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Kapitel 9
ОглавлениеSeptember 2012
Constance hatte kaum die Sprechstunde beendet, als Harry das Ordinationszimmer betrat.
„Ich muss dringend mit dir reden, Conny. Lass uns irgendwo Mittagessen gehen.“
„Tut mir leid, ich habe schon eine Verabredung zum Essen.“
Diese Tatsache weckte sein Misstrauen.
„Mit wem? – Wenn ich fragen darf?“
„Der neue Verwaltungschef der Klinik hat vorhin angerufen“, erwiderte sie und streifte dabei ihren Kittel ab. „Er will mehr über die Zusammenarbeit mit dem Zentrum wissen.“
„Und dann lädt er dich gleich zum Essen ein? Der will doch bestimmt mehr von dir.“
„Mehr bekommt er aber nicht.“ Mit fragendem Blick schaute sie ihn an. „Was willst du denn mit mir besprechen? Ein paar Minuten habe ich noch.“
„Es geht darum, was meine Mutter vor ein paar Tagen gesagt hat“, begann er vorsichtig. „Über uns beide. Wir kennen uns so lange und so gut, Conny. Wir wissen, was wir voneinander erwarten können. Warum sollten wir uns nicht zusammentun? Du und ich – und natürlich Nathalie ...“
„Harry!“, unterbrach sie ihn ungehalten. „Was soll das? Hat dich Tante Betty jetzt auch schon mit dieser absurden Idee infiziert? Ich will nicht heiraten – weder dich noch sonst wen!“
„Aber wir ...“
„Vergiss es!“, fiel sie ihm abermals ins Wort. „Ich brauche keinen Mann – und wenn doch, dann nur für eine Nacht. Das genügt mir voll und ganz. Also schlag dir diesen Blödsinn aus dem Kopf!“
„Ist das dein letztes Wort?“
„Mein allerletztes. – Ich will nichts mehr davon hören. Wenn du das nicht akzeptieren kannst, musst du dir einen neuen Job suchen. – Haben wir uns verstanden?“
„Das war deutlich genug", sagte er, sich zur Ruhe zwingend. „Schade, ich dachte, es ginge auch anders. Aber du hast es so gewollt, Conny. Eines Tages wirst du das noch bedauern."
Ohne ein weiteres Wort, verließ der er den Raum. Bis jetzt hatte er gezögert, den Plänen seiner Mutter zuzustimmen, doch nun sah er darin die einzige Möglichkeit, seine Cousine an sich zu binden.
In dem italienischen Restaurant gelang es Constance, Adrian Herzog von den Vorteilen zu überzeugen, die aus der Zusammenarbeit mit dem Zentrum für alle Beteiligten offenkundig waren.
Unbefangen erzählte Adrian, dass er sich bei seinem ersten Besuch im Zentrum einen Eindruck verschaffen wollte. Als er dann für die erwartete Hilfskraft gehalten worden war, hatte er mitgespielt und seinen freien Nachmittag geopfert, um vielleicht einen Einblick zu erhalten, den er in seiner Eigenschaft als Verwaltungsdirektor so nicht bekommen hätte.
Während des Essens versuchte Constance, seine Wirkung auf sie zu ignorieren. Trotzdem erwischte sie sich dabei, sein Flirten zu genießen. Sie mochte seine offene Art – und seinen Humor. Sie ahnte, dass sie auf etwas zusteuerte, das überhaupt nicht in ihre Lebensplanung passte.
Später setzte Adrian sie zu Hause ab.
Noch bevor Constance den Schlüssel ins Schloss stecken konnte, wurde ihre Wohnungstür von innen geöffnet.
„Nathalie!", rief sie beim Anblick ihrer Tochter freudig überrascht aus. „Wo kommst du denn jetzt schon her?"
„Direkt aus der Schweiz", erklärte das Mädchen, während es seine Mutter stürmisch umarmte. „Großmutter hat mich heute Morgen abgeholt."
„Wir sind geflogen zusammen", ließ Michelle Levin im Näherkommen mit unverkennbar französischem Akzent verlauten. „Seit eine Stunde wir sind 'ier."
