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Kapitel 4
ОглавлениеAugust 2012
Am Tag nach der Renovierung fuhr Constance gleich morgens zur Klinik am Stadtpark. Nach ihrem Medizinstudium hatte sie sich auf Störungen im Bewegungsapparat des Menschen spezialisiert. Wenigstens einmal in der Woche suchte sie die Patienten auf, die nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus bei ihr im Zentrum ambulant weiterbehandelt wurden. Eine ihrer Mitarbeiterinnen betreute diese Patienten vormittags in der Klinik, in manchen Fällen übernahm Constance die Therapie jedoch von Anfang an selbst.
An diesem Morgen beschäftigte sie sich intensiv mit einem Schlaganfallpatienten, der unter rechtsseitigen Lähmungen litt.
Anschließend schaute sie in das Arbeitszimmer der Oberärztin der Orthopädie Dr. Sabine Schubert, mit der sie seit Jahren befreundet war.
„Hallo, Sabine", sagte Constance mit der Klinke in der Hand. „Hast du einen Moment Zeit?"
„Für dich immer", erwiderte die Kollegin und klappte eine Patientenakte zu. „Nimm dir einen Kaffee und setz dich zu mir."
Gern kam Constance dieser Aufforderung nach.
„Was gibt es Neues, Conny?", fragte Sabine, als sie ihr gegenüber saß. „Hast du die Renovierung deines Wartezimmers schon durchgezogen?"
„Es ist gestern fertiggeworden", bestätigte Constance, ehe sie an ihrem heißen Kaffee nippte. „Und wie sieht es bei dir aus? Der Flurfunk meldet, dass du Piet endlich erhört hast.“
„Was hätte ich tun sollen? Du wolltest mich doch unbedingt mit ihm verkuppeln.“
„Ich?“
„Tu bloß nicht so unschuldig. Das ist doch dein liebstes Hobby. Nur weil es dir nicht gelingt, deine Eltern wieder zusammenzubringen, spielst du bei anderen Leuten Amors Assistentin. Dabei solltest du dich besser um dein eigenes Liebesleben kümmern.“
„Das sagst ausgerechnet du?“, erwiderte Constance ohne Vorwurf. „Immerhin warst du fast so lange Single wie ich. Hättest du Piet nicht kenngelernt ...“ Gespannt hob sie die Brauen. „Wie ist es ihm denn gelungen, diesen Zustand zu beenden?“
„Er hat mich damit geködert, dass er einen Kurs in japanischer Liebeskunst absolviert hat."
„Wie funktioniert das denn? Etwa mit Stäbchen?"
„Wenn ich das rausgefunden habe, gebe ich meine Erfahrungen gern an dich weiter."
„Du bist eine wahre Freundin", meinte Constance amüsiert. „Verrätst du mir auch, wie du dich mit dem neuen Verwaltungsdirektor geeinigt hast? Darfst du das Pflegepersonal auf deiner Station behalten?"
„Eine Schwester hat er mir schon gestrichen", monierte sie. „Demnächst sollen auch noch die Pfleger drankommen." Kampfeslustig reckte sie das Kinn. „Aber ohne mich! Von meiner Station gebe ich keinen her!"
„Was sagen denn die anderen Kollegen?"
„Die sind alle nicht besonders gut auf den Herzog zu sprechen. Mit seinen Umstrukturierungsmaßnahmen bringt er alles durcheinander. Er lässt sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich wurde er ja eingestellt, um die Kosten der Klinik zu reduzieren. Wahrscheinlich dauert es nicht mehr lange, bis er auch dich und deine Leute am Wickel hat."
„Darüber mache ich mir keine Gedanken, Sabine. Immerhin habe ich einen Vertrag."
„... der Ende des Jahres ausläuft", erinnerte die Freundin sie. „Vergiss nicht, dass es sich bei deiner Tätigkeit für die Klinik um einen befristeten Modellversuch handelt."
„Mir wurde aber eine Vertragsverlängerung zugesichert, falls sich die Zusammenarbeit zwischen der Klinik und dem Therapie-Zentrum bewährt."
