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Kapitel 6
ОглавлениеAugust 2012
Adrian Herzog saß in seinem Arbeitszimmer in der Klinik am Stadtpark vor dem Computer.
Professor Kronenburg war gerade bei ihm gewesen und hatte ihn mehr oder weniger dazu verdonnert, am Abend an einer Informationsveranstaltung teilzunehmen. Derartige Veranstaltungen gehörten zum Klinikalltag, und als Verwaltungsdirektor sei seine Anwesenheit Pflicht, hatte der Professor argumentiert.
Da alle größeren Veranstaltungen in einem Hotel unweit der Klinik stattfanden, war dort anschließend regelmäßig ein ausgesuchter Kreis von Kollegen und Freunden zu einem Sektempfang eingeladen. Wenig begeistert hatte Adrian sein Kommen zugesagt. Ursprünglich hatte er am frühen Abend zum Therapie-Zentrum fahren wollen, um die Frau wiederzusehen, die ihm seit Tagen nicht mehr aus dem Sinn ging. Schon zum zweiten Mal hatte er ihr heute Rosen geschickt, und war zuversichtlich, dass sie seine Einladung zum Abendessen nicht ausgeschlagen hätte. Nun würde er den Abend statt in der Gesellschaft einer begehrenswerten Frau bei langweiligen Vorträgen verbringen müssen, was nicht gerade seine Stimmung hob. Dementsprechend lustlos saß er vor dem Monitor und sah sich die Aufstellung der Personalkosten an, als ein Kollege hereinkam.
„Sie wollten eine Liste der Firmen für Medizin-Technik, Herr Herzog", sagte Benno Gerlach. „Ich habe hier eine Aufstellung der deutschen und der ausländischen Betriebe. Die preisgünstigsten sind mit einem Stern markiert."
„Danke. Damit befasse ich mich später." Nachdenklich blickte er seinen Mitarbeiter dann an. „Sie sind hier doch schon länger an Bord: Was wissen Sie über das Therapie-Zentrum? Wie ist die Zusammenarbeit mit der Klinik entstanden?"
„Wahrscheinlich hat Frau Dr. Meves schon bei der Eröffnung des Zentrums darauf spekuliert, möglichst viele Patienten von uns zu übernehmen. Zuerst hat sie Ihren Vorgänger und dann den gesamten Aufsichtsrat der Klinik zur Zusammenarbeit überredet. Vorläufig handelt es sich aber um einen auf ein Jahr begrenzten Modellversuch. Ich muss zugeben, dass das recht gut funktioniert. Trotzdem bin ich der Meinung, es wäre nicht nur kostengünstiger für die Patienten und die Krankenkassen, sondern auf längere Sicht auch einträglicher für die Klinik, wenn wir unsere Physiotherapieabteilung erweitern würden."
„Sollten unsere Patienten wegfallen, würde das Therapie-Zentrum dann nicht in finanzielle Schwierigkeiten geraten?"
„Sollten wir uns nicht in erster Linie um die Finanzen der Klinik kümmern?", antwortete Gerlach mit einer Gegenfrage. „Wenn sich Frau Dr. Meves mit dem Bau des Zentrums übernommen haben sollte, ist das ihr Risiko. Man sollte eben nicht nach den Sternen greifen."
„Irre ich mich, oder mögen Sie diese Frau Dr. Meves nicht?", fragte Adrian, da die Worte seines Mitarbeiters ziemlich hart klangen. „Was stört Sie an ihr?"
„In meinen Augen ist sie eine verwöhnte Person, die sich rücksichtslos nimmt, was sie will", entgegnete Benno Gerlach geringschätzig. „Und zwar in jeder Hinsicht. Sie tut immer überaus freundlich, aber das ist nur Fassade. Tatsächlich ist sie so kalt und berechnend, dass sie Menschen, die ihr nicht mehr nützlich sein können, unbarmherzig einen Tritt versetzt."
Das passte mit dem zusammen, was ihm ihre Mitarbeiterin anvertraut hatte, überlegte Adrian. Sie sagte, ihre Chefin hätte Haare auf den Zähnen.
„In den nächsten Tagen werde ich mich in der Klinik umhören", beschloss er. „Sollte ich überwiegend Negatives über die Zusammenarbeit mit dem Zentrum erfahren, sorge ich dafür, dass dieser Vertrag nicht verlängert wird."
