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Kapitel 2.2 Andorn

Volkstümlich: Gottvergessen, Mariennessel, Dorant

Botanisch: Marrubium vulgaris L., Marrubium rafanum L.

Gallisch-keltisch: Marrubium, Domae

Altbretonisch: Guorthasaer


Marrubium vulgare L., der Weiße Andorn, gehört zur Familie der Lamiaceae. Genauso wie der Beifuß, die Katzenminze und der Wermut zählt Andorn seit der Jungsteinzeit zu den Kulturbegleitern menschlicher Siedlungen.

Das ausdauernde, schwach nach Thymian duftende Kraut wird 40 bis 60cm hoch und hat eine spindlige Wurzel mit mehrköpfigem Wurzelhals. Die Stängel sind vom Grund an ästig, mit bogig abstehenden Ästen, stumpf vierkantig und wie die Blätter lockerflaumig, in der Jugend spinnenwebartig weiß behaart. Die Laubblätter sind gestielt mit unscharf abgesetztem Stiel. Die Spreite ist am Rand ungleich gekerbt, von den oberseits vertieften, unterseits stark hervortretenden Nerven stark runzlig, anfangs dicht weißwollig, später nur locker behaart und oberseits oft kahl. Die kurz gestielten Blüten sind 5 bis 7mm lang und stehen in dichten, reichblütigen, fast kugeligen, blattachselständigen Scheinquirlen mit linealen, herabgebogenen, dicht behaarten Vorblättern. Der Kelch ist röhrig und von lockeren Sternhaaren weiß-filzig, mit 10 Zähnen, die nach dem Abfallen der Krone krallenartig zurückgekrümmt sind. Der Kelch hält durch den dicht behaarten Schlund die Nüsschen zurück und fällt mit diesen ab. Die Krone ist weiß, flaumig behaart. Die Oberlippe gerade aufgerichtet, der Mittelzipfel der Unterlippe etwa dreimal so lang wie die seitlichen.

Die Blütezeit des Andorns erstreckt sich von Juni bis September. Die beste Erntezeit liegt wie bei so vielen Heilkräutern zwischen der Sommersonnwende und Mitte August. Die Pflanze wird während der Vollblüte abgeschnitten, gebündelt und im Schatten an der Luft getrocknet. Die derben unteren Stängelteile sollte man als Droge nicht mitverwenden. Daher werden die Blätter und Blüten nach dem Trocknen am besten abgerebelt und die zarteren oberen Stängelteile kleingeschnitten.


Da Marrubium früher systematisch als Heilpflanze kultiviert wurde, findet man es heute verwildert auf trockenen Weiden, Schutthalden, in Magerwiesen, an Dorfwegen, auf Ödland und an Viehlagerplätzen. Es ist eine klassische »Dorfpflanze« und gedeiht am besten auf stark gedüngtem Boden. Lassen Sie sich trotzdem nicht dazu hinreißen, wildwachsenden Andorn zu ernten, denn er steht in Deutschland auf der roten Liste der vom Aussterben bedrohten Arten. Allerdings lässt er sich ohne große Mühe im eigenen Garten ziehen und dort werden Sie auch eine weitere Besonderheit dieser Heilpflanze feststellen: das gänzliche Fehlen von Parasiten und Schädlingen. Dies ist wohl mit ihrem außergewöhnlich hohen Gehalt an Bitterstoffen zu erklären.

Der Weiße Andorn beinhaltet außer den Bitterstoffen wie Marrubiin (0,3 bis 1 %), Prämarrubiin und Marrubenol Harz, ätherisches Öl, Gerbstoffe (5 bis 7 %), Flavonoide, Kalium, Cholin, Saponine und Schleimstoffe.

In der Homöopathie wird Marrubium bei Entzündungen der Atemwege eingesetzt, in der Phytotherapie besonders bei Hautverletzungen, Geschwüren und Ekzemen.

Sein Verbreitungsgebiet erstreckt sich über ganz Mittel- und Nordeuropa mit Ausnahme der deutschen Alpen und der Mittelgebirge. Des Weiteren kommt Andorn kaum in Küstengebieten vor.

Der schon in vorchristlicher Zeit, bei Theophrast und den Hippokratikern, später auch bei Dioscorides, Plinius, Galenus u.a. neben »Prasion« bzw. »Prassium« auftauchende Name Marrubium für verschiedene Marrubiumarten soll sich scheinbar vom Hebräischen »mar« – »bitter« – und »rob« – »viel, sehr« – herleiten. Der Botaniker Linné leitete den Namen allerdings von Maria-Urbs, einer Stadt am Fuciner See im Latium, ab. Albert C. Baugh und Thomas Cable, zwei englische Sprachwissenschaftler, schlagen vor, dass Marrubium vom inselkeltischen »marufie«193 herrührt, was offensichtlich so viel wie »haarig« bedeutet. Diese Behauptung unterlegen sie mit dem volkstümlichen englischen Namen des Krautes »horehound«, der sich eindeutig vom angelsächsischen »hore« – »haarig« – herleitet. Im Rahmen der Unterdrückung der Kelten durch die Angelsachsen wäre das eine Wort durch das andere ersetzt und erst später wieder als »maruffium« beziehungsweise »marrubium« mit den normannischen Eroberern und Wilhelm auf die Insel rückgeführt worden. Ob Andorn vielleicht eine Verballhornung von »ohne Dornen« ist, bedarf noch der Klärung. Der Sprachwissenschaftler Lehmann glaubt eher, dass Andorn sich von dem Sanskritwort »andhà« – »dunkel, blind« – herleiten könnte.