„So, wie ich diesen Mann einschätze, findet er ein Haar in jeder Suppe, wenn er nur lange genug danach sucht. Darauf ist der doch spezialisiert.“
„An mir würde er sich genauso die Zähne ausbeißen wie vor ihm Benno Gerlach", sagte Constance zuversichtlich. „Der versucht doch auch dauernd, mir Steine in den Weg zu legen. – Nur, weil ich seine männliche Eitelkeit gekränkt habe."
„Ich begreife nicht, wie er erwarten konnte, dass du ihm freudestrahlend in die Arme sinkst. Immerhin hattet ihr jahrelang keinen Kontakt. Wie konntest du damals überhaupt auf ihn reinfallen?"
„Meine Güte, ich war eben jung und naiv. Mit achtzehn tut man manchmal etwas, das man später selbst nicht mehr versteht. Damals war mir nicht klar, dass es das Geld meines Vaters war, das ihn am meisten an mir interessiert hat. Benno hat mir wohl nie verziehen, dass ich ihn sofort abserviert habe."
„Trotzdem hat er gleich wieder versucht mit dir anzubandeln, als er hier vor sieben Monaten die Buchhaltung übernommen hat. Wahrscheinlich wollte er sogar Verwaltungsdirektor werden. Ihm hat es bestimmt nicht gepasst, dass ihm der Aufsichtsrat den Herzog vor die Nase gesetzt hat, als Bollmann in Pension ging."
„Soviel ich weiß, hat man sich für den besten Bewerber entschieden. Das muss auch Benno akzeptieren."
„Das fällt ihm sicher schwer. Er ärgert sich doch schon darüber, dass so viele Schwestern für den Herzog schwärmen."
„Sieht er so toll aus?"
„Na ja ...“, überlegte Sabine, „...er ist keiner dieser nichtssagenden Schönlinge, hat aber das gewisse Etwas - außerdem eine starke Ausstrahlung – und einen sexy Hintern."
„Sabine!", tadelte Constance sie lächelnd. „Wo schaust du nur immer hin?"
„Das ist rein anatomisches Interesse", meinte sie augenzwinkernd. „Man muss doch wissen, mit wem man es zu tun hat."
Mit langen Schritten durchquerte Verwaltungsdirektor Adrian Herzog die Klinikhalle.
Er war gerade im Begriff, die Chirurgische Ambulanz zu betreten, als er die junge Frau bemerkte, die eben den Lift verließ.
Sie war in einen beigefarbenen Hosenanzug gekleidet und trug eine große schwarze Arzttasche in der rechten Hand. Ihr blondes Haar glänzte im hellen Licht; die langen Ohrringe wippten bei jedem ihrer Schritte mit.Lächelnd nickte sie einigen Angehörigen des Pflegepersonals zu, während sie dem Ausgang zustrebte.
– Das war doch die hübsche Angestellte aus dem Therapie-Zentrum, dachte der Verwaltungschef erfreut darüber, sie so bald wiederzusehen.
Schon wollte er ihr nachlaufen, aber es stellte sich ihm ein hochgewachsener, in einen weißen Kittel gekleideter Mann in den Weg.
„Gut, dass ich Sie treffe, Herr Herzog", sprach er den Verwaltungschef an. „Ich muss Sie dringend sprechen."
„Später, Herr Professor. Ich wollte gerade ..."
„Später habe ich keine Zeit!", unterbrach Professor Kronenburg den Jüngeren bestimmt und führte ihn am Arm zum Lift. „Kommen Sie; es dauert nicht lange."
Widerstrebend fügte sich Adrian Herzog dem Drängen des Chefarztes. Er wollte den Professor nicht schon wieder verärgern, nachdem die meisten Beschwerden über die personellen Veränderungen beim medizinischen Leiter der Klinik landeten. Dem fiel dann die undankbare Aufgabe zu, die Gemüter zu beruhigen.
Während der Verwaltungsdirektor sich nun einige Vorhaltungen des Professors anhörte, kehrte Constance Meves ins Therapie-Zentrum zurück. Dort wandte sie sich zuerst an die Mitarbeiterin hinter der Anmeldung.
„Irgendwelche Anrufe für mich, Martina?"
„Ich habe alles notiert und zusammen mit der Post auf deinen Schreibtisch gelegt, Conny."
„Danke. - War sonst etwas Wichtiges?"
„Herr Claasen hat nach dir gefragt. Er ist jetzt bei Harry zur Massage."
