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Kapitel 11
ОглавлениеSeptember 2012
Völlig ahnungslos darüber, um welche Art von Sportveranstaltung es sich handelte, traf Adrian Herzog am Samstagnachmittag an der Rennstrecke ein. Hier herrschte eine Atmosphäre, die von Spannung und Erwartung geprägt schien. Die Luft war erfüllt von einer Mischung aus Bratwurstduft und dem Geruch von Benzin und Motorenöl. Blechern klingende Musik tönte aus großen Lautsprechern. Die vielen Besucher drängten sich zwischen fähnchengeschmückten Imbissständen und der Tribüne.
Ratlos blickte sich Adrian um, als er in der Nähe die herausragende Gestalt von Professor Kronenburg entdeckte. Sogleich bahnte er sich einen Weg zu ihm.
„Wie ich sehe, haben Sie sich tatsächlich entschlossen, hierher zu kommen“, begrüßte der Professor den Jüngeren, ehe er seiner Begleiterin unmerklich zuzwinkerte. „Camilla, das ist Herr Herzog, unser neuer Verwaltungsdirektor."
„Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Herzog", sagte die blonde Professorengattin und reichte ihm die Hand. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört."
Mit festem Griff umschloss er ihre Rechte.
„Hoffentlich nicht nur Unangenehmes!?"
„Es hält sich etwa die Waage", entgegnete sie schelmisch. „Aber das sind Sie in Ihrem Beruf bestimmt gewöhnt. Man kann es schließlich nicht allen recht machen."
„Wem sagen Sie das ... Allerdings hoffe ich, dass es mir mit der Zeit gelingt, alle Mitarbeiter der Klinik von der Notwendigkeit einiger personeller Veränderungen zu überzeugen. Unser Ziel ist es schließlich, alle Arbeitsplätze zu erhalten und trotzdem effizienter zu arbeiten.”
„Da wir gerade beim Thema sind, Herr Herzog", sagte Professor Kronenburg, „... wir müssen dringend darüber sprechen ..."
„Aber doch nicht jetzt, Julius", unterbrach ihn seine Frau sanft. „Du hast versprochen, heute mal nicht an die Klinik zu denken."
„Verzeih, Liebes."
Zärtlich drückte der hochgewachsene Mediziner seine schlanke Frau an sich. Adrian bemerkte den innigen Blick, den die beiden tauschten. Seltsam berührt dadurch, wünschte er sich ein ebensolches Glück. Er wusste, hinter einem erfolgreichen Mann stand meistens eine kluge und starke Frau. Über die Professorengattin hatte er außerdem gehört, sie sei seit dreißig Jahren der ruhende Pol im Leben ihres Mannes - eine verständnisvolle Frau, die sich stets im Hintergrund hielt, es aber trotzdem verstand, ihn liebevoll zu bremsen, wenn er sich einmal zu viel zumutete. In der Klinik sprach man voller Respekt und Verehrung von dieser warmherzigen Frau.
„Wir sollten uns allmählich einen guten Platz suchen", schlug der Professor vor. „Wir wollen doch nichts verpassen."
„Offen gestanden, weiß ich immer noch nicht, was hier heute geboten wird.“
„Hast du den jungen Mann etwa im Unklaren darüber gelassen, Julius?", tadelte Camilla ihn gutmütig, während sie sich bei ihm einhängte. Sie ignorierte sein listiges Schmunzeln und hakte Adrian auf der anderen Seite unter. „Hier finden heute unter anderem die Amateurmeisterschaften statt", erklärte sie. „Unser Patenkind ist auch dabei."
„Deswegen ist er doch hier", flüsterte Professor Kronenburg seiner Frau zu. In diesem Moment entdeckte er einige vertraute Gesichter vorn auf der Tribüne. „Dort drüben sehe ich Hetty und Anton. Nathalie ist auch mitgekommen."
„... und Elsbeth mit ihrem Riesenbaby", fügte Camilla theatralisch hinzu. „Dann können Sie gleich die ganze Sippe kennenlernen. Machen Sie sich auf einiges gefasst."
Herzlich begrüßte das Professorenehepaar Hetty, Nathalie und Anton. Da die Lohmanns am Ende der Bankreihe saßen, genügte ein freundliches Kopfnicken.
Anton Ellerbrook stellte den Verwaltungschef seiner Mutter vor
„... und das ist mein Sonnenschein Nathalie", sagte er und legte den Arm um die Schultern des Mädchens. „Sie besucht seit einiger Zeit ein Internat in der Schweiz, aber das große Ereignis heute muss sie natürlich miterleben."
„Guten Tag, Nathalie", begrüßte Adrian das Mädchen. Es war sehr hübsch und musterte ihn neugierig aus großen Augen, die ihm merkwürdig vertraut erschienen.
„Hallo, Herr Herzog", sagte sie nur und setzte sich wieder. Adrian nahm rechts neben ihr Platz; Camilla und der Professor setzten sich links von ihm.
„Nathalie sieht ihrer Mutter sehr ähnlich, nicht wahr!?", sagte Camilla zu Adrian, während sie dem geschäftigen Treiben auf der Rennstrecke zuschauten.
„Wenn Sie es sagen", erwiderte Adrian etwas unsicher. Anscheinend glaubte sie, er müsse die Mutter des Mädchens kennen. „Leider weiß ich im Augenblick nicht so recht, um wen es sich dabei handelt." Ein entschuldigendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Seit ich in Hannover bin, habe ich so viele Menschen kennengelernt."
„Sind Sie nicht ihretwegen hergekommen?“
„Ich bin hier, weil Ihr Gatte mir erzählt hat, Cons... ... Frau Dr. Meves würde hier wegen eines Wettbewerbs sein.“ Mit der Hand deutete er auf die Piste. „Allerdings sehe ich dort unten nur Männer und schwere Maschinen. Demnach findet also ein Motorradrennen statt. Sie sagten vorhin, dass es sich um Meisterschaften der Amateure handelt, Frau Kronenburg. Dann betreut Frau Dr. Meves die Teilnehmer wohl medizinisch?"
