Читать книгу Quantitative Methoden in der Erziehungswissenschaft - Claudia Schuchart - Страница 9
1.2 Die Konkurrenz der Forschungsparadigmen
Оглавление„Empirische Wendung“ der Forschung
Eine „empirische Wendung“ in der pädagogischen Forschung, die Heinrich Roth Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts forderte, vollzog sich nur sehr langsam innerhalb der Universitäten. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelten sich – zunehmend öffentlich finanziert – außerhalb der Universitäten mehrere Forschungseinrichtungen, die weit intensiver empirische Forschungsprojekte im Bildungsbereich durchführten: das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung, das Deutsche Jugendinstitut, das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, das Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und mehrere andere. Heute sind die Namen dieser Institute mit den großen internationalen Leistungsstudien wie PISA, TIMMS und DESI sowie umfangreichen Kinder- und Jugendstudien verbunden, die dort durchgeführt werden.
„Empirische Wende“ der Bildungspolitik
Noch 1990 gaben von den Erziehungswissenschaftlern an deutschen Universitäten nur etwa 20% an, einen quantitativ-empirischen Forschungsansatz zu vertreten (vgl. BAUMERT/ROEDER 1994, S. 42). Bis heute hat sich diese Situation etwas zugunsten einer quantitativ-empirischen Orientierung verschoben. Zu diesem Veränderungsprozess in der Erziehungswissenschaft hat maßgeblich jene vor etwa zehn Jahren einsetzende „empirische Wende“ in der Bildungspolitik sowie das gestiegene öffentliche Interesse an Fragen der Erziehung und Bildung beigetragen.
Von den 70er Jahren bis Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts haben sich die Kultusminister der Länder weitgehend einem Wettbewerb untereinander und insbesondere ländervergleichenden Leistungsvergleichen entzogen. Mit dem zunehmenden weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerb und dem forcierten Ausbau des Bildungswesens in den Industrieländern setzte auch ein Wettbewerb der Bildungssysteme ein. Den internationalen Bestrebungen zu einer Leistungsüberprüfung der Bildungs- und damit vor allem der Schulsysteme konnte sich auch Deutschland nicht entziehen. Die ernüchternden und von der Öffentlichkeit verstört aufgenommenen Ergebnisse der TIMSS Studie vor gut zehn Jahren (hier wurden die Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler in Mathematik und den Naturwissenschaften international mit den Leistungen gleichaltriger Schüler in anderen Ländern verglichen) leiteten diesen Politikwechsel in Deutschland ein. Inzwischen gehören regelmäßige Leistungsüberprüfungen zum schulischen Alltag. Die Kultusminister der Länder verabschiedeten vor einigen Jahren ein Konzept zur Leistungsüberprüfung des Schulsystems, das die regelmäßige Teilnahme an mehreren internationalen Leistungsstudien für verschiedene Altersstufen und Kompetenzbereiche (Muttersprache, Fremdsprache, Mathematik, Naturwissenschaften) einschließt. Auch wurden Bildungsstandards (von den Schülern zu erreichende Kompetenzniveaus) für Unterrichtsfächer und Bildungsstufen entwickelt, die in jährlichen Leistungsüberprüfungen am Ende der Grundstufe und der Pflichtschulzeit abgefragt werden (sogenannte Lernstandserhebungen). Die Schulen sind zur internen Qualitätskontrolle ihrer Arbeit aufgefordert und werden inzwischen auch in einigen Ländern von sogenannten Schulinspektoren in mehrjährigem Abstand geprüft.