„Dann werde ich ihn kurz begrüßen", beschloss Constance, ehe
sie sich nach der griechischen Auszubildenden erkundigte. „Wo ist denn unser Küken heute?"
„Elena ist bei Barbara im Gymnastikraum. - Ist das in Ordnung?"
„Ja, aber heute Nachmittag möchte ich sie in meiner Sprechstunde haben.“
Über die Treppe gelangte die Ärztin zu dem in der ersten Etage liegenden Behandlungsraum von Harry Lohmann. Der Masseur war ein Vetter dritten Grades von ihr und seit Kindertagen total vernarrt in sie. Sie hielt ihn für ein wenig verschroben, aber sie wusste ihn zu nehmen, so dass sie recht gut miteinander auskamen.
Nach kurzem Anklopfen trat Constance ein.
„Oh, die Chefin persönlich", sagte Herr Claasen, der schon wieder fertig angezogen aus der Umkleidekabine kam. „Schön, Sie zu sehen, meine liebe Constance."
Lächelnd reichte sie dem älteren Herren die Hand.
„Ich freue mich auch, Claas."
„Darf ich hoffen, dass Sie mich demnächst wieder mal ins Konzert begleiten?"
„Mit dem größten Vergnügen. Sagen Sie mir nur rechtzeitig Bescheid, damit ich disponieren kann."
„Sowie ich etwas Geeignetes für unsere verwöhnten Ohren ausgekundschaftet habe, melde ich mich", versprach er, bevor er sich verabschiedete.
Kopfschüttelnd schloss Harry Lohmann die Tür hinter ihm und lehnte sich dagegen. Er war ganz in Weiß gekleidet, nicht größer als seine Cousine und hatte eine sportlich durchtrainierte Figur.
„Was findest du bloß an diesem alten Zausel?", fragte er missbilligend. Er war eifersüchtig auf jeden Mann, dem seine Cousine Aufmerksamkeit schenkte. „Wieso verschwendest du deine Zeit mit dieser Mumie?"
„Sprich nicht so respektlos von Herrn Claasen", tadelte Constance ihn. „Ältere Menschen sind wie Museen: Nicht auf die Fassade kommt es an, sondern auf die Schätze im Inneren."
„In meinen Augen ist das ein aufdringlicher alter Bock. Wenn er noch könnte, wie er gern möchte, dann ..."
„Hör doch auf mit dem Unsinn", unterbrach sie ihn unwillig. „Herr Claasen ist ein Gentleman alter Schule. Ich mag ihn sehr gern. Er ist nicht nur sympathisch, sondern auch ein kluger Gesprächspartner."
„Außerdem hat er eine Schwäche für dich", fügte der Masseur spöttisch hinzu. „Aber so ergeht es schließlich vielen Männern. Ob jung, ob alt - alle sind in dich verknallt."
„Nur kein Neid. Erzähl mir lieber, wie dir das neue Wartezimmer gefällt."
„Es ist großartig geworden, Conny." Schuldbewusst fuhr er sich mit allen zehn Fingern durch sein kurzes, rotblondes Haar. „Es tut mir leid, dass ich gestern mit meinen Skatbrüdern auf Ostseetour war, anstatt dir zu helfen."
„Ich hatte doch jemanden von der Jobvermittlung angefordert."
Der aufmerksame Blick, der auf ihr ruhte, wurde lauernd.
„Was war das für ein Typ?"
„Irgendein Arbeitsloser", wich sie achselzuckend aus. „Mit seiner Hilfe war alles rechtzeitig fertig, als die Jungs mit der Einrichtung kamen."
Nachdem der letzte Patient das Sprechzimmer verlassen hatte, betrat die Sportlehrerin Barbara Möller mit einer Vase in den Händen den Raum.
Erstaunt erhob sich Constance.
„Habe ich etwa meinen Geburtstag vergessen?"
„Das sähe dir ähnlich“, meinte Barbara trocken und stellte den Strauß auf den Schreibtisch. „Dein neuester Verehrer hat die Rosen vor knapp einer Stunde gebracht."
Skeptisch hob Constance die Brauen.
„Hat er auch einen Namen?"
„Den hat er mir leider nicht verraten, Conny. Er war auf der Suche nach einer Frau, die sehr hübsch ist, und die gestern das Wartezimmer renoviert hat."
