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Kapitel 7

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12. Oktober 2012 in einer Holzhütte

Am siebten Tag ihrer Gefangenschaft war Constance am Ende ihrer Kräfte. Sie hatte nichts mehr zu essen; den letzten Schluck Mineralwasser hatte sie nach dem Aufwachen getrunken. Jetzt konnte sie nur noch abwarten, bis sie das Bewusstsein verlieren würde. Sie wusste, was ihr bevorstand, dennoch klammerte sie sich an ein letztes bisschen Hoffnung. Sie dachte an ihre Familie und das Bild ihrer Tochter erschien vor ihren Augen. Nathalie hatte ihr fröhlich zugewinkt, als sie nach ihrem letzten Besuch Abschied auf dem Flughafen genommen hatten.

Abrupt setzte sie sich auf. Sie hatte plötzlich das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben.

Du hast dein Kind fortgeschickt, weil du allen beweisen wolltest, dass du dir auch ohne das Geld deiner Familie etwas aufbauen kannst! Du hast Nathalie eingeredet, jetzt wäre der günstigste Zeitpunkt für einen Auslandsaufenthalt! Du hast ein halbes Jahr mit deiner Tochter verschenkt, weil dein Ehrgeiz größer war, als deine Liebe zu deinem Kind!

„Das ist nicht wahr ...“, flüsterte sie – Tränen rannen über ihr Gesicht. „Bitte, verzeih mir, meine kleine Schnuppe. Du bist doch das Wichtigste in meinem Leben ...“

Weinend krümmte sie sich zusammen. Es brach ihr das Herz, dass sie ihrer Tochter viel zu selten gesagt hatte, wie sehr sie sie liebte. Nun war es zu spät. Nathalie würde ohne ihre Mutter aufwachsen müssen. Einen Vater hatte sie nie gehabt. Aber sie hatte liebevolle Großeltern, die sich um sie kümmern würden. – Dieser Gedanke erleichterte sie ein wenig. Sie setzte sich wieder auf und wischte die Tränen aus ihrem Gesicht.

Plötzlich hielt sie inne. Waren da nicht andere Geräusche, als die, die sie seit Tagen hörte? Angestrengt lauschte sie in die Stille. Außer dem Gesang der Vögel, dem Rauschen der Bäume und dem nicht enden wollenden Regen schien es bisher nichts außerhalb der Hütte zu geben. Doch nun ver­nahm sie eindeutig den Motor eines sich nähernden Autos. Waren ihre Entführer auf dem Weg zu ihr? Unwillkürlich kauerte sie sich in eine Ecke der Pritsche. Kamen die Kidnapper, um sie frei­zulassen? Womöglich hatten sie bereits Lösegeld von ihrem Vater erhalten. Das konnte aber auch bedeuten, dass man keine lebende Geisel mehr brauchte. Voller Angst lauschte sie den Schritten, die jetzt deutlich zu hören waren. Ein Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht, die Tür aufgestoßen. Die Silhouette einer bedrohlich wirkenden Gestalt zeichnete sich dunkel gegen das nun hereinfallende Tageslicht ab. Der Strahl einer Taschenlampe traf sie. Geblendet schloss sie für einen Moment die Lider. Als sie die Augen wieder öffnete, schaltete der schwarz gekleidete Mann die Taschenlampe aus und legte sie aus der Hand.

Mit einer Mischung aus Angst und Neugier schaute Constance ihn an. Sie erkannte, dass er eine den ganzen Kopf bedeckende Gorillamaske und schwarze Handschuhe trug. Er sah tatsächlich aus wie ein großer Affe.

„Wer sind Sie?", fragte sie bemüht, sich ihre Angst nicht an­merken zu lassen. „Warum kommen Sie erst jetzt?“

„Ich bringe dir nur ein paar Sachen“, antwortete eine dumpfe Männerstimme hinter der Maske. Aus einer Tragetasche nahm er vier große Flaschen Mineralwasser und stellte sie auf den Tisch.

