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Kapitel 5
Оглавление10. Oktober 2012 in einer Holzhütte
Durch den Wechsel von Tageslicht und Dunkelheit wusste Constance, dass sie sich schon seit fünf Tagen in Gefangenschaft befand. Mit einem winzigen Stein, den sie unter der Pritsche entdeckt hatte, ritzte sie jeden Morgen einen Strich in die Wand über ihrem Lager.
In manchen Momenten fragte sie sich allerdings, warum sie das tat. Würde sie diese Hütte überhaupt lebend verlassen? Bisher hatte sich kein Entführer sehen lassen.
Auch die wenigen Nahrungsmittel, die sie vorgefunden hatte, gingen zur Neige, obwohl sie nur aß, wenn der Hunger übermächtig wurde. Außerdem fror sie permanent. Die herbstlichen Temperaturen kühlten die Hütte immer mehr aus. Nachts kroch außer der Angst auch die Kälte mit unter die dünne Wolldecke. Trotzdem verlor Constance ihren Lebenswillen nicht. Obwohl sie nur wenig Bewegungsfreiheit hatte, zwang sie sich immer wieder, vor der Pritsche auf und ab zu laufen. Es war auch die einzige Beschäftigung, um die quälend langsam vergehende Zeit totzuschlagen. Da sie weder etwas Warmes zu essen oder zu trinken bekam, spürte sie die Kälte umso mehr. Deprimiert fragte sie sich, wie lange sie noch durchhalten konnte. Sie besaß noch drei Kekse, einen Zwieback und ein Päckchen Kaugummi. Die Mineralwasserflaschen waren bis auf einen kleinen Rest leer.
Wie oft in den letzten Tagen zerrte sie verzweifelt an der Kette, aber die stabile Wandverankerung gab nicht nach. In ihrer Reichweite befand sich auch nichts, was sie als Werkzeug benutzen könnte. Sie bemerkte aber, dass die Handschelle, mit der sie an die Kette gefesselt war, etwas lockerer als zu Beginn ihrer Gefangenschaft um ihr Handgelenk lag. Wenn sie durch diese unfreiwillige Diät bis zum Skelett abgemagert wäre, käme sie wahrscheinlich frei, dachte sie sarkastisch. Nur würde es ihr dann nichts mehr nützen.
Ihr Blick wanderte durch den kargen Raum und blieb beinah sehnsüchtig an den schmutzigen Gummistiefeln hängen, die neben der Tür standen. Sie brauchte dringend etwas, um ihre kalten Füße zu wärmen, aber es war unmöglich, an diese alten Stiefel heranzukommen, und es gab auch nichts in ihrem Umkreis, mit dem sie danach angeln konnte.
Warum zeigten sich ihre sich Kidnapper nicht? Als Krimileserin wusste sie, dass bei Entführungsfällen das Lösegeld so schnell wie möglich gezahlt wurde. Jede Verzögerung bedeutete eine Gefahr, entdeckt zu werden – sowohl für das Opfer als auch für die Täter. Vielleicht hatte die Lösegeldübergabe nicht geklappt? Hatte ihr Vater womöglich die Polizei eingeschaltet – und die Täter hatten das bemerkt? Rührten sie sich etwa deshalb nicht?
Anderseits war Constance sicher, dass ihr Vater nichts tun würde, was ihr Leben gefährden könnte. Kidnapper drohten immer, die Geisel zu töten, falls die Polizei informiert würde. Ihr Vater würde sich nicht darüber hinwegsetzen. Er würde nichts riskieren, das ihr schaden könnte. Aber er würde ein Lebenszeichen verlangen. Schon deshalb müssten die Entführer doch in der Hütte auftauchen. Warum kamen sie dann nicht? Irgendetwas musste schiefgegangen sein! Eine andere Erklärung fiel ihr nicht ein. Sie würde hier elend zugrunde gehen. Ohne Wasser und Nahrung war es nur eine Frage der Zeit, wann es mit ihr zu Ende ginge.
„Ich will nicht sterben!“, rief sie gequält und riss so lange an der Eisenkette, bis sie entkräftet zurück auf die Pritsche sank.
Was nützte ihr noch das Wissen, dass sie sich irgendwo in einem Wald befand? Das ständige Rauschen der Bäume, das Vogelgezwitscher und die Eulenschreie in der Nacht hatten ihr verraten, in welcher Umgebung man sie gefangen hielt. Wahrscheinlich stand diese Hütte so einsam, dass man sie nicht zufällig finden würde. Constance wurde plötzlich bewusst, wie hoffnungslos ihre Lage wirklich war. Sie musste sich damit abfinden, bald zu sterben – einsam und allein.
Fröstelnd kauerte sie sich zusammen, zog die Wolldecke um ihren Körper und schloss die Augen auf der Suche nach wärmenden Erinnerungen an glückliche Tage.