Читать книгу Quantitative Methoden in der Erziehungswissenschaft - Claudia Schuchart - Страница 8
1.1 Wissenschaftlicher Zugang zur Erziehungswirklichkeit
ОглавлениеAlltagshandeln und Wissenschaft
Von dem Alltagshandeln unterscheidet sich ein wissenschaftliches Forschungsvorhaben durch systematisches und methodisch kontrolliertes Vorgehen, denn Aufgabe der Wissenschaft ist es, zu intersubjektiv überprüfbaren Aussagen über die Wirklichkeit zu gelangen. Da es nicht möglich ist, die Wahrheit eines wissenschaftlichen Ergebnisses oder einer wissenschaftlichen Aussage letztgültig festzustellen, ist es Aufgabe der Wissenschaft, über wissenschaftliche Forschung entweder falsche Vorstellungen zu widerlegen oder als richtig angesehene Auffassungen über wiederholte Untersuchungen vorläufig zu bestätigen. Dies wiederum erfordert, aus der komplexen Realität, die uns umgibt, einen begrenzten Wirklichkeitsausschnitt auszuwählen, der zur Grundlage der wissenschaftlichen Analyse wird. Diesen Ausschnitt der Wirklichkeit allerdings wird kein Forscher zufällig auswählen, sondern er hat bestimmte Annahmen und Vorstellungen, die diesen Auswahlprozess steuern. Solche Annahmen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen oder über die Hintergründe beziehungsweise die Struktur von Argumentationen oder Prozessen werden in der Wissenschaft Hypothesen genannt. Komplexere Gedankengebäude solcher Annahmen über Wirkungszusammenhänge bezeichnet man als Theorien. Über Theorien und Hypothesen werden in gewisser Weise in die unstrukturierte Realität Schneisen der Aufmerksamkeit eingebracht, die die Forschung anleiten.
Wahrnehmung ist nie voraussetzungslos
An dieser Konzeption von Wissenschaft und der Aufgabe der Forschung könnte die Einschränkung und Begrenzung der Wahrnehmung, beispielsweise von Prozessen der Bildung und Erziehung, kritisiert werden. Andererseits aber gibt es keine voraussetzungslose Wahrnehmung und Erkenntnis, da all unsere Erfahrungen von vorausgegangenen Erfahrungen und Lernprozessen beeinflusst sind. Folglich sind die Selektivität und „Voreingenommenheit“ unserer Vorstellungen unvermeidlich. Über eine Systematisierung des wissenschaftlichen Vorgehens und klare methodische Regeln soll jedoch erreicht werden, dass der Einfluss dieses subjektiven Faktors auf das Ergebnis der Forschung möglichst gering bleibt. Dann ist in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass Wissenschaft ein soziales System ist, in dem andere Wissenschaftler die Ergebnisse der Forschung lesen und kritisieren. Durch die Verpflichtung zur Veröffentlichung der Forschungsergebnisse kann sich niemand weder der Kritik noch dem Prozess der Klärung kontroverser Positionen und der Zurückweisung unbelegbarer Behauptungen entziehen.
Datengrundlagen für die Forschung
Mit den einleitend aufgelisteten unterschiedlichen Fragen, die in der Gesellschaft zum Thema Bildung und Erziehung diskutiert werden, ist ein breites Spektrum von Quellen und Datengrundlagen für die Forschung in der Erziehungswissenschaft verbunden. Neben Leistungsuntersuchungen und Befragungsergebnissen sind auch Schulbücher, Lehrpläne, Schul- und Hochschulgesetze sowie das gesamte Bildungsrecht, Jugendamtsakten, Bildungs- und Kriminalitätsstatistiken, Lebensbeschreibungen, bildungspolitische Passagen in Parteiprogrammen, historische Quellen zum Schulwesen einer Stadt, erziehungsphilosophische Abhandlungen und selbstverständlich auch die Beobachtung von Erziehungsprozessen und Schulstunden sowie viele andere Quellen für die erziehungswissenschaftliche Forschung nutzbar. Es leuchtet ein, dass diese unterschiedlichen Grundlagen der Forschung und des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns auch nach unterschiedlichen Methoden der Forschung verlangen: Die Geschichte erziehungswissenschaftlicher Ideen und Konzepte kann nicht mit den gleichen wissenschaftlichen Methoden erschlossen werden, wie die Analyse einer Unterrichtsstunde.
Pädagogik als Geisteswissenschaft
Dennoch gab es in der deutschen Erziehungswissenschaft lange einen Streit über das „richtige“ Verständnis von Wissenschaft, und es wurde der faktenorientierten, empirischen Wissenschaftsauffassung eine sinnverstehende, geisteswissenschaftliche Wissenschaftsauffassung gegenübergestellt. Hinter diesem Verständnis stand die Trennung der Wissenschaft in Natur- und Geisteswissenschaften, wie sie vor allem Wilhelm Dilthey begründete, und die Pädagogik wird als geisteswissenschaftliche Disziplin definiert.
Dilthey war der Auffassung, dass alle Wissenschaften, die sich statt auf die Natur auf den Menschen beziehen, einer eigenen Grundlegung bedürfen. Während nach seinem Verständnis „die neuzeitlichen Naturwissenschaften auf der Basis von Gesetzesaussagen Erklärungen liefern, ist es Aufgabe der Geisteswissenschaften, menschliches Seelenleben zu verstehen, äußeren Zeichen ein Inneres zu erkennen: aus dem Verhalten eines Kindes seine Gedanken und Absichten zu erschließen, die Bedeutung eines Textes zu interpretieren“ (KÖNIG/ZEDLER 1998, S. 87).