„Aha“, erwiderte Constance nur, die plötzlich ahnte, wer die Blumen gebracht hatte. Vorsichtig griff sie nach dem Umschlag, der zwischen den Blüten steckte, und entnahm die Karte:
Für die sinnlichste Frau, die ich jemals mit einem Pinsel in der Hand gesehen habe.
Wir sollten die knisternde Spannung zwischen uns so bald wie möglich beleben.
In freudiger Erwartung - Karate Kid
„Nun sag schon", drängte Barbara die Freundin, als Constance die Karte kommentarlos in ihrer Kitteltasche verschwinden ließ. „Wer ist dein Rosenkavalier?"
„Einer, der sich für unwiderstehlich hält."
„Er ist unwiderstehlich!", korrigierte Barbara sie mit verzücktem Augenaufschlag.
„Ich überlasse ihn dir gern", bot Constance ihr an. „Allerdings musst du dann damit rechnen, dass er dich gleich am ersten Abend flachlegt."
„Bist du etwa schon bei ihm schwachgeworden?"
„Natürlich nicht. – Aber es war nicht ganz einfach, ihm zu widerstehen."
„Das kann ich mir gut vorstellen. Wer ist er denn nun?"
„Diese Frage kann ich dir leider nicht beantworten, Babs", entgegnete Constance zur Überraschung der Sportlehrerin. „Ich weiß nur, dass er einen schwarzen Porsche fährt, selten handwerklich arbeitet und nicht beabsichtigt, sich von einer Frau einfangen zu lassen."
Ungläubig schaute Barbara sie an.
„Weißt du wirklich nicht, wie er heißt?"
„Er nannte sich: Karate Kid. Diesen Namen hat er sich aber nur ausgedacht, um Buddy zu imponieren."
„Aber wenn du ihn kaum kennst, was will er dann von dir? Dem liegen die Frauen doch bestimmt reihenweise zu Füßen."
„Jedenfalls werde ich mich nicht dazu legen", betonte Constance und schlüpfte aus ihrem kurzen weißen Arztmantel. „Jetzt gehe ich erst mal rüber in meine Wohnung. Ich möchte die Mittagszeit nutzen, um noch an meinem Vortrag zu arbeiten."
„Wird dir das alles eigentlich nie zu viel? Das Zentrum, die Patienten in der Klinik, deine Arbeit für die Schlaganfall-Stiftung, dein Training für das Rennen, Familie und ..."
„Hör auf!", unterbrach Constance sie lachend. „Das klingt ja furchtbar!"
„Das ist dein Leben", erinnerte Barbara sie mit komischer Miene. „Zu Risiken und Nebenwirkungen schlagen Sie Ihren Arzt oder Apotheker."
„Wann sollte ich das tun? Nach allem, was du aufgezählt hast, müsste mein Tag mindestens 36 Stunden haben. Da mir aber nur 24 zur Verfügung stehen, ist meine Zeit einfach nur gut organisiert." Augenzwinkernd griff sie nach ihrer Umhängetasche. „Stell dir vor, Babs, ich bekomme sogar regelmäßig Schlaf."
„Fragt sich nur, wie viel, du Arbeitstier."
„Genug", erwiderte Constance, während sie das Sprechzimmer verließen. „Behalt das aber bitte für dich. Sonst kommt am Ende noch jemand auf den Gedanken, dass ich nicht ausgelastet bin."
In ihrer Wohnung warf Constance zunächst einen Blick in die Zeitung. Dabei stieß sie auch auf einen Artikel über den neuen Verwaltungschef der Klinik am Stadtpark. Der Mann, der auf dem Foto neben Professor Kronenburg abgebildet war, ähnelte auf verblüffende Weise dem Porschefahrer, der ihr bei der Renovierung geholfen hatte.
„Wer hätte das gedacht ...“, murmelte Constance. „Karate Kid ist also mit Adrian Herzog identisch.“
Am Nachmittag besuchte Elsbeth Lohmann das Therapie-Zentrum.
Wie gewöhnlich war die Mutter des Masseurs für ihr Alter zu jugendlich gekleidet. Ihr farbenfrohes Outfit hätte besser zu einer Zwanzigjährigen als zu einer reifen Frau jenseits der Sechzig gepasst. Das traf auch auf ihr zu stark geschminktes Gesicht zu. Allerdings wagte niemand, ihr das zu sagen. Frau Lohmann war für ihre spitze Zunge bekannt, so dass man es tunlichst vermied, sich mit ihr anzulegen.