Auf die Heilkräfte der Pflanze beziehen sich verschiedene volkstümliche Namen, die in Österreich gebräuchlich sind, wie Brustkraut, Helfkraut und Gotteshilfkraut. Für seine Wirksamkeit und seinen traditionellen populärmedizinischen Einsatz gegen Frauenkrankheiten spricht sowohl der Name »Mutterkraut« als auch »Mariennessel«.

Der Andorn zählt zu den ältesten durch Überlieferung bekanntgewordenen Arzneipflanzen. Im alten Ägypten spielte er bereits eine große Rolle als Antidot sowie bei Krankheiten der Atmungsorgane. Hierauf spielt auch der im Mittelalter für die Pflanze gebräuchliche Name »Same des Horus« an. Nach Dioscorides sind die Samen und die Blätter, mit Wasser gekocht, gut gegen Phthisis, Asthma und Husten, die Blätter mit Honig als heißer Breiumschlag gegen fressende Geschwüre und Seitenschmerzen. Celsus und Alexander von Tralles empfehlen den Andorn gegen Krankheiten der Lungen. Der Arzt Castor Antonius benutzte den Saft mit Honig gegen geschwürige Lungenschwindsucht. Antonius Musa verband Marrubium mit Myrrhe bei inneren Abszessen. Die Kräuterbücher des Mittelalters bezeichnen ihn als Mittel gegen Lungenkrankheiten, Verstopfung, ausbleibende Menstruation, Gelbsucht, Schuppen, Flechten und Seitenstechen. Von Hippokrates wurde der Andorn als Wundmittel gebraucht, während ihn Paracelsus sehr vernünftig als »die Arznei der Lunge« bezeichnet. Die Drüsen der Atemwege werden insbesondere durch den Inhaltsstoff Marrubin zur Sekretion angeregt, allerdings ohne Brechreiz auszulösen. Lonicerus rühmt ihn als Heilmittel gegen die Schwindsucht und ebenfalls als Expektorans. Gleichzeitig warnt er jedoch davor, Marrubium bei Patienten mit Blasenleiden anzuwenden. Auch Bock und Matthiolus schildern seine äußerst vielseitigen Heilkräfte, insbesondere seine Wirkung auf die Atmungsorgane. Die in der Volksmedizin Südfrankreichs übliche Anwendung bei Wechselfieber/Sumpffieber wurde bereits in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts klinisch als berechtigt bestätigt. Dadurch wurde die Pflanze sogar zu einer Alternative für Fälle, in denen Chinin nicht eingesetzt werden konnte. Gute Erfolge sah man auch bei an Typhus und Paratyphus erkrankten Patienten.

Die Druiden-Ärzte Galliens verwendeten Andorn auch im Bereich der Geburtshilfe. An dieser Stelle möge der Leser sich daran zurückerinnern, dass die Medizin der Druiden eine natur-magische Medizin war und ist: Andorn gehört wie Johanniskraut zu den klassischen Sommersonnwendkräutern der Kelten. Diese Zugehörigkeit und das rein weißmagische Element, das sämtliche Sonnwendkräuter – ungeachtet der Christianisierung – bis zum heutigen Tag behalten haben, lässt diesen Einsatz in der Frauenmedizin noch zusätzlich logisch erscheinen. Über das Potential von Marrubium, das Ausstoßen der Plazenta zu erleichtern und zu beschleunigen, schreibt noch Dr. G. Madaus in seinem »Lehrbuch der biologischen Heilmittel« von 1935. Vermutlich verwendeten die Druiden-Ärzte, ähnlich wie von Madaus vorgeschlagen, einen Kaltauszug, der der Gebärenden eingeflößt wurde, genauso, wie heute viele Geburtskliniken den Müttern systematisch ein Wehenmittel verabreichen, um den Ausstoß der Plazenta zu beschleunigen. Darüber hinaus wurde Marrubium noch verräuchert, um die Mutter – von den Geburtsanstrengungen geschwächt – und den Säugling vor Behexungen und negativen Einflüssen durch Dritte oder Geister zu beschützen. Dieser Brauch, mit Marrubium Verhexungen und negative Energien auszuräuchern, hat sich bis zum heutigen Tage im Volksglauben vieler Gegenden gehalten.

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