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Kapitel 2
ОглавлениеAugust 2012
Constance hatte das Therapiezentrum ein halbes Jahr zuvor eröffnet. Es war schon immer ihr Traum gewesen, alle für ihre Fachrichtung wichtigen Behandlungen unter einem Dach anzubieten. Dadurch entfielen für ihre Patienten, die überwiegend in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt waren, lange Wege. Außerdem konnte sie die weitere Behandlung mit den Kollegen persönlich und zeitnah absprechen.
Herzstück des Zentrums war ihre Praxis für Orthopädie und Sportmedizin. Daran angeschlossen waren verschiedene Abteilungen: Physiotherapie, Ergotherapie und Hydrotherapie, außerdem zählten Massagen, Gymnastik- und Yogakurse zu den Angeboten.
Constance war nicht nur stolz darauf, dass sie ihre Pläne ohne die finanzielle Hilfe ihres Vaters verwirklicht hatte, sondern auch auf den Erfolg ihrer Idee. Das Zentrum wurde von Patienten so gut angenommen, dass sie den Wartebereich hatte erweitern müssen. Zwar klappte die Terminvergabe gut, aber viele Patienten kamen unangemeldet. Deshalb waren zusätzliche Sitzplätze notwendig.
Für die Umgestaltung hatte sie einen Mittwochnachmittag gewählt, an dem das Zentrum geschlossen war, und aus Kostengründen einen Helfer von der Jobvermittlung angefordert.
Als dieser Mann endlich erschien, hatte Constance schon mit der Arbeit begonnen. Sie war etwas ungehalten über die Verspätung des Helfers, der zunächst verwundert darüber schien, dass er eine Wand streichen sollte. Er wirkte auch nicht wie ein Gelegenheitsarbeiter, der öfter solche Jobs übernahm. Aber Constance fragte nicht weiter nach, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Sie wusste, dass es Arbeitslosen oft unangenehm war, darüber zu sprechen, wie sie in diese Lage geraten waren.
Nach etwa zwei Stunden machten sie eine kurze Pause. Bei einer Flasche Mineralwasser begutachteten sie ihr Werk.
„Wer hat Sie eigentlich dazu verdonnert, hier zu pinseln?“, fragte er, wobei er sie ungeniert musterte. Was er sah, schien ihm zu gefallen. „Der alte Drache?“
Irritiert blickte sie ihn an.
„Wer?“
„Ihre Chefin. - Angeblich soll diese Frau Dr. Meves ziemlich resolut sein.“ Erwartungsvoll trat er einen Schritt näher. „Unter uns gesagt: Ist sie wirklich so ein harter Brocken?“
Rasch blickte sie sich nach allen Seiten um, als müsse sie sich vergewissern, dass sie von niemandem gehört wurde.
„Unter uns gesagt: Diese Frau hat Haare auf den Zähnen. Man sollte sich besser nicht mit ihr anlegen.“
„Ist sie wirklich so schlimm?“
„Das bleibt aber bitte unter uns. Sonst müsste ich mir wahrscheinlich einen neuen Job suchen.“
„Ich kann schweigen“, behauptete er, bevor er sie noch einmal taxierte. „Obwohl eine Frau wie Sie bestimmt nicht lange arbeitslos wäre.“
„Darauf möchte ich es lieber nicht ankommen lassen. Deshalb sollten wir jetzt weiterarbeiten.“
„Okay“, sagte er und stellte seine Flasche auf die Fensterbank. „Sie gefallen mir trotzdem“, fügte er hinzu und griff wieder nach der Farbrolle. „Sehr sogar.“
Sie kommentierte seine Worte nicht, obwohl er anziehend auf sie wirkte. Unter anderen Umständen hätte sie sich vielleicht auf einen Flirt eingelassen, aber dafür hatte sie keine Zeit. Sie musste sich auf ihre Arbeit im Zentrum konzentrieren, damit sie kürzertreten konnte, wenn ihre Tochter in sechs Monaten von ihrem Auslandsschuljahr zurückkehren würde.
Als die Wände gestrichen waren, räumten sie die Malerutensilien in einen Abstellraum und falteten gemeinsam die Folie auf dem Fußboden zusammen.
Schließlich blieb der Helfer dicht vor Constance stehen und übergab ihr seine Hälfte der Plane. Dabei verfingen sich ihre Blicke.
In diesem Moment kamen vier Männer herein, die allesamt in schwarze Lederkombis gekleidet waren.