„Das wäre tatsächlich naheliegend", entgegnete Camilla nur.
Kurz darauf entdeckte Adrian unter den Männern, die sich nun von der Rennstrecke zurückzogen, einen schwarzhaarigen Hünen mit Vollbart. Das war doch der Kleiderschrank, der mit seinen Freunden bei Constance im Zentrum war, erinnerte er sich. Obwohl er sie jetzt auch in der Nähe vermutete, konnte er sie nirgends sehen.
Nun erklang eine Stimme über die Lautsprecher und begrüßte die Zuschauer.
„Es nehmen 16 Fahrer an den Meisterschaften teil", erklärte Professor Kronenburg dem Verwaltungschef dabei, so dass dieser von der Lautsprecherdurchsage abgelenkt war. „Aus jedem Bundesland startet der Landesmeister der Amateure. Dem Sieger winkt außer dem Titel eine Prämie in Höhe von 10.000 Euro, der Zweitplatzierte erhält die Hälfte und wer als dritter durchs Ziel geht, immerhin noch 2500 Euro.“
„Dafür riskieren die jungen Leute ihren Hals!?", stellte Adrian verständnislos fest. Seine Augen erfassten die zwei Ambulanzwagen am Rande der Strecke. „Wie kann man nur so verrückt sein? Man hört doch oft genug von schweren Unfällen im Motorsport."
„Die Teilnehmer sind sehr sichere Fahrer, die kein unnötiges Risiko eingehen", meinte Professor Kronenburg, während er seine Videokamera überprüfte. Da vernahmen sie auch schon das Aufheulen der Motoren. „Jetzt geht es gleich los!"
Aller Augen richteten sich auf den Mann, der mit erhobener Fahne am Rande des Ovals der Strecke stand. Mit dem Sinken seines Armes begann das Rennen. In einer Wolke von Auspuffgasen schossen die schweren Maschinen davon.
„An der Spitze liegt der Ludwigshafener Helmut Kolani", informierte der Sprecher die Zuschauer nach einer Weile über die Lautsprecher. „Dicht hinter ihm der Hamburger Gerd Schreier gefolgt von der Nummer 5, der amtierenden niedersächsischen Landesmeisterin."
Entsetzt blickte Adrian die rechts neben ihm sitzende Professorengattin an.
„Da fährt eine Frau mit? Das ist unglaublich!"
„Es sind sogar drei Fahrerinnen am Start", korrigierte Camilla ihn, ohne die Rennstrecke aus den Augen zu lassen.
„Ist das überhaupt erlaubt?"
„Wir dürfen sogar bei den Weltmeisterschaften starten", gab sie mit leisem Spott zurück. „Diese Veranstaltung haben Motorradclubs aus ganz Deutschland auf die Beine gestellt. Nach den Regeln darf jedes Mitglied über fünfundzwanzig daran teilnehmen. Der Sieger startet dann bei den Europameisterschaften. Warum sollte man Frauen davon ausschließen? Laut Statistik sind wir sowieso die besseren Fahrer."
„Vielleicht im normalen Straßenverkehr", stimmte Adrian widerstrebend zu. „Das hier ist aber etwas völlig anderes und viel gefährlicher."
„Anscheinend trauen Sie meinem Mädchen nicht allzu viel zu", sagte Anton zu seiner Linken über Nathalies Kopf hinweg. „Constance beherrscht ihr Motorrad ebenso gut wie ein Mann. Sie ist in jedem Sattel zu Hause."
Diese Worte versetzten Adrian einen regelrechten Schock. Mit ungläubig geweiteten Augen starrte er auf die Rennstrecke. Auf einer dieser röhrenden Maschinen sollte demnach tatsächlich Constance Meves sitzen? Seine Constance? Unwillkürlich bildeten sich winzige Schweißperlen auf seiner Stirn. Wenn ihr nun etwas zustoßen würde? Er hatte sie doch gerade erst gefunden.
„Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Herr Herzog", hörte er Nathalie neben sich sagen. „Meine Mutter kann wirklich spitzenmäßig mit ihrem Motorrad umgehen.“
„Deine Mutter?", wiederholte Adrian verblüfft.
„Du bist die Tochter von Frau Dr. Meves?"
„Logisch", bestätigte das Mädchen. „Sie kennen Ma wohl noch nicht lange!?"
„Nein – aber du kannst mich gern Adrian nennen."
„Okay", stimmte sie zu und richtete ihren Blick wieder auf die vorbeirasenden Maschinen. Mittlerweile hatten sich zwei der Fahrer deutlich von den übrigen abgesetzt.
Unterdessen versank Adrian in dumpfes Nachdenken. Plötzlich erschien ihm seine Lage ziemlich aussichtslos. Es war nicht die Tatsache, dass Constance ein Kind hatte, die ihn belastete. Er vermutete, Anton Ellerbrook sei der Vater ihrer Tochter. Immerhin hatte er das Mädchen vorhin als seinen Sonnenschein bezeichnet. Weshalb aber waren er und Constance dann nicht längst verheiratet?
„Habt ihr gehört!?" Begeistert klatschte Nathalie nach der Lautsprecherdurchsage in die Hände. „Ma liegt jetzt an erster Stelle!"
„Der Fahrer mit der Nummer 9 ist aber dicht hinter ihr", wandte Anton ein, der das Rennen durch sein Fernglas verfolgte. „Jetzt überholt er sie."
„Mist!", stieß Nathalie enttäuscht hervor, da der Fahrer mit seiner Maschine nun rechts an ihrer Mutter vorbeiraste. Dabei schätzte er die Geschwindigkeit der Konkurrentin falsch ein und lenkte sein Motorrad zu früh nach links. Geistesgegenwärtig drosselte Constance das Tempo und zog ihre Maschine noch weiter nach links.
Durch dieses Ausweichmanöver driftete ihr schweres Motorrad etwas ab. Während Adrian beinah das Herz stehen blieb, fasste Nathalie vor Schreck unbewusst nach seinem Arm. Ihre kleine Hand krallte sich förmlich in seine weiche Wildlederjacke.