An dieser Entwicklung wird deutlich, dass Ergebnisse großer Untersuchungen mit einem quantitativen Forschungsansatz, Kennziffernsystemen und statistischen Indikatoren eine zunehmende Bedeutung für die politische Steuerung der Bildungspolitik erhalten haben. Diese mit dem Schwerpunkt auf das Schulwesen dargestellte Entwicklung lässt sich auch für den Bereich der Jugendhilfe und den Hochschulbereich beobachten. Dazu trägt auch die Öffentlichkeit bei, die zunehmend entsprechende Informationen einfordert. Aussagen von Politikern erhalten mehr Glaubwürdigkeit, wenn sie von den Ergebnissen großer und repräsentativer Untersuchungen gestützt werden. Es ist heute noch nicht absehbar, ob bald wieder versucht wird, dieser Entwicklung entgegenzusteuern, weil sie als überzogen angesehen wird. Doch ist international die Tendenz zu einer „evidenzbasierten“ (einer durch Ergebnisse empirischer Forschung und Indikatorensysteme gestützten) Bildungspolitik so stark, dass es der deutschen Bildungspolitik kaum gelingen dürfte, sich diesen Entwicklungen wieder zu entziehen.
Empirische Bildungsforschung
Jedenfalls führte die Entwicklung des letzten Jahrzehnts auch zu einem erheblichen Zuwachs der empirischen erziehungswissenschaftlichen Forschung in Deutschland. Im Zentrum stand dabei die Untersuchung der Schülerleistungen. Diese Entwicklung erfasste auch die Universitäten, an die nun zunehmend Professoren für „Empirische Bildungsforschung“ berufen werden. Auch in der Lehre finden diese neuen Entwicklungen im Bildungswesen ihren Niederschlag. In der forschungsmethodischen Ausbildung von Hauptfach-Pädagogen, in der die Einführung in quantitative Forschungsmethoden und Statistik an vielen Universitäten lange Zeit vernachlässigt wurde, wird nun zunehmend die Notwendigkeit einer Intensivierung dieser Ausbildungsinhalte eingesehen und in den Studienordnungen verpflichtend verankert. Fehlende forschungsmethodische Kompetenzen haben in den letzten Jahren häufig dazu geführt, dass Mitarbeiterstellen in empirischen Forschungsprojekten eher von Psychologen und Soziologen als von Erziehungswissenschaftlern besetzt wurden. Nur über eine solide forschungsmethodische Ausbildung während des Studiums der Erziehungswissenschaft lässt sich dies in der Zukunft verhindern.
Zwar ist es wichtig für eine wissenschaftliche Disziplin wie der Erziehungswissenschaft, die sich als Wissenschaft einer gesellschaftlichen Praxis versteht, Entwicklungen der Praxis – und zu dieser Praxis gehören auch die durch die Bildungspolitik veränderten Bedingungen – aufzunehmen, doch ändert dies nichts an der bereits beschriebenen Struktur und Komplexität der Erziehungswirklichkeit, die durch unterschiedliche forschungsmethodische Zugänge jeweils nur selektiv erschlossen werden kann. In der kritischen Auseinandersetzung mit den jüngeren Entwicklungen der Bildungspolitik und der Schulforschung wird empirischen Forschungsbefunden häufig eine zu weit gehende Gültigkeit zugesprochen. Schlussfolgerungen, die aus den Ergebnissen von Untersuchungen gezogen werden, sind immer mit Werturteilen verbunden und folglich nicht direkt aus den Forschungsbefunden ableitbar. Über die Verwendung der Forschungsergebnisse durch die Politik und Öffentlichkeit werden Wissenschaftler in politische Auseinandersetzungen verstrickt, denen sie sich – vor allem wenn sie politisch interessante Ergebnisse liefern – kaum entziehen können. Deshalb ist es wichtig, den Stellenwert der Forschung für Entscheidungen der Erziehungspraxis und Bildungspolitik hier noch kurz zu behandeln.