Sofort sprang sie auf, griff nach einer der Flaschen, schraubte sie auf und setzte sie an die Lippen. Gierig trank sie daraus.

„Nicht so hastig“, sagte der Kidnapper. „Das muss eine Weile reichen.“

„Ich soll noch hierbleiben?“, schloss sie entsetzt aus seinen Worten und stellte die Flasche zurück. „Warum?“

„Weil das alles länger als geplant dauert. Wir müssen warten, bis deine Eltern aus Paris zurück sind. Das dauert noch ein paar Tage.“

„Meine Eltern sind in Paris?“ Sie hatte gar nicht gewusst, dass sie vereisen wollten. Fieberhaft überlegte sie. „Sie wollen doch Lösegeld für mich. Lassen Sie mich frei. Ich bitte meine Großmutter unter einem Vorwand um das Geld.“

„Dann können wir uns auch gleich an die Alte wenden.“

„Nein!“, brachte sie erschrocken hervor. „Meine Großmutter ist alt und krank. Das würde sie nicht überleben!“

„Dann musst du wohl doch noch ein paar Tage bleiben.“ Es klang spöttisch. „Ist doch ganz gemütlich hier.“

„Diese Bruchbude ist eine Zumutung – und scheißkalt!“, entfuhr es ihr. „Ich will warme Kleidung und was Vernünftiges zu essen!“ Nach der Anspannung der letzten Tage tat es ihr gut, Dampf abzulassen. „Außerdem will ich frisches Wasser, Zahnputzzeug und ein Handtuch! – Und Licht!“

„Sonst noch Wünsche?“, höhnte der Gorilla und packte seelenruhig die mitgebrachten Sachen aus. Kekse, eine große Packung Zwieback, Kartoffelchips, eine Tafel Schokolade, Kaugummi.

Alles, was man für eine ungesunde Ernährung benötigte, legte er in Constances Reichweite. Zuletzt stellte er noch eine Thermos­flasche dazu.

„So, das ist alles."

„Das reicht mir aber nicht", sagte sie mutig. „Wenn Sie mich hier länger festhalten wollen, brauche ich was Warmes zum Anziehen.“

Er musterte sie ungeniert von Kopf bis Fuß.

„Na ja, ich will mal nicht so sein ...", murmelte er und wandte sich zur Tür. Rechts davon war anscheinend eine Nische, aus der er einen zerschlissenen Trenchcoat zum Vorschein brachte, den er seiner Gefangenen zuwarf. Geschickt fing sie ihn auf und betrachtete ihn skeptisch.

„Den kann ich nicht anziehen.“

„Stell dich nicht so an!“

Langsam hob sie den Arm.

„Wie denn? Sie müssen mir die Handschelle abnehmen!“

Nach kurzem Zögern fischte er einen kleinen Schlüssel aus der Hosentasche.

Damit ging er auf Constance zu, griff nach ihrem Arm und befreite sie von der Metallfessel.

Dann trat er einen Schritt zurück und beobachtete, wie sie in den Mantel schlüpfte. Während sie den Gürtel um die Taille schlang, streifte ihr Blick die offenstehende Tür. Das war die Gelegenheit!

„Versuch es gar nicht erst“, sagte der Gorilla mit gefährlich ruhig klingender Stimme und schob seine schwarze Jacke etwas auseinander, so dass sie die Pistole sehen konnte, die in seinem Hosenbund steckte. „Ich schieße schneller, als du laufen kannst.“

Resigniert hielt sie ihm den linken Arm hin und war Sekunden später wieder an die Handschelle gekettet. Mit dem Kopf deutete sie zu den Gummistiefeln neben der Tür.

„Kann ich die auch haben?“

„Meinetwegen.“

Er griff danach und stellte sie neben den Tisch. Wortlos nahm er dann den Eimer mit dem längst brackig gewordenen Wasser.