„Das war knapp", murmelte Camilla, als Constance die Maschine wieder völlig unter Kontrolle bekam. Nun bildete sie wieder eine Einheit mit ihrem Motorrad.
„Man sollte diesen Kerl disqualifizieren!", ließ Henriette empört verlauten. „Der fährt ja wie ein Verrückter! Der gefährdet nicht nur andere, sondern auch sich selbst!"
„Deine Mutter ist wirklich eine ausgezeichnete Fahrerin", sagte Adrian unsagbar erleichtert zu Nathalie. Beruhigend legte er seine Rechte über ihre noch immer verkrampften Finger. „Sie hat toll reagiert."
„Ja ...", flüsterte das Mädchen, während es seine Hand zurückzog. „Hoffentlich passiert so was nicht noch mal."
„Mein Arm steht dir weiterhin zur Verfügung", erwiderte Adrian augenzwinkernd, um sie aufzuheitern. Obgleich er insgeheim wünschte, das Rennen wäre endlich vorbei, ließ er sich seine Unruhe nicht anmerken. „Das ist ja auch echt aufregend."
„Hatten Sie eben auch Angst?", fragte Nathalie mit einem Blick, der gleichermaßen Dankbarkeit und Erwartung widerspiegelte. „Dann haben Sie Ma wohl gern?"
„Ich bin begeistert von ihr", flüsterte Adrian an ihrem Ohr. „Sie ist was ganz Besonderes."
„Stimmt!", bestätigte Nathalie mit spitzbübischem Lächeln. „Deshalb wird sie heute auch einen Preis gewinnen."
Aufmerksam verfolgten sie weiterhin das spannende Rennen. Hin und wieder informierte man das Publikum über die Lautsprecher, da man nicht von jedem Platz der Tribüne aus die gesamte Strecke überblicken konnte.
Auf einmal ging ein Raunen durch die Zuschauerreihen: Der an der Spitze liegende Motorradfahrer nahm eine Linkskurve zu eng und schoss mit seiner schweren Maschine über die Rennstrecke hinaus. Einige der entlang der Piste aufgetürmten Strohballen bremsten die halsbrecherische Fahrt. Mit einem Sprung brachte sich der Fahrer in Sicherheit, um nicht unter das umstürzende Motorrad zu geraten.
„Das hat er nun von seinem riskanten Fahrstil", kommentierte Henriette trocken. „Seht nur, die Nummer 13 ist Constance dicht auf den Fersen. – Lass ihn nicht vorbei", murmelte sie beschwörend. „Häng ihn ab, mein Mädchen!"
Schmunzelnd blickte Anton seine Mutter an.
„Bleib ganz ruhig, Hetty. Diese Aufregung ist nicht gut für deinen Blutdruck."
„Was verstehst du denn davon?", gab sie burschikos zurück. „Die Tabletten, die Constance mir verschrieben hat, wirken sehr gut. Da kann ein bisschen Aufregung nicht schaden."
„Das sagst du so in deinem jugendlichen Leichtsinn", neckte er sie, doch dann wurde auch er unruhig. „Jetzt geht es in die letzte Runde! Los, Constance, zeig es ihnen!"
„Auch du solltest ein wenig auf deinen Blutdruck achten", sagte seine Mutter mit gutmütigem Spott. „Sonst muss ich meine Pillen noch mit dir teilen."
„Wenn das hier nicht bald vorbei ist, komme ich darauf zurück", erwiderte ihr Sohn, ohne den Blick von der Rennstrecke zu nehmen. „Pass auf!", rief er im nächsten Moment. „Er setzt zum Überholen an!" Nun hielt ihn nichts mehr auf seinem Platz. Erregt sprang Anton auf. „Gib Gas, Constance, du schaffst es!"
Wie gebannt verfolgten die Zuschauer das spannende Kopf-an-Kopf Rennen. Jetzt lagen beide Fahrer auf gleicher Höhe, wurden aber plötzlich von einer dritten Maschine überholt. Bei der Einfahrt in die Zielgerade gewann die Nummer 13 eine halbe Länge Vorsprung vor Constance. Aber sie gab sich noch nicht geschlagen. Weit nach vorn gebeugt holte sie das letzte aus ihrer Kawasaki heraus, gelangte auf gleiche Höhe mit ihrem Konkurrenten und schoss wie ein schwarzer Pfeil an ihm vorbei ins Ziel.
„Ma ist Zweite geworden!", jubelte Nathalie und fiel Adrian um den Hals. „Sie ist die tollste Fahrerin der Welt!"
„Ja, sie war wirklich großartig", stimmte er ihr zu, worauf sie sich etwas verlegen von ihm löste.
Derweil befand sich Anton schon auf dem Weg nach unten zu seiner Tochter.
Constance ließ ihr Motorrad etwas abseits ausrollen. Kaum war sie aus dem Sattel gestiegen, wurde sie von ihren Freunden umringt. Von allen Seiten klopfte man ihr anerkennend auf die Schulter.
„Bravo, Conny", lobte Buddy sie, als sie den Helm abnahm. „Du bist gefahren wie ein Profi!" Ehe sie sich versah, legte er seine starken Arme um sie und schwenkte Constance lachend herum. „Ein richtiges Teufelsweib bist du!"
„Weißt du das erst seit heute?" Amüsiert zauste sie ihm das Haar. „Lass mich wieder runter, Buddy."
Nachdem er sie abgesetzt hatte, umarmte Michelle ihre Tochter lächelnd.
„Isch gratuliere disch, ma chère. Obgleisch isch beinah bin gestorben vor Angst, isch muss zugeben, du gewesen bist formidable."
„Merci, Maman", sagte Constance, wobei sie über die Schulter ihrer Mutter ihren Vater nahen sah. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, löste sich Constance von Michelle. „Konntest du von deinem Platz aus gut sehen?"
„Oui", nickte Michelle. „Deine Freunde 'aben gesorgt dafür. Sie sind sehr charmant."