„Hätte ich das geahnt, wäre ich nicht zum Mittagessen ausgegangen", erwiderte Constance, ehe sie auch ihre Mutter in die Arme schloss.
„Dann der Mann in die schwarze Porsche aber sischer wäre gewesen enttäuscht", vermutete Michelle mit vielsagender Miene. „Ist er eine Freund von disch?"
„Nein."
„Aber du magst ihn!?"
„Ich finde ihn schrecklich", behauptete ihre Tochter, während sie den Wohnraum betraten.
„Das ungefähr ist dasselbe, ma chère", meinte Michelle hintergründig lächelnd. „Ist zwischen eusch was Ernstes?"
„Maman, ich kenne diesen Mann kaum", betonte Constance. „Er ist der neue Verwaltungsdirektor der Klinik am Stadtpark."
„Deine Papa 'at ihn engagé?"
„Das musst du Paps schon selbst fragen."
„Mon dieu, isch werde misch ’üten!" Abwehrend
hob die zierliche Französin die schmalen Hände. „Du weißt genau, diese Kapitel ist finit für misch!"
„Das wird nie der Fall sein, Maman", widersprach ihre Tochter. „Du machst dir selbst etwas vor."
„Non!" Diese Antwort kam etwas zu schnell und etwas zu heftig. Doch Michelle bekam sich sofort wieder unter Kontrolle. Lächelnd schaute sie ihre Enkelin an, die mit einem kleinen Geschenk in den Händen hereinkam. „Du möschtest deine Mama bestimmt berischten von deine Klassenreise, Nathalie. Isch inzwischen packe meine Bagage aus."
„Man soll vor unangenehmen Dingen nicht davonlaufen!", rief Constance ihrer Mutter nach. „Man kommt nie so weit, dass sie einen nicht doch einholen!"
Ohne die Worte ihrer Tochter zu kommentieren, verließ Michelle den Raum.
„Dickschädel", murmelte Constance und nahm auf dem Sofa Platz. „Komm, setz dich zu mir", forderte sie ihre Tochter auf. „War es schön in Paris?"
„Es war toll", bestätigte das Mädchen und reichte seiner Mutter ein Päckchen. „Das habe ich dir mitgebracht, Ma."
„Ma?", wiederholte Constance verwundert. „Bin ich das etwa?“
Verlegen zuckte Nathalie die Schultern.
„Für Mami bin ich doch jetzt schon zu alt", erklärte sie. „Bei uns im Internat nennen alle ihre Mutter nur Ma."
„Ja, natürlich. Ma klingt viel erwachsener." Leise lächelnd öffnete sie das Geschenk, bei dem es sich um ein französisches Parfum handelte. „Oh, Nathalie ..." Gerührt schaute sie ihre Tochter an. „Du sollst doch nicht dein ganzes Taschengeld für mich ausgeben."
„Großmutter hat den größten Teil dazugegeben. Freust du dich trotzdem darüber?"
„Aber ja." Liebevoll strich sie ihr über das lange, dunkle Haar. „Danke, mein Schatz. – Vielleicht kann ich dir auch eine Freude machen? Was hältst du davon, schon zu Weihnachten und nicht erst im Frühjahr wieder nach Hause zu kommen?"
„Für immer?"
Lächelnd nickte Constance.
„Ich weiß, wir hatten ein Jahr Internatsbesuch ausgemacht. Wenn du so lange dort bleiben möchtest, akzeptiere ich das natürlich. Die Entscheidung liegt allein bei dir."
„Und was ist mit dem Zentrum? Du hast gesagt, das erste Jahr wäre das schwerste."
„Damals wusste ich noch nicht, dass wir kaum Anlaufschwierigkeiten haben würden. Viele Patienten haben mir die Treue gehalten. Außerdem bekommen wir inzwischen von mehreren Kollegen Überweisungen. Dazu haben wir noch die Patienten in der Klinik. Inzwischen läuft unser Zentrum gut; es steht sozusagen auf sicheren Füßen. Dadurch habe ich keine Schwierigkeiten, den Kredit abzutragen. Ich denke, dass auch der Vertrag mit der Klinik verlängert wird."
„Dann kriegst du den Fünfjahresvertrag? Hat Großvater das so bestimmt?"