„Jetzt hole ich dir noch frisches Wasser aus dem Brunnen", kündigte er an. „Wenn du dann noch nicht zufrieden bist, ist das dein Pech."

Als er hinausging, sah Constance draußen Büsche und Bäume. Die Hütte befand sich also tatsächlich irgendwo in einem Wald. Da der Mann die Tür beim Hinausgehen nicht geschlossen hatte, befürchtete er anscheinend nicht, dass zufällig jemand vorbeikommen könnte. Also würde es ihr auch nichts nutzen, zu schreien. Stattdessen überlegte sie, ob sie den Mann damit konfrontieren sollte, dass sie ahnte, wer für ihre Entführung verantwortlich war. Oder war das zu gefährlich? Womöglich würde er die Lebensmittel und das Wasser wieder mitnehmen und sie hier verrecken lassen?

Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, trat er mit dem gefüllten Wassereimer ein und stellte ihn wieder in Constances Reichweite.

„So, das war’s für heute.“

„Haben Sie vielleicht eine Zeitung oder was anderes zum Lesen?“, fragte sie spontan. „Die Zeit vergeht hier überhaupt nicht.“

„Was denn noch?“, gab er mürrisch zurück, zog aber einen großen Karton aus einer Ecke hervor und kramte darin. Unterdessen nahm Constance die Taschenlampe vom Tisch und versteckte sie hinter ihrem Rücken.

Mit einem Stapel verstaubter Taschenbücher trat der Kidnapper wieder an den Tisch.

„Mehr als diese alten Schinken kann ich dir nicht bieten.“

„Danke.“

Er legte die Bücher ab und hielt einen Moment inne. Dann streckte er fordernd die Hand aus.

„Die Taschenlampe!“

„Es wird doch schon so früh dunkel", wandte sie ein. „Dann ist es hier so finster, dass ich nicht mal die Toilette finde.“

Drohend kam er auf sie zu.

„Her damit!“

Mit einem Seufzer zog sie die Lampe hervor und hielt sie ihm hin.

„Braves Mädchen“, lobte er und nahm sie ihr aus der Hand. „Man sieht sich.“

„Gibt es hier vielleicht eine Kerze?“, rief sie ihm nach, als er sich abwandte. „Damit ich wenigstens lesen kann.“

„Du nervst!“, brummte er, ging aber noch einmal zu dem großen Pappkarton. Nach einigem Suchen förderte er daraus eine alte Zigarren­kiste gefüllt mit Kerzenresten zutage.

„Glück gehabt", sagte der Mann, griff in seine Hosentasche und zog ein blaues Einwegfeuerzeug hervor, das er zuerst abwischte, bevor er es zu den Kerzen legte. „Mehr gibt es heute nicht, Schätzchen." Über den Tisch hinweg reichte er Constance die Kiste. „In ein paar Tagen komme ich wieder. Halt bis dahin die Ohren steif."

„Können Sie mir nicht wenigstens sagen ..."

„Nein!", unterbrach er sie barsch und ging hinaus.

Wenige Augenblicke später hörte sie, dass er die Tür abschloss. Nun war sie wieder allein.