Während sich Buddy, Keule, Andy und Gus geschmeichelt fühlten, trat Anton zu der Gruppe. Stolz schloss er seine Tochter in die Arme.
„Du warst wundervoll, Constance!" Sein Lächeln verwandelte sich in ungläubiges Staunen, als sein Blick die zierliche Gestalt streifte, die sich eben abwandte und hinter Buddys breitem Rücken Zuflucht suchte.
„Michelle ...", flüsterte Anton tonlos. Wie in Trance gab er seine Tochter frei. Mit einer Handbewegung schob er den Werkstattbesitzer beiseite und trat zu seiner Ex-Frau.
„Guten Tag, Michelle ."
Zögernd hob sie den Blick.
„Bon jour, Antoine", brachte Michelle leise hervor. Seine Anwesenheit wühlte sie bis tief ins Innerste auf.
Anton erging es ebenso. Ihr Anblick, ihre unveränderte Schönheit lösten einen beinah körperlichen Schmerz in ihm aus. Wie oft hatte er sich ausgemalt, Michelle gegenüberzustehen, aber nun wusste er nicht, was er sagen sollte.
Beide bemerkten nicht, dass Constance sich mit ihren Freunden entfernte. Sie registrierten überhaupt nicht, was um sie herum vorging.
„Es ist lange her", brachte Anton schließlich hilflos hervor. „Wie geht es dir?"
„Merci, bien", erwiderte sie unbewusst in ihrer Muttersprache. Das passierte ihr immer, wenn sie nervös war. „Et toi-même?"
„Ich kann nicht klagen." Fasziniert betrachtete er ihr Gesicht. „Du hast dich überhaupt nicht verändert, Michelle."
„Isch ’abe misch verändert", widersprach sie ernst. „In die letzte fünfundzwanzig Jahre, isch bin geworden älter und vielleischt reifer aussi."
„... auch glücklicher?"
„Isch bin zufrieden", wich sie aus. „Mein Beruf bringt misch viel Freude."
„Genügt dir das?", fragte er geradeheraus. „Warum hast du nicht wieder geheiratet? Fehlende Verehrer waren bestimmt nicht der Grund!?"
„Wie man sagt das!? Verbrannte Kind scheut die Feuer?" Nun hatte sie sich wieder so weit gefasst, dass sie Anton ruhig anschauen konnte. „Du 'ast selbst nischt wieder ge’eiratet, Antoine. ’attest du Angst, noch einmal zu geraten an eine schrecklische Frau wie misch?"
„Du bist alles andere als das", betonte er. „Trotzdem bin ich deinetwegen allein geblieben." Sein Gesicht spiegelte Trauer wider – und Resignation. „Ich konnte dich nicht vergessen", fügte er leiser hinzu. „Jedes Mal, wenn ich unserer Tochter in die Augen schaue, sehe ich dich vor mir."
„Wir aber ’aben gar nischt viel gemeinsam. Constance ist stark und indépendant; sie immer weiß, was sie will."
„Sie besitzt deine Geduld und Ausdauer, dein Feingefühl – und deine Schönheit."
Eine sanfte Röte überzog das reife Frauenantlitz. Hilflos schaute sich Michelle nach ihrer Tochter um, aber Constance schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Trotzdem breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus, als sie zwischen der kleinen Gruppe, die auf sie zusteuerte, das Ehepaar Kronenburg erkannte. Camilla war seit Jahren eine enge Freundin, die sie seit ihrer Scheidung regelmäßig in Paris besuchte.
Innig umarmten sich die beiden Frauen.
„Diese Überraschung ist dir wirklich gelungen, Michelle!", rief Camilla freudig aus. „Constance hat mit keinem Wort verraten, dass du kommst."
„Isch glaube, sie 'at gemacht un complot", meinte Michelle, ehe sie dem Professor die Hand reichte. „Es ist schön, disch wiederzusehen, Jules."
„Mich freut es auch, dass du endlich wieder mal hier bist, Michelle. Und wie phantastisch du ausschaust. Hast du etwa das Geheimnis der ewigen Jugend entdeckt?"
„Oh, non! Das ja wäre fürschterlisch! Stell disch vor, alle Menschen um disch 'erum werden älter und sterben irgendwann, nur nischt du. Welsch entsetzlischer Gedanke! Außerdem man könnte niemals sisch setzen zur Ru’e."
„Das wirst du in den nächsten zwanzig Jahren wahrscheinlich ohnehin nicht tun", vermutete Henriette, die mit ihrer Urenkelin zu ihnen stieß. „Du vergräbst dich doch förmlich in deiner Arbeit. Ich kann dir auch sagen, aus welchem Grund du das tust, Michelle: Weil du dich ..."
„Du irrst disch, 'etty", unterbrach sie ihre ehemalige Schwiegermutter rasch. „Meine Vertrag in Paris läuft aus diese 'erbst, und isch nischt weiß, ob isch soll ihn verlängern."
„Nimmst du etwa ein Angebot aus Übersee an?", fragte Anton erschrocken.
„Wo'er du weißt davon?", gab Michelle erstaunt zurück. „Nischt einmal meine Directeur 'abe isch davon gesagt."
„Constance hat es kürzlich erwähnt. Allerdings wusste sie nicht, wie du dich entscheidest."
„Vielleischt isch übernehme nur noch gelegentlisch eine Choreographie", überlegte Michelle. „Isch jetzt bin in eine Alter, wo es fällt nischt mehr so leischt, zu arbeiten die ganze Tag."
„Was wirst du dann künftig mit der vielen freien Zeit anfangen?", forderte Henriette sie heraus. „Untätig herumsitzen war noch nie deine Art."
„Es gibt viele Büscher, die isch lesen möschte", entgegnete Michelle lächelnd, wohl wissend, worauf Henriette hinaus wollte. „Außerdem isch endlisch möschte wieder malen. Eine Freund von misch, Jacques Goudeau, besitzt eine kleine Galerie in die Rue Bonaparte. Er kennt ein paar von meine Bilder. Seit Jahren er will überreden misch, zu malen für eine exposition ... eine Ausstellung."
