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2.2 Entdeckungs-, Begründungs- und Verwendungszusammenhang der Forschung

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Im ersten Kapitel wurde bereits darauf hingewiesen, dass Forschungsvorhaben sich nur auf ausgewählte Ausschnitte der Wirklichkeit beziehen können, um die theoretisch-methodischen Anforderungen an eine wissenschaftliche Untersuchung einhalten zu können. Doch wie lässt sich diese Auswahl treffen? Welche Wirklichkeitsausschnitte lohnt es sich zu untersuchen, welche nicht? Gelegentlich tauchen in den Zeitungen Ergebnisse von Forschungsvorhaben auf, die auch als Stilblüten der Wissenschaft anzusehen sind. „Kaugummi-Kauen macht schlau.“ – So titelte die Bildzeitung am 8. März 1999. Auslöser dieses Artikels war eine Pressemeldung des 1. Vorsitzenden der Gesellschaft für Gehirntraining e. V., Dr. Siegfried Lehrl aus Erlangen, der zu entnehmen war, dass Kaugummikauen im Unterricht das Lernvermögen der Schüler steigern würde. Zum einen steht diese Behauptung auf empirisch sehr schwachen Fundamenten (zwei Studien mit 10 bzw. 5 Versuchspersonen) und zum anderen sind es sicherlich ganz andere Wirkfaktoren (z.B. Motivierung durch Lehrkräfte; Interessiertheit am Unterrichtsstoff), die das Lernvermögen von Schülern nachhaltiger beeinflussen.

„sinnvolle“ Forschungsfragen

Mit dieser Bewertung ist aber zugleich ein Verständnis von „sinnvollen“ Forschungsfragen verbunden. Zunächst sind dafür theoretisch interessante Problemstellungen erforderlich, die zugleich methodologisch realisierbar sind (V. ALEMANN 1984, S. 60). Für die Verwirklichung des Erkenntnisinteresses, also des Ziels des Vorhabens, müssen folglich auch Erkenntnismöglichkeiten bestehen. Dies zu betonen ist deshalb wichtig, weil in der pädagogischen Forschung viele Zusammenhänge kaum erschließbar sind. Beispielsweise lassen sich Kleinkinder unter drei Jahren nicht befragen und selbst noch im Grundschulalter muss man mit wenig verlässlichen (von heute auf morgen wechselnden) Antworten rechnen. Ein weiteres Beispiel ist die Auswirkung der Lehrerkompetenz auf die Schülerleistung. Um diese zu erfassen, bedarf es spezieller Kompetenztests für Lehrerinnen und Lehrer, die unterschiedliche Aspekte (fachliches Wissen, pädagogisch-psychologisches Wissen, didaktische Fähigkeiten, soziale Kompetenz) erfassen. Im Moment gibt es erste Versuche, Erhebungsinstrumente für genau diese Kompetenzen zu entwickeln, doch werden die Erkenntnismöglichkeiten in diesem Bereich vermutlich noch sehr lange begrenzt sein.

In dieser Situation ist die Findung einer interessanten Forschungsfrage eine eigene wissenschaftliche Leistung, die kreative Wissenschaftler auszeichnet.

„Natürlich ist es zugleich wichtig, bereits die Literatur zu kennen, um so Sicherheit darüber zu erlangen, ob das Problem nicht bereits erforscht ist. Ist dies der Fall, dann erübrigt sich eine neue Untersuchung. Forschung kann also nicht voraussetzungslos betrieben werden, sondern sie ist in eine Forschungstradition eingebunden, aus der sich erst ergibt, was als ein interessantes, noch nicht gelöstes Problem anzusehen ist, und wie die Lösung zu beurteilen ist.“ (V. ALEMANN 1984, S. 60f.)

