sie davor bewahrte, zu zerreißen.

»Ich bleibe«, erklärte sie leichtfertig. Zu leichtfertig? Vielleicht. »Ich habe Zeit.«

Harkan schalt sie nicht. Der Scharfrichter nahm sein Schwert. Und im letzten Augenblick hob der Junge die Hand zum Gruß. Er legte eine Faust auf sein Herz und streckte sie dann nach oben. Es war ein Zeichen der Loyalität gegenüber den Rebellen, gegenüber der Roten Krone. Sein Arm zitterte, aber er schaute unverwandt zur Sonne.

Schließlich sprach er das Gebet an die Sonnenkönigin: »Möge das Licht der Königin mich nach Hause –«

Das Schwert sauste nieder.

Eliana wurde von ihren Tränen überrascht. Sie blinzelte sie fort, bevor sie ihre Wange hinabrannen. Harkan schlug sich die Hand vor den Mund.

»Gott steh uns bei«, flüsterte er. »Was tun wir hier, El?«

Sie nahm seine Hand und zwang ihn, sie anzusehen.

»Überleben«, erklärte sie ihm. »Und dafür muss man sich nicht schämen.«

Sie schluckte und dann noch einmal. Ihre Kieferknochen taten weh. Es war anstrengend, sich gelangweilt zu geben, aber der Krieg war es auch. Und wenn sie auseinanderbrach, würde Harkan erst recht zerbrechen.

Der Lord von Orline hob eine Hand.

Die Bürger, die dicht gedrängt dort unten auf dem Platz standen, skandierten die Worte, die Eliana wie Aasgeier ständig im Kopf herumkreisten.

»Heil dem Imperium. Heil dem Imperium. Heil dem Imperium.«

Zorngeboren - Die Empirium-Trilogie (Bd. 1)

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