„Tag, Fräulein Martina", sagte sie und rauschte an der Anmeldung vorbei. „Ist meine Nichte da?"
Rasch lief Martina ihr nach, als Elsbeth, ohne eine Antwort abzuwarten, geradewegs auf das Sprechzimmer der Ärztin zueilte.
„Warten Sie, Frau Lohmann." Energisch vertrat sie ihr den Weg. „Sie können da jetzt nicht rein."
Sekundenlang schaute Elsbeth sie mit einer Mischung aus Verblüffung und Verärgerung an. Dieses junge Ding wagte es, sich ihr in den Weg zu stellen! Empört funkelte sie die Sprechstundenhilfe an.
„Lassen Sie mich gefälligst durch! Sie haben wohl vergessen, wer ich bin?"
„Ich habe Anweisung, niemand unaufgefordert reinzulassen, wenn die Frau Doktor einen Patienten hat."
„Das gilt aber nicht für mich!“
„Tut mir leid, aber es gibt keine Ausnahme. Die Patienten haben ein Recht auf eine ungestörte Konsultation. Sie können gern im Wartezimmer Platz nehmen, bis Frau Dr. Meves frei ist.“
„Diese Sache wird ein Nachspiel haben!“, schimpfte Elsbeth aufgebracht. „Über Ihren ungehörigen Ton werde ich mich bei meiner Nichte beschweren!“ Aus schmalen Augen musterte sie die Sprechstundenhilfe. „Dann gehe ich jetzt zu meinem Sohn! Oder wollen Sie mich daran auch hindern?“
„Nein“, erwiderte Martina. „Ihr Sohn hat im Moment keinen Patienten.“
Erhobenen Hauptes wandte sich Elsbeth um und eilte auf die Treppe zu. Ohne anzuklopfen, betrat sie das Behandlungszimmer ihres Sohnes.
„Mutter ...“, begrüßte Harry sie überrascht. „Was tust du denn hier?“
„Ich wollte mal nach dem Rechten sehen“, erwiderte sie und hielt ihm die Wange zum Kuss hin. Vorwurfsvoll blickte sie ihren Sohn dann an. „Du verdrückst dich ja immer, anstatt mir Bericht zu erstatten.“
„Jetzt fang doch nicht gleich wieder davon an. Gut Ding braucht Weile.“
„Unternimm endlich was, um ans Ziel deiner Wünsche zu kommen", sagte Elsbeth ungehalten. „Wie lange soll ich denn noch warten? Von der kleinen Rente, die ich seit dem Tod deines Vaters beziehe, kann ich kaum leben. Verstehst du denn nicht, dass ich auch noch ein paar angenehme Jahre haben möchte?" Unruhig ging sie vor dem Fenster auf und ab. „Ich will noch was von der Welt sehen, Harry. Das ist aber nur möglich, wenn du Constance heiratest. Sie erbt einmal ein großes Vermögen und ..."
„Geld interessiert mich nicht", unterbrach er sie. „Meinetwegen kann Onkel Anton ewig leben. Ich liebe Conny! Nur deshalb will ich sie für mich haben!"
„Warum tust du dann nichts, um bei ihr voranzukommen?", erregte sich seine Mutter. „Du bist ein stattlicher Mann von vierzig Jahren! Obwohl ich manchmal das Gefühl habe, dass deine Muskeln besser als dein Verstand arbeiten, dürfte es doch nicht allzu schwer sein, Constance davon zu überzeugen, dass du der Richtige für sie bist!"
„Meine Güte, du weißt doch selbst, dass sie gar nicht daran denkt, sich noch mal zu binden, Mutter!", erregte nun auch er sich. „Glaubst du, unter diesen Umständen ist es so einfach, sie mal eben zu überreden, mich zu heiraten?" Resigniert strich er übers Haar. „Conny nimmt mich doch gar nicht ernst."