Zur gleichen Zeit gab es mit Windelband und Rickert (s. Abbildung 1.1) zwei weitere Philosophen, die diesen Gegensatz mit dem Begriffspaar Gesetzeswissenschaften – Ereigniswissenschaften oder Naturwissenschaft – Kulturwissenschaft zum Ausdruck brachten; Begriffsbildungen, die bis heute Verwendung finden. Sie unterstellen die Ausrichtung der Naturwissenschaften an der Untersuchung von allgemein gültigen Gesetzen (griech. nomos) und der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften an dem Verständnis des Einzelfalls und des Einmaligen. Statt des naturwissenschaftlichen Anspruchs auf eine universelle Gültigkeit von Naturgesetzen erheben die Geisteswissenschaften nur den Anspruch auf Objektivität der Erkenntnisse.
Verstehende Soziologie
Auf die weit reichenden Diskussionen in der Wissenschaft, die diese Positionsbestimmungen ausgelöst haben, kann hier nicht eingegangen werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber noch die Erkenntnis Max Webers, dass sich soziale Prozesse – unabhängig von der Handlungsfreiheit des Einzelnen und dem Anspruch jedes Menschen, als Individuum verstanden zu werden – auch in gesellschaftlichen Zusammenhängen vollziehen. Weber nennt die auf die Gegenstände der Lebens- und Gesellschaftswirklichkeit bezogene „Wirklichkeitswissenschaft“ Sozialwissenschaft und gilt damit als Begründer einer „verstehenden Soziologie“. Das Verstehen soll aber „sowohl der Erkenntnis des Einzelnen und Einmaligen als auch der Erkenntnis des Allgemeinen dienen können […]. Der Wissenschaft von der Gesellschaft und ihrer sozialen Teilbereiche, die durch die Aktionen ihrer Mitglieder, also durch die handelnden Menschen, konstituiert wird, präsentiert sich ein derart differenzierter Gegenstandsbereich, der mit nur einer Methode oder mit nur einer methodischen Ausrichtung nicht erforscht zu werden. Methodenvielfalt ist daher die Folge“ (KRON 1999, S. 108). Nach Krons Verständnis ist die Sozialwissenschaft folglich auch in der Wahl ihrer Forschungsmethoden zwischen Geistes- und Naturwissenschaft anzusiedeln.
Abb. 1.1: Überblick über wissenschaftstheoretische Grundpositionen verschiedener Wissenschaftler Quelle: KRON1999, S. 109
Erziehungswissenschaft als Wirklichkeitswissenschaft
Auch die Erziehungswissenschaft ist eine Wirklichkeitswissenschaft, die sich sowohl über erklärende Methoden um die Aufdeckung von Gesetzmäßigkeiten bemühen muss, zugleich aber auch zu einem deutenden Verstehen des Einzelfalls beitragen kann. Der Streit um die Verortung der Erziehungswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin führt heute noch zu Ausdifferenzierungen der wissenschaftlichen Positionen. Angesichts der angedeuteten Komplexität des Gegenstandsbereichs von Bildung und Erziehung sowie der Fülle von Datengrundlagen für den wissenschaftlichen Zugang zu diesem Forschungsfeld kann es nicht um ein Entweder-oder, sondern nur um ein Sowohl-als-auch gehen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Entscheidung für ein bestimmtes Vorgehen in der Forschung – man spricht auch von einem Forschungsparadigma – mit spezifischen Möglichkeiten, aber auch mit Begrenzungen verbunden ist. Die Entscheidung für bestimmte Fragestellungen, für die Auswahl bestimmter Daten und für ein bestimmtes forschungsmethodisches Vorgehen ist zugleich eine Entscheidung für einen spezifischen Wirklichkeitsausschnitt, der mit den gewählten Instrumenten für die Forschung erschlossen wird.
Quantitativempirischer Zugang
Eine dieser möglichen Entscheidungen besteht in der Wahl eines quantitativ-empirischen Zugangs zur Erziehungswirklichkeit, der in diesem Band einleitend dargestellt wird. In anderen Bänden dieser Reihe werden der qualitativ-empirische Ansatz als alternativer empirischer und der bildungs- und erziehungstheoretische Ansatz als sinnverstehender, hermeneutischer Zugang zur Erziehungswirklichkeit vorgestellt. Für die Forschung sind konkurrierende Forschungsansätze anregend und befruchtend. Sie fordern zu Kontroversen heraus und tragen letztlich zu einem differenzierten wissenschaftlichen Verständnis des Forschungsfeldes und Untersuchungsgegenstands bei.
Ein empirischer Zugang zur Erziehungswirklichkeit bedeutet – ausgehend von dem aus dem Griechischen hergeleiteten Begriff „Empirie“ – einen Zugang über die „Sinneserfahrung“. „Empirische Wissenschaft ist demnach der Teil der Wissenschaften, der auf der Erfahrung durch die menschlichen Sinne (auf der Beobachtung in allerweitester Bedeutung) beruht; empirisches Vorgehen ist, Ausgehen von Erfahrungstatsachen‘“ (vgl. KROMREY 1986, S. 13). Quantitativ-empirisch meint einen Zugang zur Realität über die Erfassung von Häufigkeiten sowie die Durchführung von Messoperationen (vergleichbar dem Wiegen oder der Längenbestimmung im Alltag), die anschließend mathematisch-statistisch ausgewertet werden. In ihrer Vorgehensweise und der Absicht, vom Einzelfall abstrahierende Aussagen über die Erziehungsrealität anzustreben, ähnelt die quantitativ-empirische Forschung dem naturwissenschaftlichen Forschungsverständnis. Welche Konzepte für diesen Forschungsansatz in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, wird in den folgenden Kapiteln dieses Buches einführend dargestellt.