„Stören wir?“
„Ja“, sagte Constances Hilfsarbeiter etwas ungehalten, aber sie schüttelte den Kopf.
„Nein.“
„Aha“, meinte der Mann, dessen Körperbau einem Kleiderschrank ähnelte. „Dann kann die Party ja steigen.“
Bevor Constance etwas sagen konnte, schob sich ihr Helfer zwischen sie und den vermeintlichen Rocker.
„Hier gibt es keine Party. Ihr solltet besser verschwinden.“
Mit breitem Grinsen verschränkte der vollbärtige Mann die mächtigen Arme vor der Brust.
„Woher hast du denn den Komiker?“
„Die Jobvermittlung hat ihn geschickt“, erklärte Constance.
„Zum Pinseln? Der sieht eher aus wie ein Schreibtischhengst. Hat er auch einen Namen?“
„Man nennt mich Karate-Kid“, sagte der Helfer völlig ernst. „Außerdem bin ich vielseitig begabt. Also spar dir deine dummen Sprüche.“
„Okay, das reicht jetzt, Jungs!“ Energisch trat Constance zwischen die Männer, die sie allesamt überragten. „Habt ihr die Stühle abgeholt, Buddy?“
„Wir müssen sie nur noch ausladen.“ Herausfordernd blickte er Karate-Kid an. „Du kannst auch mit anpacken. Oder bist du nur zum Pinseln zu gebrauchen?“
„Das wirst du gleich sehen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte er hinaus.
Zu fünft trugen sie das neue Mobiliar aus dem vor dem Haus geparkten Lastwagen ins Zentrum. Constance zeigte ihnen, wohin sie die Stühle stellen sollten.
„Das war’s", wandte sich Buddy schließlich an Constance. „Hast du sonst noch was für uns zu tun?"
„Nein, danke. Meinetwegen könnt ihr den Laster jetzt zurückbringen. Wir treffen uns dann bei Didi. Er soll schon mal seine größten Steaks für uns in die Pfanne hauen; ich habe einen Bärenhunger."
„Didi weiß schon Bescheid", sagte ein blonder Hüne mit Bürstenhaarschnitt. „Ich habe ihn vorhin schon vorgewarnt, dass wir nachher mit Mordshunger im Domino einfallen. Punkt acht steht für jeden von uns ein Bier auf dem Tisch."
„Keule, du bist einmalig", lobte Constance ihn lächelnd. „Sowie ich geduscht und mich umgezogen habe, stoße ich zu euch."
„Okay, bis dann", entgegnete der Mann, worauf die vier Freunde das Zentrum verließen.
„So, und nun zu Ihnen", wandte sich Constance an ihren Helfer. „Sie waren gegen vier Uhr hier; jetzt ist es gleich halb acht. Mit der Arbeitsvermittlung waren zehn Euro pro Stunde vereinbart." Mit zwei Fingern fischte sie eine Banknote aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und reichte dem Mann den Fünfzigeuroschein.
„Das ist aber zu viel", protestierte er. „Leider habe ich kein Wechselgeld bei mir."
„Lassen Sie nur", winkte sie ab. „Sie haben gut gearbeitet. Gönnen Sie sich von dem Rest einen netten Abend, oder kaufen Sie Ihrer Frau einen Blumenstrauß."
„Bislang habe ich mich noch nicht einfangen lassen." Seine braunen Augen funkelten provokant. „Ein wilder Hengst lässt sich nicht so leicht zähmen."
Sie ahnte, dass er über einige Erfahrung mit Frauen verfügte, obwohl sein Lächeln jungenhaft wirkte.
„Ein sattelfester Reiter wüsste sicher auch ein noch so störrisches Pferd zu bändigen", meinte sie spöttisch. „Oder haben Sie noch nie von Zuckerbrot und Peitsche gehört? Das ist alles nur eine Frage der Dosierung."
„Sprechen Sie aus Erfahrung?" Erwartungsvoll musterte er sie von Kopf bis Fuß. „Hätten Sie nicht Lust herauszufinden, ob Ihre Methode auch bei mir funktioniert?"
„Kein Bedarf."
„Glücklich verheiratet?"
„Völlig ungebunden", verneinte sie. „Klinisch formuliert: Ich mag Männer lieber ambulant als stationär."
Skeptisch hob er die Brauen.
„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?"
Ihr abschätzender Blick maß ihn von Kopf bis Fuß.
„Besser nicht."