„Dann bemühst du dich eben nicht intensiv genug. Du musst ihr Geschenke bringen: Rosen, Parfum, Konfekt ... Führe sie zum Essen oder zum Tanzen aus, mach dich unentbehrlich. Schließlich braucht auch eine unabhängige Frau, wie Constance es ist, hin und wieder einen potenten Mann. Oder denkst du, dass ausgerechnet sie völlig enthaltsam lebt?"
„Leider tut sie das nicht", sagte Harry mit einem Seufzer. „Manchmal leistet sie sich einen Geliebten."
„Woher weißt du das so genau? Sie wird dir das kaum erzählt haben."
„Trotzdem bin ich ganz sicher", erwiderte ihr Sohn. Allerdings sah er in jedem Mann, mit dem Constance Kontakt hatte, einen potentiellen Liebhaber. „Das ist aber nie von Dauer.“
Nachdenklich musterte Elsbeth ihren Sohn.
„Macht es dir gar nichts aus, dass sie es mit anderen Männern treibt?“
„Das ist mir lieber, als wenn sie eine feste Beziehung hätte. Dann würde sie nämlich etwas für den Mann empfinden. Dagegen bedeuten ihr diese Affären nichts. Ich könnte es einfach nicht ertragen, wenn es einen Mann in ihrem Leben geben würde, den sie liebt. Um den loszuwerden, würde ich wahrscheinlich alles tun."
„Das wird nicht nötig sein", behauptete seine Mutter. „Wenn es dir nicht innerhalb der nächsten Woche gelingt, Constance für dich zu gewinnen, nehme ich die Sache in die Hand. Ich habe schon einen Plan, wie sich deine und meine Wünsche erfüllen werden."
Prompt schoben sich seine buschigen Augenbrauen zusammen.
„Was hast du vor?"
„Das erfährst du noch früh genug, Harry." Triumphierend blitzte es in ihren Augen auf. „Ein Ass habe ich noch im Ärmel. Wenn wir es geschickt ausspielen, wird es uns mit Sicherheit ans Ziel bringen." Aufmunternd klopfte sie ihrem Sohn auf die Schulter. „Keine Sorge, mein Junge, Ich habe die Sache fest im Griff. – Jetzt gehe ich erst mal zu deiner Cousine."
Durch die telefonische Ankündigung ihrer Sprechstundenhilfe wusste Constance bereits, dass Elsbeth Lohmann im Anmarsch war.
Deshalb zeigte sie sich wenig überrascht, als ihre Tante eintrat.
„Guten Tag, Tante Betty", begrüßte sie die Ältere freundlich, obwohl ihr Verhältnis zueinander nicht besonders herzlich war. Es ärgerte sie, dass Elsbeth sich ständig in Dinge einmischte, die sie absolut nichts angingen. „Was führt dich her?"
„Zufällig hatte ich in der Gegend zu tun", entgegnete Elsbeth lächelnd. „Und da ich dich viel zu selten zu Gesicht bekomme, musste ich einfach reinschauen." Prüfend blickte sie ihre Nichte an. „Wie geht es dir, Constance?"
„Danke, ich kann nicht klagen", erwiderte sie. Einladend deutete sie auf einen der bequemen Stühle vor dem Schreibtisch. „Möchtest du dich nicht setzen? Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee?"
„Bemüh dich nicht", lehnte Elsbeth mit einem Kopfschütteln ab und nahm Platz. „Ich möchte dich nicht lange aufhalten, mein Kind. Du hast doch immer so viel zu tun. Harry erzählte mir, dass das Zentrum ein großer Erfolg ist. Es zu eröffnen, war goldrichtig. Leider kommt dein Privatleben dabei ein wenig zu kurz."
Innerlich amüsiert blickte Constance ihre Tante an. Insgeheim schätzte sie vor jedem ihrer Besuche ab, wie lange Elsbeth wohl brauchen würde, ihr Lieblingsthema zur Sprache zu bringen. So schnell wie heute kam sie allerdings selten auf den Punkt.
„Allmählich solltest du wirklich daran denken, wieder zu heiraten", fuhr Elsbeth unbeirrt fort. „Es ist nicht gut für eine junge Frau, allein zu leben."
„Warum nicht?"
„Weil ... weil ..." Einen Moment lang brachte diese simple Frage Elsbeth aus der Fassung. Aber sie fing sich rasch wieder. „Weil jeder Mensch einen verlässlichen Partner an seiner Seite braucht", sagte sie schließlich. „Du bist da keine Ausnahme. Bestimmt gibt es genug Männer, die sich für dich interessieren. Ist denn keiner darunter, der dir gefällt?"