„So einfach wird das nicht werden."
„Warum nicht?"
„Frau Dr. Meves hat gute Beziehungen zu Professor Kronenburg und zum Aufsichtsrat. Insbesondere zu Herrn Ellerbrook, unserem Vorsitzenden. Wenn man sich so nahe steht wie die beiden ..."
„Schläft sie etwa mit ihm?", mutmaßte Adrian Herzog missbilligend. „Allmählich verstehe ich: Eine Hand wäscht die andere, nicht wahr? Sie lässt sich von ihm protegieren und bereitet dem alten Knaben dafür einen zweiten Frühling."
Mit vielsagender Miene hob Benno Gerlach nur die Schultern.
Zum Informationsabend fanden sich im Hotel unweit der Klinik viele interessierte Zuhörer ein. Unter ihnen junge Ärzte sowie Mitarbeiter des Pflegepersonals, aber auch Angehörige und Freunde unmittelbar betroffener Schlaganfallpatienten.
Nachdem Professor Kronenburg einige Begrüßungsworte gesprochen hatte, bat er die Vorsitzende der Schlaganfall-Stiftung auf das Podium.
„Sehr verehrte Damen und Herren", ergriff Constance Meves das Wort. „Ich wurde gebeten, Ihnen heute Abend etwas über die Rehabilitation nach einem Schlaganfall zu erzählen. Ich möchte versuchen, dies nicht nur aus der Sicht des Therapeuten, sondern auch aus der des Betroffenen zu tun ..." Ihr ernster Blick umfasste den fast vollbesetzten Saal. „Ein überstandener Schlaganfall kann vielfältige Behinderungen zurücklassen: Lähmungen beeinträchtigen die Muskelfunktion und somit den Gebrauch der Extremitäten, Sprachstörungen erschweren die Kommunikation und somit den Umgang mit den Mitmenschen. Endgültig und unbeeinflussbar sind jedoch nicht alle Beeinträchtigungen, die ein Schlaganfall auslöst ..."
Ohne ihren Vortrag zu unterbrechen, registrierte sie den Mann, der den Saal mit einiger Verspätung betrat und in der letzten Sitzreihe Platz nahm.
Während sie näher auf spezielle Übungen einging, war Adrian Herzog angenehm überrascht, sie hier zu sehen. Interessiert betrachtete er die Rednerin, die nur gelegentlich auf ihre Notizen blickte, ansonsten aber frei sprach. Ihre Ausführungen waren informativ und präzise. Dadurch blieb es nicht aus, dass er ihren Ausführungen interessiert lauschte, obwohl er einen eher langweiligen Abend befürchtet hatte. Nun aber lernte er etwas über Ergotherapie, Bewegungsabläufe und Koordination von Muskeln und Gelenken.
„Besonders wichtig ist hierbei auch, dass Freunde und Verwandte durch den richtigen Umgang mit dem Patienten das Sprachvermögen fördern. Gespräche sollten nicht über seinen Kopf hinweg, sondern mit ihm geführt werden.– Auch wenn das oft mühsam ist. Eine weitere Ebene der Verständigung schafft der Blickkontakt. Bitte, denken Sie daran: Nur Geduld und Verständnis helfen einem Betroffenen, seine Sprache wiederzufinden."
Fasziniert hingen die Augen des Verwaltungsdirektors am Gesicht der Frau, von der er kaum mehr wusste, als dass sie im Therapie-Zentrum von Frau Dr. Meves arbeitete und anscheinend eine Vorliebe für Ohrringe besaß. Heute trug sie schimmernde Perlen, die zu der Kette an ihrem Hals passten.
„Bitte, vergessen Sie eines nicht", sagte Constance abschließend. „Das Erleben der eigenen Hilflosigkeit führt bei vielen Patienten zu Angstgefühlen, Traurigkeit, depressiven Verstimmungen bis hin zu echten Depressionen. Nach dem Schlaganfall ist das Überwinden von Isolation und Resignation für den Betroffenen von großer Bedeutung. Wir alle, ob nun Ärzte, Therapeuten, Pflegepersonal oder Angehörige müssen uns bemühen, dem Patienten das Gefühl zu vermitteln, nicht allein gelassen zu werden. – Ich danke Ihnen."
Während das Auditorium applaudierte, verließ die Ärztin das Podium und nahm in der ersten Reihe Platz.