Währenddessen hielt es auch Adrian nicht mehr auf seinem Sitz. Zwar war ihm nicht entgangen, auf welche Weise Ellerbrook Constance umarmt hatte, doch das hinderte ihn nicht daran, ihr zu gratulieren. Zielstrebig steuerte er auf die Rennstrecke zu, wurde jedoch von einem Ordner am Verlassen der Tribüne gehindert.
„Hier können Sie nicht durch", erklärte der hünenhafte Mann rigoros. „Zuschauer dürfen die Rennstrecke nicht betreten. Das ist nur Angehörigen der Fahrer gestattet."
„Das bin ich", bluffte Adrian ungeachtet der enormen Muskeln, die das Hemd des Mannes zu sprengen drohten. „Ich bin der Verlobte von Constance Meves. Sie werden mir bestimmt nicht verweigern, meiner Braut zu gratulieren!?"
„Das kann ja jeder behaupten", erwiderte der Ordner argwöhnisch. „Woher soll ich wissen, ob das stimmt?"
„Glauben Sie, sie würde sich von jedem küssen lassen?"
„Nee ..."
„Aber von mir", erklärte Adrian selbstsicher. „Immerhin wollen wir nächsten Monat heiraten."
„Ja, wenn das so ist ...", sagte der Ordner und öffnete die Absperrung. „Tolles Mädchen, Ihre Verlobte. Sie sind ein Glückspilz, Mann."
„Das weiß ich", erwiderte Adrian prompt und schlenderte zu Constance hinüber, die zwischen ihren Freunden an ihrem Motorrad lehnte.
Es wirkte überaus reizvoll, wie sich die enge schwarze Lederhose um ihre Hüften schmiegte.
„Gratuliere, Schatz", sagte Adrian lächelnd, zog Constance einfach in seine Arme und küsste die sprachlose Frau auf die Lippen.
Zunächst war sie viel zu verblüfft, um zu protestieren.
„Adrian!", brachte sie dann aber ungehalten hervor, während sie vergeblich versuchte, sich aus seinen Armen zu befreien. „Was soll das?"
Mit dem Kopf deutete er in die Richtung des Ordners.
„Sehen Sie den Herkules dort drüben, der uns beobachtet? Er wollte mich nicht durchlassen, da habe ich ihm gesagt, dass ich Ihr Verlobter bin. Wenn Sie jetzt nicht mitspielen, wird er mich zu Hackfleisch verarbeiten."
„Verdient hätten Sie es“, erwiderte sie amüsiert, wobei sie sich von ihm löste. „Ich sollte ihn rufen, damit er Sie ..."
„Bitte, haben Sie ein Herz für Ihren größten Bewunderer", flehte Adrian mit scheinbar ängstlichem Blick auf den Muskelmann. „Sonst sehe ich nachher aus, als wäre ich unter eine Dampfwalze geraten."
Sie stemmte die Hände in die Hüften und blickte der Reihe nach in die gespannten Gesichter ihrer Freunde.
„Was meint ihr, Jungs? Soll ich mitspielen – oder ihn ausliefern?"
„Entscheide das besser selbst, Conny", riet Keule ihr grinsend. „Bedenke aber, was auf dich zukommt, wenn er zwischen die Fäuste dieses Riesen gerät. Wahrscheinlich taucht er dann täglich bei dir im Zentrum auf, um sich therapieren zu lassen."
„Dann wirst du ihn überhaupt nicht mehr los“, fügte Gus hinzu, worauf Constance entsetzt die Augen verdrehte.
„Davor bewahre mich der Himmel!" Im nächsten Augenblick warf sie sich Adrian theatralisch an die Brust. „Küss mich noch einmal, mein Geliebter, um den Feind von unserem Verlöbnis zu überzeugen!"
Ergeben schloss sie die Augen.
Ehe Constance sich anders besinnen konnte, küsste Adrian sie auf den Mund – aber nicht wie erwartet kurz und flüchtig, sondern sanft und zärtlich. Nur allmählich verstärkte er den Druck und strich mit der Zungenspitze über ihre Unterlippe, bis ihr Einlass gewährt wurde. Suchend tastete sie sich voran, kostete den süßen Geschmack der Frau, in die er sich auf den ersten Blick verliebt hatte.
Alles in Adrian jubelte, als Constance den Kuss wie selbstverständlich erwiderte.
Unbewusst schmiegte sie sich enger an diesen Mann, der die seltsamsten Gefühle in ihr wachrief. In ihrem Nacken begann es verdächtig zu kribbeln, während ihr ganzer Körper plötzlich unter Strom zu stehen schien. Diese Situation war eindeutig schlecht für ihren Blutdruck. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich zu überwinden, dieses verführerische Spiel zu beenden. Langsam trat sie einen Schritt zurück.
„So war das aber nicht gemeint", tadelte sie Adrian, der anscheinend selbst um Fassung rang.
„Das war doch nur ein harmloser Kuss."
„Das nennst du harmlos? Du brauchst einen Waffenschein für deine Lippen."
„Dagegen ist eine einzige Berührung deiner Lippen wie eine süße Droge, von der man nie wieder loskommt."
„Jedenfalls wirkte es sehr überzeugend", kommentierte Buddy grinsend. „Falls ihr trotzdem noch daran arbeiten wollt, müsst ihr das verschieben. Conny muss jetzt zur Siegerehrung."
Verlegen fuhr Constance sich mit allen zehn Fingern durchs Haar.
„Kümmert ihr euch danach bitte um meine Maschine, Buddy? Ich muss mich anschließend noch umziehen. Wir treffen uns dann alle in den See-Stuben – ja!?"
„Geht in Ordnung, Conny."
Während sie sich entfernte, blieb Adrian bei ihren Freunden zurück.
„Wie ernst ist es dir eigentlich mit ihr?", sprach Andy, der Rechtsanwalt aus, was sie alle beschäftigte.
„Verdammt ernst", erklärte Adrian. „Genügt dir das?"
„Vorläufig – ja." Spontan streckte er ihm die Hand entgegen. „Willkommen im Club."