„Keine Ahnung. Bislang habe ich noch nicht darauf geachtet."
„Das solltest du aber tun." Der Vorwurf in Elsbeths Stimme war nicht zu überhören. „Immerhin bist du inzwischen sechsunddreißig. Es gibt nicht beliebig viele Männer, die im Alter zu dir passen würden, und die noch frei sind. Du musst außerdem an deine Tochter denken. Nathalie braucht einen Vater."
„Bis jetzt ist sie ganz gut ohne ausgekommen", behauptete sie, obwohl dieser Gedanke sie auch ab und zu beschlich. „Immerhin wächst Nathalie nicht ohne männliche Bezugspersonen auf. Sie hat ihren Großvater, Freunde von mir, mit denen sie sich gut versteht, und nicht zuletzt Harry."
„Harry liebt die Kleine wie ein eigenes Kind", bemerkte Elsbeth mit einem wohl dosierten Seufzer. „Bestimmt wäre er für Nathalie ein wundervoller Vater." Sekundenlang glitten ihre Augen forschend über das Gesicht ihrer Nichte. „Hast du eigentlich nie bemerkt, was Harry für dich und deine Tochter empfindet? Was glaubst du, aus welchem Grund er hier im Zentrum arbeitet? Das tut er nur, um dir näher zu sein. – Weil er dich liebt.“
„Das ist doch nicht wahr!", sagte Constance ungläubig. „Harry sieht allenfalls so was wie eine kleine Schwester in mir. Du reimst dir da was zusammen, Tante Betty."
„Und wenn ich recht hätte? Wie würdest du dich dann verhalten?“
„Ich habe Harry nie Anlass zu irgendwelchen Hoffnungen gegeben. Wir kennen uns von klein auf und sind außerdem miteinander verwandt. Uns verbinden nur freundschaftliche Gefühle.“
„Das könnte sich ändern. Falls ihr heiraten würdet, dann ..."
„Was soll denn das, Tante Betty!?", unterbrach Constance sie unwillig und sprang auf. „Ich werde weder Harry noch sonst jemanden heiraten. Aus der Katastrophe, die hinter mir liegt, habe ich gelernt, dass ich allein besser zurechtkomme. Außerdem habe ich seitdem keinen Mann kennengelernt, für den ich meine Freiheit aufgeben würde. Und damit lass uns das Thema bitte beenden.“
„Eines Tages, wenn du mein Alter erreicht hast, wirst du feststellen, was Einsamkeit bedeutet", prophezeite Elsbeth. „Dann wirst du es bitter bereuen, so viel Wert auf deine Freiheit gelegt zu haben."
„Möglich", räumte Constance ein. „Vielleicht denke ich in ein paar Jahren anders darüber. Jetzt bin ich aber zufrieden mit meinem Leben, wie es ist."
„Wie du meinst“, murmelte Elsbeth nur und erhob sich. „Es wird Zeit für mich, mein Kind. Bevor ich gehe, muss ich dir allerdings noch raten, dich nach einer anderen Sprechstundenhilfe umzusehen. Wenn diese Martina deine Patienten genauso unfreundlich und patzig wie mich behandelt, sehe ich schwarz für die Zukunft des Zentrums. Trenn dich besser von dieser unmöglichen Person."
„Wenn ich das täte, müsste ich das Zentrum wahrscheinlich wirklich bald schließen. Martina ist nicht zu ersetzen. - Und die Patienten mögen sie."
„Du musst wissen, was du tust", grummelte Elsbeth und wandte sich zur Tür. „Lass bald mal von dir hören, Constance."
„Ich werde daran denken. - Ciao, Tante Betty."
Als sie allein war, ließ sich Constance leise seufzend in ihren Schreibtischsessel sinken. Die Besuche ihrer Tante erwiesen sich meist als recht anstrengend, zumal Elsbeth dazu neigte, ihre Mitmenschen zu bevormunden oder ihnen Ratschläge zu erteilen, die mitunter völlig absurd klangen. Leise lächelnd erinnerte sie sich daran, dass ihr Vater Elsbeth Lohmann manchmal als Plage bezeichnete.