Noch einmal trat Professor Kronenburg nach vorn.
„Zunächst einmal möchte ich der charmanten Vorrednerin für diese ebenso klugen wie informativen Ausführungen danken. – Hören wir nun noch einige Worte zur erforderlichen Nahrungsumstellung der Schlaganfall-Patienten von der Diätassistentin Frau Karin Rudolf."
Nach dem offiziellen Ende des Informationsabends bat der Professor seine persönlichen Gäste zu einer Erfrischung und zu einem kleinen Imbiss in den sogenannten „Blauen Salon“.
Da der Verwaltungschef noch nicht lange in Hannover lebte, kannte er die wenigsten der Anwesenden. Deshalb stellte der Chefarzt ihm einige Gäste namentlich vor.
„Ich möchte Sie mit noch jemandem bekanntmachen, Herr Herzog", sagte er, als er Constance mit zwei älteren Kolleginnen zusammenstehen sah. „Oder kennen Sie Frau Dr. Meves bereits?"
„Noch hatte ich nicht das Vergnügen."
„Dann wird es aber Zeit. – Kommen Sie."
Indes der Professor ihn zu der kleinen Gruppe führte, fragte sich Adrian, welche der beiden anderen Frauen wohl die Leiterin des Therapie-Zentrums sein mochte. Die übergewichtige Blondine im schwarzen Kostüm? Oder die hagere Rothaarige? Beide wirkten wenig attraktiv auf ihn. Trotzdem zwang er sich zu einem unverbindlichen Lächeln. Etwas erstaunt registrierte er, auf wessen Schulter der Professor seine Hand in einer vertraulichen Geste legte.
Mit fragendem Blick wandte sie sich ihm daraufhin zu.
„Wie ich höre, kennt ihr euch noch nicht", sagte Professor Kronenburg. „Das ist ..."
„Ich bin der alte Drache", kam Constance ihm lächelnd zuvor und streckte dem Verwaltungschef unbefangen die Hand entgegen. „Sie sind Adrian Herzog, nicht wahr!?"
Verblüfft ergriff er ihre Rechte und umschloss sie mit festem Druck.
„Wieso alter Drache?", wunderte sich der Chefarzt, ehe Adrian seine Sprache wiederfand.
Schelmisch blitzte es in Constances Augen auf.
„Kürzlich hat mich jemand so charmant bezeichnet."
„Das muss entweder ein ungehobelter Klotz oder ein kompletter Trottel gewesen sein", meinte der Professor schmunzelnd. „Der hatte wohl seine fünf Sinne nicht beisammen."
„In diesem komplizierten Fall wage ich noch keine Diagnose", erwiderte sie amüsiert, bevor sie den Verwaltungsdirektor anschaute. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätte ich nun gern meine Hand zurück."
Sichtlich verlegen gab er ihre Rechte frei.
„Wie lange wissen Sie schon, wer ich bin?"
„Lange genug."
„Jetzt brauche ich erst mal einen Drink."
„Ich begleite sie an die Bar", beschloss sie spontan, ehe sie sich an die Kolleginnen und an den Professor wandte. „Ihr entschuldigt uns!?"
Schweigend traten sie an das Getränkebuffet.
„Was darf es sein, Frau Dr. Meves?"
„Ein Bourbon auf Eis, bitte."
„Eine interessante Wahl", sagte er nur.
„Hat das alte Schlitzohr Sie genötigt, an diesem Informationsabend teilzunehmen?", fragte Constance, als er ihr eines der Gläser reichte.
„Wen meinen Sie?"
„Unseren Gastgeber – Professor Kronenburg.“
Beinah entsetzt verzog er das Gesicht.
„Nicht so laut", bat er mit gedämpfter Stimme. „Man könnte Sie hören."
Herausfordernd blitzte es in ihren Augen auf. Dann tauchte sie den Zeigefinger in das Glas und benetzte ihre Zungenspitze mit einem Tropfen Whisky.
„Na, und!?"
„Es wäre doch peinlich, wenn dem Herrn Professor zu Ohren käme, wie respektlos Sie ihn bezeichnen. Er ist immerhin ..."
„... ein geachteter Medizinmann", vollendete sie. „Außerdem ist er mein Patenonkel."
„Sie verblüffen mich schon wieder. Ich wusste nicht, dass Sie mit ihm verwandt sind."