Auch die anderen schlossen sich den Worten ihres Freundes an.
„Eins möchte ich aber noch wissen, Kumpel", sagte Buddy zu Adrian, während sie die Siegerehrung verfolgten. „Neulich im Zentrum hast du dich Karate Kid genannt. Beherrschst du diese Kampfsportart wirklich, oder war das nur ein Scherz?"
„Ich habe den schwarzen Gürtel."
„Wärst du dann im Notfall nicht mit dem Ordner fertiggeworden?"
„Spielend."
„Aber warum ...", begann Buddy, doch dann dämmerte es ihm. „Hey, du bist ja ein ganz ausgeschlafener Bursche: Du hast darauf spekuliert, dass Conny dich nicht hängen lässt!"
„Wirst du ihr das verraten?"
„Conny hat doch keinen Schaden genommen", meinte er grinsend. „Im Gegenteil: Es sah so aus, als wäre ihr die Rettungsaktion gar nicht so unangenehm gewesen. Ich glaube sogar, dass es ihr gut tun würde, wenn du sie öfter mal alles um sie herum vergessen lassen könntest."
Schmunzelnd klopfte Adrian ihm auf die Schulter.
„Du bist ein Mann nach meinem Herzen, Buddy. – Obwohl ich mich anfangs gefragt habe, in welcher Beziehung ihr vier eigentlich zu Constance steht."
„Wir sind seit Jahren Freunde."
„Wünscht sich keiner von euch insgeheim mehr?"
„Von uns hast du keine Konkurrenz zu befürchten", verneinte Buddy. „Conny ist zwar schwer in Ordnung; man kann mit ihr Pferde stehlen, aber sonst läuft da nichts. Wir sind fast alle vergeben. Andy und ich, wir sind verheiratet, und Gus hat eine Freundin. Nur Keule ist zurzeit solo." Ein glückliches Strahlen breitete sich über sein Gesicht aus. „Ich werde übrigens bald Vater."
„Gratuliere“, sagte Adrian lächelnd. „Ich wünsche mir auch irgendwann Kinder – von Constance."
„Da hast du dir aber viel vorgenommen", meinte Buddy skeptisch. „Nach all der Arbeit, die sie auf sich genommen hat, um das Zentrum zu schaffen, reizt es sie bestimmt nicht, durch ein Baby ans Haus gefesselt zu sein. Sie schätzt ihre Freiheit und Unabhängigkeit über alles. Glaubst du, dass du der erste bist, der ein Hausmütterchen aus ihr machen will? Das haben schon ganz andere versucht.“
„Und was ist mit Nathalies Vater?"
„Das ist eine andere Geschichte", entgegnete Buddy. „Die du dir aber von Conny erzählen lassen solltest." Nachdenklich schaute er Adrian an. „Kommst du noch mit in die See-Stuben? Herr Ellerbrook hat dort eine kleine Feier vorbereitet."
„Dazu bin ich leider nicht eingeladen", bedauerte Adrian. „Ich fahre wohl besser nach Hause."
„Blödsinn", entschied Buddy kopfschüttelnd. „Alle Freunde von Conny sind willkommen. Du gehörst doch jetzt dazu – oder!?"
„Warum eigentlich nicht", stimmte Adrian zu. „Wenn ihr das Motorrad verladen habt, fahre ich mit euch."
Derweil die Zuschauer nach der Siegerehrung auf den Beginn des Junioren-Rennens warteten, blieb auch eine junge Frau noch zwischen ihnen sitzen. Es war Eva, die mit einer dunklen Langhaarperücke und Sonnenbrille getarnt nicht nur das Rennen ihres Ebenbilds mitangesehen hatte.
Viel interessanter fand sie die darauffolgenden Ereignisse. Es hatte sie ziemlich erstaunt, Constance in so eindeutiger Situation mit diesem attraktiven Fremden zu sehen. Immerhin gab es nach Tante Bettys Worten keinen Mann in ihrem Leben. Nun sprach jedoch einiges dafür. Eva musste Constance zugestehen, dass sie in Bezug auf ihre Liebhaber einen ausgezeichneten Geschmack besaß. Der hochgewachsene Fremde gefiel ihr sehr viel besser, als Harry Lohmann. Abermals schaute Eva durch ihr kleines Fernglas und fixierte Adrian damit von Kopf bis Fuß. Auch er würde bald ihr gehören, dachte sie triumphierend. – So, wie sie alles von Constance besitzen würde.
Leise lächelnd erhob sie sich. Ihre Pläne wichen ohnehin stark von den Wünschen ihrer Tante Betty ab.
Nachdem Constance sich umgekleidet hatte, traf sie auf dem Parkplatz mit ihrer Familie zusammen.
„Bist du mit dem Wagen hier?", fragte Anton. „Oder hat einer deiner Freunde dich mitgenommen?"
„Wir sind mit Andy gekommen."
„Dann fahrt ihr jetzt mit uns", entschied er, bevor er seine Ex-Frau ansah. „Du kommst doch mit, Michelle?"
„Besser nischt", verneinte die Französin. Insgeheim wünschte sie sich meilenweit von ihm fort. Sein Anblick weckte Erinnerungen in ihr, die sie schon jahrelang mehr oder weniger erfolglos bekämpfte. „Einer von Constances Freunde bestimmt ist so freundlisch, misch mit zurück in die Stadt zu nehmen."
Enttäuscht nickte Anton nur. Er ahnte, dass Michelle seinetwegen ablehnte, mit in die See-Stuben zu kommen.
Unverhofft kam Camilla ihm zu Hilfe.
„Glaubst du wirklich, dass wir dich jetzt einfach so gehen lassen, Michelle?" Energisch hakte sie die Freundin unter. „Komm, du fährst mit uns. Unterwegs kannst du mir erzählen, was sich ereignet hat, seit ich das letzte Mal in Paris war. Ich bin schrecklich neugierig."