„Sind Sie tatsächlich eine dieser fürchterlichen Emanzen, die alles allein meistern will?", fragte er sichtlich enttäuscht. „Ich hätte sie eher für eine sinnliche Frau gehalten: anschmiegsam und hingebungsvoll."
„So kann man sich irren. Anscheinend sind Sie einer dieser Machos, die von einer Frau erwarten, dass sie gleich nachgibt."
„Bis jetzt hat sich bei mir noch keine Frau beklagt. Die meisten mögen es, wenn man ihnen den Hof macht.“
„Ist das Ihre Taktik?", fragte sie direkt. „Und wenn Sie Ihr Ziel erreicht haben? Wenn sie schwach geworden ist? Wahrscheinlich verlieren Sie dann bald das Interesse und halten nach der nächsten Ausschau."
„Und was ist mit Ihnen? Wenn Sie Lust haben, reißen Sie sich einen willigen Mann auf. Danach werfen ihn raus oder gehen nach Hause. - Finden Sie das okay?"
„Jedenfalls ist es ehrlicher, als Hoffnungen zu wecken, die man doch enttäuschen würde."
Während sie sich fragte, warum sie ausgerechnet mit einem Hilfsarbeiter, der ihr noch dazu völlig fremd war, über dieses Thema diskutierte, trat er dicht vor sie hin.
„Wissen Sie überhaupt, was aufrichtige Empfindungen sind?" Sein Blick hielt ihre Augen wie durch Magie gefangen. „Gewöhnlich ist es schwerer, Gefühle zu verbergen, die man hat, als welche zu heucheln, die man nicht hat."
„Ich heuchele keine Gefühle", erwiderte sie ruhig, obwohl seine unmittelbare Nähe ein leises Kribbeln in ihrem Nacken verursachte. So erging es ihr immer, wenn sie sich physisch stark zu einem Mann hingezogen fühlte.
„Das können wir ja gleich mal testen", schlug er vor und legte leicht die Hände auf ihre Schultern. Ein sinnliches Lächeln umspielte seine Lippen. Ohne den Blick aus ihren Augen zu lösen, kam sein Gesicht gefährlich nahe. Der herbe Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase. Plötzlich schien sich die Luft zwischen ihnen elektrisch aufzuladen.
Bevor seine Lippen ihren Mund jedoch berührten, trat Constance instinktiv einen Schritt zurück.
„Angst?", fragte er daraufhin leise.
„Mir ist nur gerade nicht danach. Außerdem bestimme ich Ort und Zeitpunkt dafür gern selbst. Vor allem aber wähle ich mir sorgfältig aus, auf wen ich mich einlasse." Rasch warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Sie sollten jetzt gehen; ich habe noch eine Verabredung."
Mit einem Seufzer ließ er die Hände sinken.
„Wollen Sie sich wirklich mit diesen Typen treffen?"
„Diese Typen sind meine Freunde", betonte sie. „Wirkliche Freunde."
„Warum haben die Ihnen dann nicht bei der Renovierung geholfen?"
„Weil sie beruflich stark eingespannt sind. Buddy hat eine Autowerkstatt, und Keule ist in der Werbebranche, Andy ist Rechtsanwalt und Gus arbeitet bei der Stadtverwaltung. Ich bin schon froh, dass sie die Stühle nach Feierabend für mich abgeholt haben." Energisch ging sie zur Tür. „Nun möchte ich meine Freunde nicht länger warten lassen."
Widerstrebend folgte er ihr hinaus.
„Okay, dann gehe ich jetzt. - Aber ich komme wieder."
„In der nächsten Zeit brauche ich keine Hilfe."
„Wer weiß ...", meinte er schmunzelnd, hängte sich seinen Pullover über die Schultern und öffnete die Tür. „Ciao, Bella!"
Auch Constance verließ das Zentrum. Sie musste nur die Straße überqueren, um ihre Wohnung im Haus gegenüber zu erreichen. Dort duschte sie rasch, kleidete sich an und fuhr zu ihrem Stammlokal.
Dieter Grundmann hatte die ehemalige Eckkneipe vor zwei Jahren übernommen und in ein wahres Schmuckstück verwandelt. Während er selbst hinter der Theke stand, entfaltete sein Lebensgefährte in der Küche seine Kochkünste. Diese wurden inzwischen in der ganzen Stadt gerühmt, so dass das Domino als Geheimtipp unter Feinschmeckern galt. Dementsprechend war es nicht immer einfach, dort abends einen Tisch zu bekommen.