„Das bin ich auch nicht. Onkel Julius und Tante Camilla sind langjährige Freunde meines Vaters."
„Ist Ihr Vater auch Mediziner?"
„Nein, er ist nur ein einfacher Kaufmann."
„Demnach hat Ihr Patenonkel Ihr Interesse für die Medizin geweckt?"
„Onkel Julius war tatsächlich nicht ganz unschuldig an meiner Berufswahl", bestätigte Constance. „Allerdings hätte er es lieber gesehen, wenn ich in der Klinik in seine Fußstapfen getreten wäre, anstatt mich selbständig zu machen."
„Immerhin arbeiten Sie aber eng mit der Klinik zusammen", meinte der Verwaltungschef. „Darüber möchte ich übrigens mal ausführlich mit Ihnen sprechen. Vielleicht rufen Sie mich in den nächsten Tagen an, damit wir einen Termin vereinbaren können!?"
Möglicherweise hatte er bereits ein Haar in der Suppe gefunden, überlegte Constance, die sich an das Gespräch mit Sabine in der Klinik erinnerte. Deshalb nickte sie nur wortlos. Nun ahnte sie auch, dass er aus diesem Grund kürzlich ins Zentrum gekommen war. Wieso hatte er dann aber Wände angepinselt?
„Einen Euro für Ihre Gedanken", sagte Adrian Herzog, worauf sie spöttisch die Brauen hob.
„Was ist aus dem sprichwörtlichen Cent geworden?"
„Inflation", entgegnete er lächelnd. „Allerdings ahne ich, woran Sie gedacht haben: an die Malerarbeiten."
„Wie kommen Sie darauf?"
„Das sagt mir mein Gefühl", erwiderte er mit einem tiefen Blick in ihre Augen. „Sie erinnern sich auch an die knisternde Spannung zwischen uns, nicht wahr!?"
„An was?", fragte sie absichtlich in befremdetem Ton. „Das einzige, woran ich mich erinnere, sind Pinsel und Farbeimer."
Herausfordernd trat er etwas näher; seine Hand legte sich leicht auf ihren Arm.
„Vielleicht sollte ich Ihrem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen, Frau Doktor." Wie unabsichtlich strich sein Daumen über ihr Handgelenk. „Es war einer dieser unvergesslichen Augenblicke im Leben: voll Sinnlichkeit und erotischem Knistern. Ein Moment, in dem die Welt stillzustehen schien.“
Kopfschüttelnd entzog sie sich ihm.
„Anscheinend haben Sie etwas völlig anderes als ich erlebt, Herr Verwaltungsdirektor.", behauptete sie, obwohl sie schon wieder dieses verdächtige Kribbeln im Nacken verspürte. „Oder Sie besitzen zu viel Fantasie."
Nun erst bemerkte sie den hochgewachsenen Mann, der mit Professor Kronenburg zusammenstand. Unwillkürlich erhellte ein strahlendes Lächeln ihre Züge.
Adrian, dessen Blicke ihren Augen gefolgt waren, runzelte unwillig die Stirn. Der Mann mit dem schlohweißen Haar war kein Unbekannter für ihn: Anton Ellerbrook, dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats, verdankte er es, dass seiner Bewerbung als Verwaltungsdirektor zugestimmt worden war.
„Entschuldigen Sie mich bitte", sagte Constance, während sie ihr Glas abstellte. „Meine Garantie für ein wunderbares Wochenende ist eingetroffen."
„Der Mann ist zu beneiden", murmelte er, wobei er ihr nachblickte. Es ärgerte ihn nicht nur, wegen dieses erheblich älteren Mannes stehen gelassen zu werden, sondern auch, dass Constance ihn vor aller Augen umarmte und auf die Wange küsste.
Natürlich erinnerte Adrian sich daran, was sein Mitarbeiter über Frau Dr. Meves gesagt hatte. Nun, da er wusste, wer sie wirklich war, fand er die Behauptungen von Benno Gerlach absurd. – Allerdings schien sie tatsächlich ein Verhältnis mit Anton Ellerbrook zu haben.
Nachdem sie sich von Professor Kronenburg verabschiedet hatten, verließen sie Arm in Arm das Hotel.