Obgleich sie noch immer nicht genau wusste, wie lange man sie hier noch gefangen halten würde, verspürte sie eine gewisse Erleichterung, dass sie nun einige Nahrungsmittel besaß, um die nächsten Tage zu überleben. – Und frisches Wasser! Da sie es gewohnt war, zweimal täg­lich zu duschen, fühlte sie sich schon seit Tagen schmutzig. Trotzdem würde sie das Wasser nicht verschwenden. Sie nahm drei der kleinen leeren Mineralwasserflaschen und tauchte sie in den Eimer, bis sie gefüllt waren. Sorgfältig schraubte sie die Verschlüsse wieder zu. Nun hatte sie einen zusätzlichen Vorrat, falls ihr Entführer wieder erst nach sieben Tagen auftauchen würde. Mit dem restlichen eiskalten Wasser wusch sie sich dann so gut es unter diesen Umständen möglich war. Durch das gefesselte Handgelenk war es zwar unmöglich, dazu den Mantel und das knielange T-Shirt abzustreifen. Dennoch fühlte sie sich nun etwas wohler. Sie setzte sich auf die Pritsche und griff nach den Gummistiefeln. In jedem davon steckte sogar eine Wollsocke. Mit spitzen Fingern zog Constance sie heraus. Sie sahen aus, als wären sie noch nie gewaschen worden und hätten schon Generationen von Motten ernährt. Dennoch widerstand sie der Versuchung, daran zu riechen und streifte sie über ihre kalten Füße. Sie waren viel zu groß – wie die Gummistiefel, in die sie nun schlüpfte.

Der speckige Mantel schien einem Riesen zu gehören, so dass sie sich fast darin einwickeln konnte. Deshalb schlang sie den Gürtel eng um ihre Taille, bevor sie an den Tisch trat. Die Mineralwasserflaschen deponierte sie gleich neben ihrem Lager. Anschließend überprüfte sie die wenigen Nahrungsmittel. Sie errechnete, dass sie etwa eine Woche damit auskäme - falls sie sich weiterhin genauso einschränkte, wie in den vergangenen Tagen. Zuletzt öffnete sie die Thermosflasche; aromatischer Kaffee­duft stieg ihr in die Nase.

Welch ein Luxus, dachte sie und schenkte sich gleich einen Becher davon ein. Sorgfältig schraubte sie die Flasche wieder zu, ehe sie sich auf dem Stuhl niederließ. Sie verdrängte den aufkeimenden Gedanken, dass der Kaffee vergiftet sein könnte. Die Mühe hätte sich der Gorilla erspart. Er hätte einfach nur noch ein paar Tage mit seinem Besuch warten müssen, dann wäre sie ohnehin tot gewesen. Mit beiden Hän­den umfasste sie den Kaffeebecher, wärmte ihre kalten Finger daran. Vorsichtig nippte sie an dem heißen Getränk. Der Kaffee war stark und ungesüßt. – Genau, wie sie ihn mochte. Vorsichtig nahm sie einen größeren Schluck. Sekundenlang krampfte sich ihr Magen schmerz­haft zusammen – der durch die erzwungene Diät der letzten Tage entwöhnt war.

Erleichtert atmete sie auf, als sich ihr Magen beruhigte und das Koffein in ihren Organismus einsickerte. Eine angenehme Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus, mobilisierte ihre Lebensgeister.

Allmählich wurde es dunkler in der Hütte; der Abend nahte. Bevor Constance jedoch eine der Kerzen ansteckte, untersuchte sie den Inhalt der Zigarrenkiste.

Darin befanden sich außer einem Kugelschreiber neun mehr oder weniger heruntergebrannte Kerzenreste. Manche waren so klein, dass sie allenfalls eine Stunde Licht spenden würden. Sie würde sehr sparsam damit umgehen müssen. Mit dem Feuerzeug zündete sie einen der kleineren Stummel an, ließ etwas Wachs auf die Tischplatte tropfen und drückte die Kerze hinein, so dass sie fest stand. Danach griff sie nach den Büchern. Durch kräftiges Pusten gelang es ihr, sie vom gröbsten Staub zu befreien. Interessiert schaute sie sich die fünf Taschen­bücher an. Es handelte sich durchweg um Krimis - ihre bevorzugte Lektüre, wenn sie sich entspannen wollte. Spontan entschied sie sich für den Titel: Im Banne des Bösen, weil ihr die Ähnlichkeit mit ihrer eigenen Situation bewusst wurde. Auch sie war etwas Bösem in die Hände gefallen.

Geraubtes Leben

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