Читать книгу Vom MILLENNIUM bis zum JAHR 2021 - Claudia Stosik - Страница 17
Der Zweitwagen
ОглавлениеAm Mittwoch hatte ich meinen Müll hinunter gebracht. Die Einwurfluke des Müllcontainers hatte ich geöffnet und war gerade dabei, den prall gefüllten Müllbeutel einzuwerfen, da näherte sich auf der vorüberführenden Straße ein Automobil. Es näherte sich im Schritttempo, womit der Fahrer seine Absicht zu erkennen gab, hier halten zu wollen. In diesem Falle war der Fahrer eine Fahrerin, und ich glaubte, Frau M. als solche erkannt zu haben. Das wurde zur Gewissheit, als das Automobil am Straßenrande zum Halten kam und ihm tatsächlich Frau M. entstieg.
Aha, dachte ich, sie war mit ihrem Zweitwagen unterwegs, was ein „Golf“ ist oder so ähnlich, denn dazu hat man ihn schließlich, für den Fall, dass den Erstwagen, einen silberglänzenden BMW, gerade Herr M. für seine Geschäfte benötigt, weil er schließlich der Ernährer ist. Nun wäre es ein Irrtum, zu glauben, dass ich mich für die Erst- und Zweitwagen anderer Leute interessiere. Aber auch wenn man das gar nicht will, ist man gezwungen, zur Kenntnis zu nehmen, was man tagtäglich vor Augen hat, diese Eindrücke in seinem Hirn zu speichern und, wie in diesem Falle, bestimmten Personen zuzuordnen.
Wie das so ist, sprachen wir nun ein paar Worte miteinander. Frau M. erklärte, dass sie unterwegs war, um sich Klamotten zu kaufen. Es gäbe aber nichts Passendes für ihre Figur. Im Vorübergehen warf ich einen Blick in den Briefkasten. Der war voll: Tageszeitung, Werbung und an manchen Tagen sind auch Bittbriefe von wohltätigen Organisationen dabei. Diesen sind gewöhnlich gleich Überweisungsformulare beigelegt. Das ist außerordentlich bequem, weil man da nur noch den Betrag einsetzen und unterschreiben muss. Frau M. meinte, dass sie da nichts gäbe, weil ihr auch niemand etwas gibt. Ich sagte, dass ich manchmal etwas an die Heilsarmee überweise, für die Obdachlosen und das Mittagessen oder so. Aber ich vermochte damit Frau M. nicht zu beeindrucken, denn die Obdachlosen wären doch selbst daran schuld, belehrte sie mich nun.
Daraufhin schilderte ich ihr den Fall meines Kollegen P. Nach der Wende hatte er sich voller Zuversicht und Vertrauen in die neue Gesellschaft selbständig gemacht. Aber dann hatten sie ihn mit dem Mietvertrag aufs Kreuz gelegt und auch seine Rechnungen wurden nicht bezahlt. Jetzt ist er hoch verschuldet, hat keine Einkünfte und musste Sozialhilfe beantragen. Zwecks Bearbeitung seines Antrages hatte man ihn an eine Stelle verwiesen, die für „Obdachlose, Nichtsesshafte und Landfahrer“ zuständig ist. Daran erkennt man, dass man sich keinesfalls nur durch eigenes Verschulden in Kategorien am Rande der Gesellschaft wiederfinden kann. Das wollte ich eigentlich Frau M. nur verständlich machen. Aber sie verstand nichts. Stattdessen klagte sie, dass sie auch zusehen müsste, wie sie zu ihrem Geld kämen, und manchmal wüssten auch sie nicht, wie es weiterginge, und das mit einem Zweitwagen!
Im Jahr 2005
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