Sie war also tatsächlich mit ihm gegangen, dachte Adrian Herzog enttäuscht. Insgeheim hatte er gehofft, es sei nur ein Scherz gewesen, dass sie das Wochenende mit ihm verbringen wollte. Was reizte sie nur an diesem Mann? Dem Alter nach könnte er ihr Vater sein.
„Ist sie nicht eine erstaunliche Frau?", unterbrach Professor Kronenburg seine Gedanken, als er sah, dass der Verwaltungschef ihr gedankenverloren nachblickte.
„Ohne Zweifel", stimmte Adrian ihm vorsichtig zu. Immerhin hatte er ihren Patenonkel vor sich. „Ist sie schon lange mit Herrn Ellerbrook zusammen? Sie sind ein ungewöhnliches Paar.“
„Die beiden verbindet etwas ganz Besonderes“, sagte der Professor nach kurzem Zögern. „Wenn Sie mehr darüber wissen möchten, kommen Sie doch am Samstag in einer Woche nach Salzgitter. Dort findet eine Sportveranstaltung statt. Auch Constance wird dabei sein."
„In welcher Funktion?", fragte Adrian interessiert, aber der Professor lächelte nur geheimnisvoll.
„Finden Sie es selbst heraus, junger Mann! Ich gebe Ihnen gern eine Wegbeschreibung."
Am späten Abend trafen Constance und Anton auf dem Landsitz der Ellerbrooks ein. Das alte, weiße Herrenhaus war ein langgestrecktes, zweistöckiges Gebäude, das sich schon seit Generationen im Besitz der Kaufmannsfamilie befand, aber laufend modernisiert wurde. So verfügten die meisten Zimmer über ein eigenes Bad; im Untergeschoss gab es eine Sauna, einen Fitnessraum sowie ein beheiztes Schwimmbecken, das überwiegend in der kalten Jahreszeit genutzt wurde. Bei warmem Wetter bevorzugte die Familie den kleinen See, der zum Anwesen gehörte.
Kaum hatten sie das Haus betreten, flog eine riesige Dogge auf Constance zu und sprang freudig an ihr hoch, so dass sie fast das Gleichgewicht verlor.
„Platon!", rief Anton den Hund sofort mit strenger Stimme zur Ordnung. „Platz!"
„Lass ihn doch, Paps", bat sie und kraulte den Hund zwischen den Ohren. „Er freut sich eben, dass ich mal wieder hier bin." Sie klopfte dem Tier noch die Seite, bevor sie sich zur Treppe wandte. „Jetzt gehe ich aber erst mal zu Großmutter. Vom Hof aus habe ich noch Licht bei ihr gesehen."
„Bleib aber nicht so lange", bat er. „Hetty sollte um diese späte Stunde längst schlafen."
„Alte Menschen benötigen nicht mehr so viel Schlaf", vernahmen sie Henriette Ellerbrooks Stimme vom oberen Treppenabsatz her. „Hast du allen Ernstes geglaubt, ich begebe mich zu Bett, wenn mein einziges Enkelkind erwartet wird? Da kennst du mich aber schlecht, mein Sohn." Auf ihren Stock gestützt kam die alte Dame langsam die Treppe herunter. „Ich habe irgendwo gelesen, dass der Mensch etwa ein Drittel seiner Lebenszeit verschläft. Das wären in meinem Fall beinah dreißig Jahre! Ist das nicht schrecklich? Ich mag gar nicht daran denken, was ich dadurch alles versäumt habe."
„Ohne genügend Schlaf wärst du aber wahrscheinlich nicht so alt geworden", sagte Constance, ehe sie ihre Großmutter mit einem liebevollen Kuss auf die Wange begrüßte. „Wer hätte mich dann gebremst, wenn mein Temperament mit mir durchging?“
„Dein Vater sicher nicht", bemerkte die alte Dame. „Dir konnte er schließlich nie etwas abschlagen."
„Das ist eben der Vorteil, die einzige Tochter zu sein. Da ist es nicht schwer, den gestrengen Herrn Papa um den kleinen Finger zu wickeln."
„Das hat man nun von seiner Gutmütigkeit", sagte ihr Vater in gespielter Verzweiflung. „Lasst uns noch ein Glas zusammen trinken."
Fürsorglich hakte er seine Mutter unter; gemein-sam betraten sie den großen Wohnraum. Bald saßen sie mit einem Glas Wein vor dem Kamin.
„Nun erzähl erst mal, mein Kind", forderte ihre Großmutter sie auf. „Wie war deine Woche?"