„Das du warst noch nie", widersprach Michelle, während Camilla sie zu ihrem Wagen führte. „Allmählisch isch glaube, du bist genauso 'interlistig wie meine Constance. Du bist nischt zufällig beteilischt an ihre complot?"
„Mit dem Einfallsreichtum deiner Tochter kann ich leider nicht mithalten.“
In den See-Stuben war bereits alles vorbereitet. In der von Anton Ellerbrook gemieteten Terrassen-Stube wartete schon ein üppiges kaltes Buffet auf hungrige Gäste.
Obwohl Adrian angenommen hatte, Constance würde im Mittelpunkt des Interesses von Herrn Ellerbrook stehen, sah er sich getäuscht. Dieser Mann schien nur Augen für eine elegante, zierliche Lady zu haben. Zugegebenermaßen wirkte diese Frau auch auf Adrian sehr anziehend. Sie war von beinah klassischer Schönheit, trug das gewiss lange, schwarze Haar im Nacken kunstvoll verschlungen. Ihre Bewegungen wirkten grazil und dennoch temperamentvoll: ihr Alter ließ sich nur schwer schätzen.
Verwundert fragte Adrian sich, aus welchem Grund es Constance überhaupt nicht störte, dass er sich so offensichtlich um eine andere bemühte.
„Unterhalten Sie sich gut, Herr Herzog?", sprach Henriette ihn auf dem Weg zum Buffet an.
„Ja, danke." Aufmerksam schaute er die liebenswürdige alte Dame an. „Darf ich Sie etwas fragen, gnädige Frau?"
Erwartungsvoll stützte Henriette sich auf ihren Stock, da sie eine Auskunft über ihre Enkelin erwartete. Immerhin war auch ihr nicht entgangen, dass er sich für Constance interessierte.
„Was möchten Sie denn wissen, junger Mann?"
„Verraten Sie mir, wer die Dame dort bei Ihrem Sohn ist?"
Ein wenig enttäuscht runzelte Henriette die Stirn.
„Das ist meine Schwiegertochter", erklärte sie etwas unwillig und wandte sie zum Buffet. Ihrer Meinung nach sollte sich der junge Mann zu ihrer Enkelin gesellen, anstatt Michelle anzustarren. Zwar wusste sie, dass Männer jeden Alters von der aparten Französin fasziniert waren, doch sie würde darauf achten, dass niemand ihren Sohn um diese zweite Chance brächte.
Indes war Adrian erst einmal fassungslos. Es handelte sich also um Anton Ellerbrooks Frau. Demnach hatte Constance sich mit einem verheirateten Mann eingelassen, sogar ein Kind von ihm bekommen. Vermutlich war sie gegen die Ehe, weil er nicht frei war, wahrscheinlich niemals daran dachte, sich von seiner schönen Frau zu trennen. Und Constance war gezwungen, das zu akzeptieren. Wieso mutete der Mann ihr die demütigende Rolle der Geliebten zu, kränkte sie zusätzlich, indem er sie kaum beachtete? Das hatte Constance nicht verdient. Auch für die Ehefrau musste es doch verletzend sein, an der Feier für ihre Konkurrentin teilnehmen zu müssen. Wirkte Frau Ellerbrook deshalb so scheu, als würde sie sich hier nicht wohlfühlen?
Entschlossen straffte Adrian die Schultern. Er würde dem Mann klipp und klar sagen, dass er Constance aus dieser entwürdigenden Situation befreien wollte. – Selbst wenn ihn das seinen Job kosten sollte.
In der Absicht, ihn sofort um ein Gespräch zu bitten, durchmaß Adrian den Raum. Ehe er das Paar jedoch erreichte, stellte sich Constance ihm rasch in den Weg.
„Was hast du vor, Adrian?" Forschend glitt ihr Blick über seine grimmige Miene. „Willst du jemanden zum Duell fordern?"
„Ich muss mit Herrn Ellerbrook sprechen", sagte er bestimmt, aber Constance ließ ihn nicht vorbei.
„Bitte, nicht", sagte sie mit gedämpfter Stimme. „Du würdest da jetzt nur stören."
„Ich verstehe dich nicht. Wie kannst du nur so tun, als würde dir das nichts ausmachen? Es ist doch ganz offensichtlich, dass er und seine Frau ..."
„Seine Ex-Frau", korrigierte sie ihn. „Komm, ich werde es dir erklären."
Ohne eine Antwort abzuwarten, fasste Constance nach seinem Arm. Durch die weitgeöffneten Glastüren führte sie ihn auf die Terrasse hinaus. Von hier genoss man einen herrlichen Blick über den See. Im Schein der untergehenden Sonne zogen Schwäne majestätisch ihre Bahnen auf der Wasseroberfläche.
„Die Dame ist also die Ex-Frau von Herrn Ellerbrook", brach Adrian nach einer Weile das Schweigen. „Wieso ist sie dann hier?"
„Das habe ich arrangiert", erwiderte Constance und setzte sich auf die Natursteinmauer, von der die Terrasse umgeben war. „Ich versuche schon lange, die beiden zu versöhnen."
Ungläubig hob Adrian die Brauen.
„Allmählich begreife ich gar nichts mehr."
„Ich werde dir eine Geschichte erzählen. Dann wirst alles verstehen."
Nachdenklich glitt ihr Blick über das Wasser, während sie von Anton sprach, der sich als junger Mann in der Oper ein Pariser Gastspiel angesehen hatte: Prokofjews Romeo und Julia. Die Hauptrolle wurde von der Primaballerina Michelle Levin so eindrucksvoll getanzt, dass er sie unbedingt kennenlernen wollte. Nach der Vorstellung folgte er dem Ensemble zum Hotel. Die Tänzerinnen und Tänzer saßen noch in der Bar bei einem Schlummertrunk. Anton gesellte sich einfach dazu, sprach die Primaballerina an. Zunächst war sie scheu und zurückhaltend, aber als das Eis gebrochen war, verstanden sie sich ohne viele Worte. Von nun an trafen sie sich täglich, da er ihr in jede Stadt nachreiste, die sie während der Deutschland-Tournee besuchte. Am Abend vor ihrer Heimreise nach Paris machte er ihr einen Heiratsantrag. Michelle war damals schon eine gefeierte Solotänzerin, der eine Weltkarriere offenstand. Aus Liebe zu Anton gab sie nicht nur ihren Beruf, sondern ihr ganzes bisheriges Leben auf und wurde seine Frau.