Reflexionswissen durch Forschung
Wissenschaft und Forschung können nicht das Handeln in der Erziehungswirklichkeit ersetzen. Ihre Aufgabe ist es, Reflexionswissen für die Praxis zur Verfügung zu stellen. Damit ist gemeint, dass die wissenschaftliche Forschung Ergebnisse bereitstellt, die zwar nicht unmittelbar in pädagogische Situationen angewendet werden können, dafür aber Verständnishorizonte eröffnen und Begriffe und Problembewusstsein erzeugen, die für die Lösung praktischer pädagogischer Probleme hilfreich sein können. Professionelles Handeln zeichnet sich durch die situativ sinnvolle Auswahl und Anwendung von wissenschaftlichem Wissen für die Lösung von Praxisproblemen aus. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik mit ihrem hermeneutischen Forschungsansatz verfolgte beispielsweise mit dem „Verstehen“ von Texten, Dokumenten und Entwicklungen im pädagogischen Denken kein rein historisches Interesse, sondern hatte die „Absicht, Aufklärung der jeweiligen Gegenwart und damit Hilfe für die Praxis zu leisten, um aktuelle pädagogische Probleme reflektierter, bewusster, rationaler lösen zu können“ (KLAFKI 1971, S. 364). Mit einem völlig anderen forschungsmethodischen Ansatz verfolgt die quantitativ-empirische Forschung in der Erziehungswissenschaft das gleiche Ziel. Jedoch lässt sich der Prozess der Datenauswertung durchaus mit dem hermeneutischen Prozess vergleichen, nur mit keiner literarischen, sondern einer numerisch-statistischen Grundlage: statt der Texte pädagogischer Klassiker oder anderer wissenschaftlicher Literatur sind Computerausdrucke mit den Ergebnissen der Datenanalysen Anlass hermeneutischer Reflexion. Sie führen oft zu weiteren Auswertungsschritten, zur Änderung der Auswertungsverfahren und der Veränderung von Fragestellungen etc. Insofern besteht durchaus eine oft ignorierte Ähnlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse – unabhängig von den untersuchten Wirklichkeitsausschnitten und den dafür gewählten Verfahren.
Kein „Königsweg“ der wissenschaftlichen Erkenntnis
Wie bereits erwähnt, führen die Verbreiterung der Datengrundlage der Forschung sowie die Konkurrenz unterschiedlicher Forschungsparadigmen zu einem mehrperspektivischen Blick auf die Erziehungswirklichkeit. Dieser für die Forschung und die wissenschaftliche Auseinandersetzung bereichernden Vielfalt stehen aber relativ einseitige Erwartungen der Bildungspolitik und Öffentlichkeit gegenüber. Dadurch entsteht gelegentlich der Eindruck, dass nur noch eine Art des erziehungswissenschaftlichen „Reflexionswissens“ gefragt ist: nämlich die Ergebnisse großer quantitativ-empirischer Studien. Aber auch wenn die Überzeugungskraft von Argumenten, die das Ergebnis geisteswissenschaftlich-hermeneutischer Überlegungen sind, in der Öffentlichkeit im Schwinden begriffen sein sollte und sich eine „Faktengläubigkeit“ breit macht, gehört es zur Selbstkritik des quantitativ-empirisch forschenden Wissenschaftlers, sich des begrenzten Aussagegehalts auch seiner Forschungsergebnisse bewusst zu bleiben. Es gibt nicht den „Königsweg“ der wissenschaftlichen Erkenntnis und angesichts der Komplexität der Erziehungswirklichkeit bleibt es eine Aufgabe der Wissenschaft, die Vielfalt von Realitätsebenen und Forschungsperspektiven gegen eine „Konfektionierung“ von Forschung zu verteidigen. Damit ist gemeint, dass die quantitativ-empirische Forschung trotz aller Wichtigkeit nicht zur ausschließlich geförderten Forschungsrichtung werden sollte, weil dies einer Begrenzung der wissenschaftlichen Wahrnehmung der Erziehungsrealität Vorschub leisten könnte.
Insofern erhebt sie auch nicht den ihr oft unterstellten Anspruch, die einzige Forschungsrichtung in der Erziehungswissenschaft zu sein, die den in anderen Disziplinen üblichen wissenschaftlichen Standards folgt.