Als Constance das Lokal betrat, kam der Wirt sofort hinter der Theke hervor. Lächelnd ging er ihr entgegen.
„Hallo, Conny“, begrüßte er sie und küsste sie auf beide Wangen. „Schön, dich wieder mal hier zu haben.“
„Ich weiß doch, was ich meinem Magen schuldig bin, Didi.“
„Du kommst nicht nur meinetwegen?“, sagte er in gespielter Verzweiflung. „Lass dich trotzdem erst mal anschauen.“ Anerkennend musterte er ihre Gestalt, die nun in einem leichten Kleid steckte. „Hinreißend siehst du aus, meine Liebe. Wäre ich ein normaler Mann, wäre ich dir längst rettungslos verfallen.“
„Du bist normaler als die meisten Männer, die ich kenne, du alter Schmeichler", gab sie amüsiert zurück. Es störte sie nicht im Geringsten, dass er homosexuell war. Sie hegte keine Vorurteile, bewunderte sogar, dass er - trotz der auch heute noch existierenden negativen Einstellung darüber - offen zu seiner gleichgeschlechtlichen Neigung stand. „Bringst du mir bitte ein Bier, Didi?"
„Ist schon unterwegs", versprach er, worauf sie sich zu ihren Motorradfreunden gesellte.
„Entschuldigt meine Verspätung", bat sie und nahm neben Buddy Platz. „Habt ihr schon gegessen?"
„Wir haben auf dich gewartet", verneinte Gus, der eigentlich Gustav hieß. „Wer hat dich denn noch aufgehalten?" Ein vielsagendes Schmunzeln breitete sich auf seinem schmalen Gesicht aus. „Dein Anstreicher?"
„Wie kommst du denn darauf?"
„Hast du nicht gemerkt, wie er dich angeguckt hat?"
Mit Unschuldsmiene erwiderte sie seinen Blick.
„Wie hat er mich denn angeschaut?"
„Wie ein gieriger Hund einen äußerst delikaten Knochen."
„Vielen Dank für den netten Vergleich mit einem Knochen", entgegnete sie trocken. „Eigentlich dachte ich immer, dass an mir etwas mehr dran ist."
„Du weißt schon, wie ich das meine", behauptete er lachend. „Zu deiner Beruhigung kann ich dir aber versichern, dass deine Anatomie genau an den richtigen Stellen alles andere als knochig ist. Das ist auch deinem Anstreicher aufgefallen."
„Kam der wirklich von der Jobvermittlung?", zweifelte Andy, der Rechtsanwalt. „Auf mich hat er eher den Eindruck eines Playboys gemacht."
„Wie ein Hilfsarbeiter hat der tatsächlich nicht ausgesehen", fügte Buddy hinzu. „Solche Typen machen sich normalerweise nicht die Hände schmutzig. Der passt eher in ein vornehmes Büro."
„Habt ihr den schwarzen Porsche vor dem Haus gesehen?", fragte Constance nachdenklich. „Damit ist er weggefahren."
„Das war seine Kiste?" Beeindruckt nickte Buddy. „Kein schlechter Wagen. Ich habe ihn mir angeschaut. Ein historisches Modell – gut und gerne dreißig Jahre alt. Und sehr gepflegt.“
„Vielleicht war das so ein reicher Spinner", überlegte Volker, dem der Spitzname Keule anhaftete, seit er eine erfolgreiche Werbekampagne für Hähnchenschenkel entworfen hatte. „Manche Leute kommen auf die merkwürdigsten Ideen, wenn sie zu viel Kohle haben."
„Im Grunde ist völlig unwichtig, wer er war", meinte Constance. „Er hat mir bei der Renovierung geholfen, und ich habe ihn dafür bezahlt. Damit ist die Sache für mich erledigt." Sie nahm das Bierglas entgegen, das der Wirt nun brachte. „Danke, Didi." Lächelnd blickte sie in die Runde. „Und euch danke ich für eure Hilfe. – Prost!"
Niemand in dem gut besuchten Lokal beachtete die Frau mit den dunklen Locken, die in einer Nische saß. Die Augen hinter den dicken Brillengläsern beobachteten die Runde der fünf Freunde unauffällig, aber sehr genau. Besonders interessierte sie die Frau mit dem blonden Haar. Jede Bewegung, jede Geste von Constance Meves versuchte sie sich einzuprägen – wie sie ihr Glas hielt, wie sie sich leicht zurücklehnte, wenn sie lachte, wie sie sich mit der Serviette den Mund abtupfte ...