„Anstrengend. Ich musste mein neues Wartezimmer renovieren und hatte auch sonst viel zu tun.“
„Dir fehlt eben jemand, der dich entlastet", sagte ihr Vater. „Du bürdest dir einfach zu viel auf, Constance. Eine junge Frau sollte ihr Leben nicht nur mit dem Beruf ausfüllen."
„Ist das für dich eine Frage des Geschlechtes, Paps?", versuchte sie, vom eigentlichen Thema abzulenken. „Ich kenne viele Frauen, denen ihr Beruf genauso wichtig ist wie einem Mann."
„Und ich kenne viele Frauen, die verheiratet sind", hielt ihr Vater ihr entgegen, „die in der Rolle der Ehefrau und Mutter glücklich sind.“
„Da du anscheinend so viel Wert auf eine intakte Familie legst, frage ich mich, warum du nicht längst wieder geheiratet hast", forderte sie ihn heraus, obwohl sie den Grund kannte. „Wieso lebst du seit beinah fünfundzwanzig Jahren allein, Paps?"
„Weil ... weil es sich so ergeben hat.", wich er aus. Das wunderte Constance nicht. Ihr Vater würde nie eingestehen, dass in seinem Leben immer nur eine Frau existiert hatte: seine Ex-Frau. Seit sie sich von ihm getrennt hatte, war er allein geblieben. - Obwohl es immer wieder Damen gab, die sich für ihn interessierten. Er war jedoch nie darauf eingegangen. Sein Herz gehörte seit fast vierzig Jahren Michelle Levin, einer schönen Französin. Obwohl ihre Scheidung fast ein Vierteljahrhundert zurücklag, konnte er seine große Liebe nicht vergessen.
Wehmütig blickte Anton in die knisternden Flammen des Kaminfeuers.
„Hast du in der letzten Zeit von deiner Mutter gehört?", fragte er gedankenverloren, worauf Constance und ihre Großmutter einen vielsagenden Blick tauschten. „Geht es ihr gut?"
„Ausgezeichnet", bestätigte sie. „Ihre letzte Choreographie war wieder ein Riesenerfolg. Dementsprechend zahlreich sind die Angebote, mit denen man sie aus Paris fortlocken möchte. Maman könnte jederzeit nach Rom zur Commedia dell’arte oder zur Sydney Dance Company wechseln, aber auch Berlin und Zürich würden sie sofort unter Vertrag nehmen."
„Trotzdem bleibt Michelle, wo sie ist", war ihre Großmutter überzeugt, wobei sie die weiße Katze auf ihrem Schoß kraulte. „Sie ist kein Mensch, der wegen der Karriere durch die Welt jettet." Sie kannte ihre Schwiegertochter und nahm es ihrem Sohn auch heute noch übel, dass er damals nicht genug um sie gekämpft hatte. „Für keine noch so hohe Gage würde sie aus Paris weggehen."
„Ich glaube auch nicht, dass Maman ihre Ballettschüler im Stich lassen würde", meinte Constance. „Es ist erstaunlich, mit welcher Geduld und Energie sie auch heute noch unterrichtet – obwohl sie im nächsten Jahr sechzig wird."
„Vielleicht sollten wir alle zu diesem Anlass nach Paris fliegen", schlug Henriette vor. „Das wäre eine gute Gelegenheit ..."
„Mutter!", unterbrach Anton sie, und es geschah selten, dass er sie so ansprach. Von der gesamten Familie wurde sie liebevoll: Hetty genannt. „Du weißt genau, dass Michelle mich nicht sehen will! Ich bin ..."
„Ach, hör doch auf, dir selbst und dem Rest der Welt etwas vorzumachen!", fiel sie ihm resolut ins Wort, so dass die Katze erschrocken den Kopf hob. „Du bist nie über diese unselige Scheidung hinweggekommen! Ihr habt euch getrennt, obwohl ihr euch geliebt habt! Aber ihr seid beide zu stolz gewesen, euch das einzugestehen! Seit fünfundzwanzig Jahren meidet ihr einander wie die Pest! Das ist doch nicht normal!"
„Habe ich jemals behauptet, normal zu sein?" Leise seufzend erhob sich Anton. „Ich gehe noch mal mit dem Hund raus. – Komm, Platon!"