„Nein." Ernst schüttelte Constance den Kopf. „Das möchte ich auch gar nicht. Vielleicht kannst du verstehen, dass ich eine Vertragsverlängerung durch gute Arbeit erreichen möchte und nicht, weil mein Vater dort zufällig im Aufsichtsrat sitzt."
„Ich verstehe, was du meinst", sagte Nathalie. „Möchtest du wirklich, dass ich schon zu Weihnachten zurückkomme? Was wird dann mit deiner Arbeit?"
„Wenn du in der Schule bist, arbeite ich im Zentrum. Mittags essen wir dann zusammen. Während du anschließend deine Hausaufgaben machst, erledige ich Schreibarbeiten. Oder ich nehme noch den einen oder anderen Termin drüben im Zentrum wahr. Den restlichen Nachmittag hätte ich Zeit für dich. – Was natürlich nicht bedeutet, dass du dann keine Verabredungen treffen darfst. Du teilst dir deine Freizeit selbst ein."
„Das wird super!", freute sich ihre Tochter. „Wir könnten wie früher an den Wochenenden zu Großvater fahren, im See baden und ausreiten!"
„Du vermisst Diana, nicht wahr?“ Sie wusste, wie sehr Nathalie an der Stute hing, die sie von ihrem Großvater zum dreizehnten Geburtstag bekommen hatte. „Sie wartet schon sehnsüchtig auf dich."
„Echt?"
„Das hat sie mir verraten, als ich sie am letzten Wochenende geritten habe."
„Wann darf ich zu ihr, Ma?"
„Nach der Veranstaltung morgen ist es zu spät für einen Ausritt", überlegte Constance. „Und am Sonntag fliegst du schon zurück. Normalerweise würde ich dich hinfahren, aber dann müsste ich Großmutter allein lassen. Um nichts in der Welt käme sie mit zu Großvater." Die enttäuschte Miene ihrer Tochter veranlasste sie zu einem Vorschlag: „Wir könnten vielleicht Hetty bitten, dich abzuholen. Sie lässt sich doch freitags immer in die Stadt zum Frisör fahren. Wenn wir Glück haben, erwischen wir sie dort noch."
„Oh ja!", rief ihre Tochter begeistert aus, aber dann schaute sie ihre Mutter schuldbewusst an. „Bist du auch nicht traurig, wenn ich so schnell wieder verschwinde?"
„Du weißt, wie gern ich dich bei mir habe. Das bedeutet aber nicht, dass wir ständig zusammenhocken müssen. Ich verstehe, dass du so schnell wie möglich zu deinem Pferd willst, Schnuppe."
„Für Schnuppe bin ich doch schon zu groß.“
„Bist du nicht!“
„Bin ich doch!“
„Okay, du hast gewonnen ... Schnuppe!“
Lachend klatschten sie ihre Handflächen aneinander. Diese Wortspielerei machte ihnen auch nach Jahren noch Spaß – seit Nathalie sich zu alt für diesen Kosenamen fühlte.
„Du bist Spitze, Ma!" Temperamentvoll umarmte sie ihre Mutter. „Wir treffen uns ja schon morgen beim Rennen wieder."
„Dann versuche ich jetzt, Hetty zu erreichen."
Die alte Dame beglich gerade die Rechnung, als der Anruf ihrer Enkelin im Frisörsalon einging. Wie erwartet, stimmte Henriette Ellerbrook sofort zu, Nathalie abzuholen. Schon eine Viertelstunde später stoppte der Chauffeur die schwarze Limousine vor dem Haus. Henriette ließ es sich nicht nehmen, die für sie allmählich beschwerlichen Treppen zu Constances Wohnung hinaufzusteigen. Sie wollte die Frau begrüßen, die sie trotz allem noch als ihre Schwiegertochter betrachtete. Die letzte Zusammenkunft der beiden Damen war anlässlich Nathalies Geburt gewesen. Das lag nun schon mehr als dreizehn Jahre zurück.
„Wie geht es disch, 'etty?", fragte Michelle nach der herzlichen Begrüßung. „Du siehst gut aus."