Forschungstraditionen

Forschungstraditionen sind in der Erziehungswissenschaft bisher weniger entwickelt worden als beispielsweise in der Psychologie, in der Fragen des Lernens oder auch der kindlichen Entwicklung sehr konsequent und dauerhaft verfolgt werden. Eine solche Kontinuität der Forschung ist für einen kumulativen Wissenszuwachs unverzichtbar. Erst in den letzten Jahrzehnten zeichnet sich in der Unterrichtsforschung eine ähnliche Entwicklung ab, die jetzt durch die Schulleistungsuntersuchungen und die damit verknüpften Videostudien von Unterrichtssituationen weitere Impulse erhält. Dadurch entstehen „Forschungsfronten“, an denen viele Wissenschaftler arbeiten, um zu einem Erkenntnisfortschritt zu kommen. Mit den großen internationalen Schulleistungsstudien stehen in Deutschland erst seit 2001/2002 Ergebnisse über den Leistungsertrag von Bildungsprozessen zur Verfügung. Die Befunde dieser Untersuchungen sind auch deshalb für die Entwicklung der Forschung wichtig, weil sie einen großen Ausstrahlungseffekt haben, denn auf deren Grundlage können neue Forschungsfragen bearbeitet werden. So hat beispielsweise die bildungsökonomische Forschung in den letzten Jahren erheblich zugenommen, weil erst mit Leistungsergebnissen Untersuchungen zur Effizienz von Bildungsprozessen möglich sind.

Problemmoden

Für die Forschungsentwicklung sind derartige Prozesse fruchtbarer als die in der Vergangenheit in der Erziehungswissenschaft dominierende Form einer Forschungsentwicklung über wechselnde Problemmoden. Mit den so genannten Problemmoden sind Forschungsthemen gemeint, die – teilweise von der Öffentlichkeit angeregt – über einen gewissen Zeitraum intensiv verfolgt werden, um dann wieder vergessen zu werden. Als Beispiel dafür sei das Thema „Gewalt an Schulen“ genannt, das – von der Presse in die öffentliche Diskussion gebracht – für einige Jahre in mehreren Studien untersucht wurde. Inzwischen ist es aus der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion weitgehend verschwunden, obwohl es durchaus bedenkenswert wäre, diese Frage dauerhaft zu verfolgen. Auch die „Benachteiligung“ von Mädchen durch koedukativen Unterricht war eine Zeitlang ein intensiv diskutiertes Thema.

Zielsetzungen von Forschungsvorhaben

Insgesamt gibt es eine Fülle von originellen neuen Fragestellungen für die Forschung, die auch neben den Forschungsfronten und außerhalb der Problemmoden angesiedelt sind. Der Blick auf die im Zentrum der wissenschaftlichen Diskussionen stehenden Forschungsgebiete verstellt dabei leicht die Sicht auf die faktische Breite der Forschungsansätze und -methoden. Denn Forschungsvorhaben verfolgen unterschiedliche Zielsetzungen, die sich dann auch auf die Konzeption von Untersuchungen auswirken. In Anlehnung an v. Alemann (1977, S. 59–60) lassen sich vier unterschiedliche Gruppen von Ausgangspunkten für Forschung in der Erziehungswissenschaft unterscheiden:

1 Informationsvermittlung über bestimmte Aspekte von Bildung und Erziehung. Ziel dieser Untersuchungen ist es, den Kenntnisstand über pädagogische Sachverhalte zu verbessern. Dazu gehören Meinungsbefragungen der Bevölkerung – und insbesondere der Eltern – über Bildungsfragen, dazu zählen auch die Ergebnisse jener bildungsstatistischen Erhebungen, die über Bildungsbeteiligung und Bildungsabschlüsse Auskunft geben. Auch die Schulleistungsstudien und Untersuchungen über berufliche Einstellungen von Lehrern lassen sich dieser Gruppe von Untersuchungen zuordnen.

2 Untersuchung von Problemen im Bereich Bildung und Erziehung wie beispielsweise soziale und migrationsspezifische Benachteiligung, Schulverweigerung, die Methodenvielfalt des Unterrichts oder die Förderung von Kindern im Vorschulalter. Ziel dieser Untersuchungen ist es, Lösungsstrategien für diese Probleme aufzuzeigen.

3 Politikberatung durch Gutachten und Expertisen. Ziel entsprechender Arbeiten ist eher die Zusammenstellung und Aufbereitung verfügbaren Wissens als die Durchführung neuer Untersuchungen. Den Ausgangspunkt dieser Berichte bilden Aufträge aus der Bildungspolitik und -verwaltung, die dann zur Unterstützung bei der politischen Entscheidungsvorbereitung dienen. Neben Gutachten und Expertisen zu Einzelfragen gibt es die in mehrjährigem Abstand erscheinenden Bildungs-, Armuts-, Jugend- und Familienberichte sowie den jährlich vorzulegenden Berufsbildungsbericht. Auch Politikberatung anhand wissenschaftlich fundierter Berichte gehört in diese Kategorie.