Träge hob das Tier, das zu Constances Füßen lag, den Kopf.
„Platon!", ertönte die ungeduldige Stimme seines Herren. „Nun komm schon!"
Zögernd stand das Tier auf und trottete mit ihm hinaus.
„Das ist typisch dein Vater", bemerkte Henriette. „Immer, wenn sich das Gespräch in diese Richtung bewegt, kneift er."
„Maman verhält sich genauso", erwiderte Constance missbilligend. „Zwar erkundigt sie sich stets wie beiläufig nach seinem Befinden, aber so wie ich das Thema vertiefe, weicht sie aus. Wenn die beiden in dieser Hinsicht nicht so furchtbar stur wären, könnten sie längst wieder zusammen sein."
„Seit ihrer Trennung hast du doch immer wieder versucht, sie zu versöhnen. Daraus wird wohl nie was werden. Dein Vater wird mal als einsamer alter Mann enden, und deine Mutter ..."
„Nein, Hetty", unterbrach sie ihre Großmutter. „Obwohl meine Eltern seit damals kein Wort miteinander gewechselt haben, sind sie durch mich sehr gut übereinander informiert. Solange bei ihnen noch das Interesse für den anderen besteht, und ich spüre, dass sie noch sehr viel füreinander empfinden, gebe ich nicht auf. Ich bringe die beiden wieder zusammen. Diesmal wird mein Plan funktionieren."
Gespannt beugte sich die alte Dame etwas vor.
„Was hast du denn nun wieder ausgeheckt?"
„Am nächsten Wochenende findet doch das Motorradrennen statt. Maman kommt extra aus Paris, um ihre Tochter anzufeuern."
„Weiß Michelle denn nicht, dass dein Vater auch dort sein wird?"
„Wieso? Paps ist dann doch auf Geschäftsreise."
„So!?" Erstaunt krauste Henriette die Stirn. Von dieser Reise hörte sie zum ersten Mal. „Ich verstehe nicht, dass Anton ausgerechnet ... Moment", unterbrach sie sich selbst, wobei sie Constance scheinbar vorwurfsvoll anschaute. „Hast du deine Mutter etwa beschwindelt?"
„Wie kommst du denn darauf?", tat sie empört. „So was tut man doch nicht. – Allerdings kann ich nicht garantieren, dass ich durch den ganzen Stress nicht irgendwas durcheinandergebracht habe."
„Na, du bist mir vielleicht ein Herzchen", tadelte Henriette sie gutmütig. „Da dein Vater vermutlich auch nicht erfährt, dass deine Mutter kommt, werden die beiden sich völlig ahnungslos gegenüberstehen. Das hast du dir ja fein ausgedacht."
„Das finde ich auch", stimmte sie ihrer Großmutter amüsiert zu. „Vor all den Leuten können meine Eltern nicht so tun, als ob der andere Luft wäre. Sie werden wohl oder übel einige Worte wechseln müssen. Das ist dann hoffentlich ein Anfang."
„Die Versöhnung der beiden noch erleben zu dürfen, würde mich sehr glücklich machen. Dann könnte ich beruhigt abtreten."
„Du überlebst uns wahrscheinlich alle", scherzte Constance, die nicht daran denken wollte, dass ihre geliebte Großmutter eines Tages nicht mehr da sein würde. „Außer dir kenne ich niemanden in diesem hohen Alter, der noch so fit ist."
„Nun übertreibst du aber. Die alten Knochen wollen schon lange nicht mehr so wie früher. Außerdem werde ich allmählich vergesslich. – Und mein Blutdruck ist immer noch zu hoch."
„Dr. Seidel hat dir doch Tabletten verordnet."
„Die bekommen mir nicht.“
„Warum hast du mir das nicht längst gesagt?“
„Du hast doch auch so schon genug zu tun.“
„Das kommentiere ich jetzt besser nicht“, bemerkte Constance mit leisem Vorwurf in der Stimme. „Jedenfalls müssen wir sofort etwas gegen deinen hohen Blutdruck unternehmen. Sonst versammelt sich bald die ganze Familie um dich: schwarz gekleidet und sehr feierlich." Beunruhigt umschloss sie die schmale Hand ihrer Großmutter. „Ich werde dir ein anderes Mittel verschreiben. Bitte, versprich mir, dass du es regelmäßig einnehmen wirst."
„Ja, mein Kind.“