„Für mein Alter bin ich noch recht ordentlich beisammen", erwiderte sie resolut. Aufmerksam musterte sie ihre Schwiegertochter, der man die beinah sechzig Jahre nicht ansah. Bis auf die winzigen Fältchen in den Augenwinkeln wirkte Michelles Haut glatt und rosig. Das schwarze Haar war im Nacken zu einem dicken Knoten geschlungen und wies nur vereinzelte Silberfäden auf.
„Wie machst du das nur?", brachte Henriette beeindruckt hervor. „Warum wirst du überhaupt nicht älter, Michelle?"
„Isch lebe allein", entgegnete diese lächelnd. „Das ist die ganze Ge'eimnis."
„Nun ja, Männer bringen oft auch Ärger mit sich", sagte Henriette verstehend. „Was aber wäre das Leben so ganz ohne sie? Und wenn man so fabelhaft ausschaut wie du, mangelt es bestimmt nicht an Verehrern.'
„Meine Arbeit vielleischt mansche verehren, aber sonst es gibt niemanden."
„Sind die Franzosen heutzutage alle blind!? Zu meiner Zeit hatten sie den Ruf, besonders hartnäckig zu sein, wenn eine schöne Frau ihren Weg kreuzte. Du warst erst Mitte dreißig, als du nach Paris zurückgekehrt bist. Außerdem warst du eine gefeierte Künstlerin, der die Welt zu Füßen lag."
„Du vergisst, dass isch misch ’atte lange vor’er von die Bühne verabschiedet", wandte Michelle ein. „Die paar Auftritte, die isch später ’atte ..."
„... waren große Erfolge", vollendete Constance. „Sei nicht immer so bescheiden, Maman. Du warst eine große Primaballerina, die von allen geliebt wurde."
„... geliebt!?", wiederholte Michelle nachdenklich. „Das nischt war die Art Liebe, die isch wollte. Immer denken die Menschen, es gibt keine größere Glück, als zu sein eine gefeierte Star. Sie nischt wissen von die Einsamkeit, die man verspürt, wenn man kommt nach die Vorstellung in eine leere ’aus. Oder von die Sehnsucht, als Mensch, als Frau geliebt zu werden - nischt nur als Primaballerina. Isch ’abe in meine Leben niemals getroffen eine Mann, der misch liebt ... wie sagt man? ... um misch selbst willen!?"
„Aber Paps ...", begann ihre Tochter, wurde jedoch sofort von Michelle unterbrochen.
„Non, ma chère! Isch selbst 'abe überrascht ihn mit eine andere Frau! Wahrscheinlisch er misch ’at schon vor’er viele Jahre trompé ... betrogen. Isch sehr dumm war, zu vertrauen ihm."
„Vielleicht hast du ihm nicht genug vertraut", wandte Henriette ein, obwohl sie die damalige Handlungsweise ihrer Schwiegertochter nun besser verstand. Michelle hatte für ihren Sohn alles aufgegeben: ihre Karriere, ihre Heimat, ihre Freunde, ihr ganzes bisheriges Leben. Sie hatte es aus Liebe getan, und weil sie sich selbst geliebt glaubte. Bis sie Anton eines Nachts mit einer anderen im Bett vorgefunden hatte. Tief enttäuscht hatte Michelle die Konsequenzen gezogen und war mit ihrer kleinen Tochter nach Paris geflohen. Von dort aus hatte sie die Scheidung eingereicht.
„Trotz der so eindeutig scheinenden Situation da-mals hättet ihr euch in Ruhe aussprechen sollen", fuhr Henriette fort. „Aber ihr habt diese Chance verpasst und euch scheiden lassen. Seitdem verhaltet ihr beide euch wie störrische Esel."
Da nun Nathalie mit ihrem Rucksack eintrat, kam Michelle um eine Antwort herum.
„Ich bin fertig, Hetty", verkündete das Mädchen. „Können wir gleich fahren?"
„Ja, lass uns gehen", stimmte ihre Urgroßmutter zu. Sie hielt es für sinnlos, das Thema weiter zu vertiefen. Sie musste ihre Hoffnung auf das von Constance geplante Treffen ihrer Eltern bei dem Rennen setzen. Wenn Michelle und Anton sich nach fünfundzwanzig Jahren noch einmal gegenüberstünden . . .