4 Grundlagenforschung über Fragen von Bildung und Erziehung. Ziel dieser Forschung ist es, die Theorien des Forschungsgebietes zu verbessern, um eine bessere Erklärung von Bildungsprozessen zu ermöglichen.

Entdeckungszusammenhang

Diese Ausführungen umkreisen das Problem der Themenfindung für die Forschung und benennen Rahmenbedingungen in der Wissenschaft. Sie geben aber weder Richtlinien noch nennen sie Methoden für „gute“ Fragestellungen, die zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen. Wissenschaftssoziologisch und -psychologisch lässt sich das Problem der Themenfindung untersuchen und durch die Organisation der Forschung sollen auch die Rahmenbedingungen für originelle Forschungsfragen optimal gestaltet werden. Dies ändert aber nichts daran, dass der auch als Entdeckungszusammenhang bezeichnete Weg zur Formulierung wissenschaftlicher Frage- und Problemstellungen selbst nicht zum „eigentlichen“ Wissenschaftsprozess gehört. Dies entbindet den Wissenschaftler aber nicht davon, ein Vorhaben auch forschungsethisch und forschungsstrategisch (bei konkurrierenden Forschungsoptionen) zu verantworten.

Begründungszusammenhang

Im Zentrum dieses Buches steht der Begründungszusammenhang der Forschung. Damit ist der von einer Untersuchungsfrage ausgehende Forschungsprozess gemeint, der zur Bestätigung oder Widerlegung einer bestimmten Fragestellung führt. Dieser Weg führt über die Auswahl einer Untersuchungsmethode sowie die Erhebung von Daten zu deren statistischer Analyse, welche wiederum letztlich als formales Verfahren den Forscher mit dem Ergebnis – bezogen auf die Ausgangsfrage – konfrontiert. Durch das formale Verfahren soll ein möglichst vorurteilsfreies Ergebnis gesichert werden. Insofern ist die Einhaltung der methodologischen Regeln Voraussetzung für die Wissenschaftlichkeit des Vorgehens.

Zur Begründung des quantitativ-empirischen Forschungsprozesses gibt es eine umfangreiche und sehr kontroverse Literatur, die allerdings weitgehend von den Problemen abstrahiert, denen Wissenschaftler in empirischen erziehungswissenschaftlichen Forschungsprojekten gegenüberstehen. Diese müssen sich für einen „methodologischen Pragmatismus“ (V. ALEMANN 1984, S. 54) entscheiden, weshalb es hier unterlassen wird, die wissenschaftstheoretischen Kontroversen im Einzelnen darzulegen.

Verwendungszusammenhang

Zu dem Entdeckungs- und Begründungszusammenhang gehört als dritter Aspekt eines Forschungsvorhabens der Verwendungszusammenhang. Damit ist die Phase nach der Veröffentlichung der Ergebnisse oder der Abgabe eines Gutachtens angesprochen. Sowohl für die weitere Forschung als auch für Politik und Öffentlichkeit können die erarbeiteten Ergebnisse zu Konsequenzen führen: sie können neue Forschung anregen, eine Gesetzgebung beeinflussen und öffentliche Debatten auslösen. Auch diese Phase unterliegt keinen wissenschaftlichen Regeln. Außerdem ist sie weitgehend dem Einfluss des Forschers entzogen, denn er kann niemandem Vorschriften über die Verwendung (und auch einseitige Nutzung und Darstellung) seiner Forschungsergebnisse machen. Umso wichtiger ist es daher, vor der Veröffentlichung von Ergebnissen und in Kenntnis des Verwendungszusammenhangs von Forschung, nicht gewünschte Folgen durch geeignete Maßnahmen zu vermeiden. Im letzten Kapitel dieses Buches wird noch etwas ausführlicher auf den Verwendungszusammenhang der Forschung eingegangen, denn in Methodenlehrbüchern wird dieser Aspekt wissenschaftlicher Tätigkeit – trotz seiner praktischen Bedeutung – meist nicht behandelt.

Quantitative Methoden in der Erziehungswissenschaft

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