Obwohl die Ärzte ihr aufgrund einer lange zurückliegenden Krankheit geraten hatten, auf Nachwuchs zu verzichten, riskierte Michelle ihr Leben, um ihrem Mann das ersehnte Kind zu schenken. Es wurde eine Zwillingsschwangerschaft, die mit einer dramatischen Kaiserschnittoperation endete. Während Michelle sich nur langsam davon erholte, starb eines der winzigen Babys noch in der Klinik. Der andere Zwilling überlebte und wurde in einer glücklichen Familie aufgezogen. – Bis Anton eines Tages geschäftlich nach Amsterdam fahren musste. Er hatte dort schwierige Verhandlungen zu führen, so dass sich sein Aufenthalt länger als erwartet hinzog. Nachdem die Verträge endlich unter Dach und Fach waren, wurde in einer Bar gefeiert.
Als er spät in der Nacht reichlich alkoholisiert unter der Dusche in seinem Hotelzimmer stand, schlich sich nebenan eine kurvenreiche Schönheit mit einer Flasche Champagner in sein Schlafzimmer. Einer seiner Geschäftsfreunde hatte sie für sich gebucht, aber sie hatte die Zimmernummern verwechselt. Statt in Nummer 112 war sie in 121 gelandet. Sie zog sich aus, löschte das Licht und schlüpfte in das breite Bett. Anton bemerkte sie jedoch nicht, als er sich niederlegte. Er schlief sofort ein.
Am kommenden Morgen traf Michelle unerwartet in diesem Hotel ein. Sie wollte Anton überraschen und ein romantisches Wochenende an die Geschäftsreise anhängen. An der Rezeption erkundigte sie sich nach seiner Suite. Da ihr Mann auf ihr Klopfen nicht reagierte, drückte sie die Klinke herunter. Die Tür war nicht abgeschlossen. So trat Michelle völlig arglos ein und prallte entsetzt an der Schlafzimmertür zurück, als Anton sich ebenso wie die nackte Frau neben ihm verschlafen im Bett aufrichtete. Die Situation schien eindeutig: das nackte Paar in einem zerwühlten Bett, der Champagner ... In diesem Moment zerbrach etwas in Michelle. Fluchtartig verließ sie das Hotel, flog zurück nach Hause und packte. Mit ihrer damals 11-jährigen Tochter flüchtete sie nach Paris und reichte die Scheidung ein.
„Konnte Anton denn nicht erklären, wie es zu dieser scheinbar eindeutigen Situation gekommen ist?", fragte Adrian betroffen. „Notfalls hätte das auch sein Geschäftsfreund tun können."
„Er wusste doch selbst nicht, wie diese Frau in sein Bett gekommen war. Außerdem fehlte ihm durch den ungewohnt hohen Alkoholkonsum jede Erinnerung. Hatte er oder hatte er nicht mit ihr geschlafen? Als er sie danach fragte, behauptete sie, sie hätten eine wundervolle Nacht miteinander verbracht. Sie mochte wohl nicht zugeben, dass sie nur bei, aber nicht mit ihm geschlafen hatte. Immerhin war sie dafür bezahlt worden. Zwar hat sein Geschäftsfreund später zugegeben, dass er das Mädchen für sich bestellt hatte, aber das nützte Anton wenig. Seine Frau hat das alles für eine billige Ausrede gehalten und auf der Scheidung bestanden."
„Ist die kleine Tochter bei Michelle geblieben?"
„Ja, sie hat bei ihr in Paris gelebt.“
„Und was ist aus ihr geworden?"
„Sie steht vor dir", erklärte Constance lächelnd, wodurch sie Adrian wieder einmal völlig aus dem Konzept brachte.
„Du bist die Tochter von Anton Ellerbrook?"
„Wusstest du das nicht!?"
„Nein, ich ..." Ein erleichtertes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Du heißt doch aber Meves!?"
„Als Studentin habe ich Hals über Kopf einen Kommilitonen geheiratet", erklärte Constance achselzuckend. „Nach sieben Monaten war es vorbei.“
„Trotzdem trägst du noch seinen Namen?“
„Den habe ich behalten, weil er für mich ein Stückchen Freiheit bedeutete. Ich wollte nicht immer nur die Ellerbrook-Tochter sein, sondern meinen eigenen Weg gehen.“
Verstehend nickte Adrian, doch dann lächelte er hintergründig.
„Da ich jetzt über deine Familienverhältnisse informiert bin, könnten wir eigentlich da weitermachen, wo wir vorhin aufgehört haben.“
„Vor wem möchtest du denn diesmal gerettet werden?"
„Vor dem lodernden Feuer, das seitdem in mir brennt."
„Wäre dann eine kalte Dusche nicht wirksamer, als zusätzlich Öl in die Flammen zu gießen?"
Leicht legte er die Hände auf ihre Schultern.
„Hast du noch nie davon gehört, dass man bei den größten Bränden Feuer mit Feuer bekämpft, Constance?"
„Bist du sicher, dass du das überleben würdest, Adrian?"
„Lass es uns herausfinden", flüsterte er und senkte den Kopf. Dicht vor ihren Lippen verhielt er abwartend, damit sie sich nicht überrumpelt fühlte.
Zu Constances eigenem Erstaunen machten sich ihre Hände daraufhin selbständig, legten sich in seinen Nacken und zogen Adrian tiefer zu sich herab. Verführerisch strich sie mit der Zungenspitze über seine Unterlippe, ehe sie seinen Mund mit ihren Lippen verschloss. Aber schon im nächsten Augenblick löste sie sich wieder von ihm und trat einen Schritt zurück.
„Wir sollten besser nicht mit dem Feuer spielen", sagte sie mit belegter Stimme. „Lass uns wieder reingehen."