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a) Mädchen und Jungen: Überlebenschancen und Entwicklungsperspektiven

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Die im Vergleich zur erwachsenen Bevölkerung sehr hohe Sterblichkeit von Kindern im Mittelalter wird durch schriftliche Zeugnisse wie durch anthropologisch-archäologische Daten zweifelsfrei belegt. Auch wenn auf vielen Friedhöfen insbesondere des Frühmittelalters Kleinkinder schwächer vertreten sind, als zu erwarten ist, kann man veranschlagen, dass jedes zweite Kind starb. Für das Überleben spielten die Umwelt- und Sozialverhältnisse, vor allem die Bewältigung von Infektionen und Ernährungsproblemen sowie der elterliche Fürsorgeaufwand, eine zentrale Rolle. Während der Kindheits- und Jugendjahre gab es besonders krisenhafte Phasen, erkennbar etwa mit dem Auslaufen der Stillzeit im Alter von ungefähr zwei Jahren, vielleicht auch nach dem siebten Lebensjahr, wenn im Zusammenhang mit |9|dem Eintritt ins Arbeitsleben die Unfallgefahr gestiegen sein mag. Mit dem siebten Lebensjahr war nach mittelalterlichem Verständnis die Kindheit im engeren Sinn abgeschlossen. Im Alter von etwa 10 bis 14 Jahren wiederum waren Kinder bzw. Jugendliche im Vergleich zur Gesamtbevölkerung besonders „gesund“: Sie hatten die Kindheitsrisiken überlebt und die Gefahren des Erwachsenenalters noch vor sich. Das juvenile Alter bis etwa 20 Jahre war durch eine im Vergleich zur Kindheit und zum frühen Erwachsenenalter („frühadult“, ca. 20 bis 30 Jahre) ausgesprochen niedrige Sterblichkeit gekennzeichnet.

unterschiedliche Überlebenschancen von Mädchen und Jungen?

Welche Rolle der Faktor Geschlecht für das Überleben von Kindern spielte, ist eine kontroverse Frage, bei deren Beantwortung die verschiedenen Disziplinen auf Hypothesen angewiesen sind. Die anthropologische Geschlechtsbestimmung anhand der Skelette oder Zähne von Kindern im vorpubertären Alter bzw. im Milchzahnalter ist methodisch schwierig, so dass bis in die jüngste Zeit meistens darauf verzichtet wurde. Eindeutige Aussagen ermöglicht dagegen die archäologische Geschlechtsbestimmung anhand geschlechtsbezogener Grabbeigaben, mit denen Verstorbene auf sogenannten Reihengrabfriedhöfen der Merowingerzeit vom 5. bis zum 8. Jahrhundert bzw. in slawischen Gebieten im 9. und 10. Jahrhundert ausgestattet wurden, bevor dieser Brauch mit der Entstehung kirchlicher Friedhöfe aufgegeben wurde. Da bei Weitem nicht alle Bestatteten Beigaben erhielten, können allerdings auch auf diesem Weg nicht alle Gräber geschlechtsmäßig zugeordnet werden. Für Schlussfolgerungen hinsichtlich einer unterschiedlichen oder gleichen Sterblichkeit von Knaben und Mädchen müssen daher schriftliche Quellen, am besten viele verschiedene Textsorten, ausgewertet werden, wobei ein beträchtlicher Interpretationsspielraum besteht.

Zweifellos war während des ganzen Mittelalters bei Eltern aller sozialen Schichten (das heißt ungeachtet der Unterschiede von Besitz, Prestige und Macht) in der Regel die Geburt eines Sohns und künftigen Erbens willkommener als die einer Tochter.

Q

Bericht über ein Wunder der heiligen Verena von Zurzach († 344)

Der im frühen 11. Jahrhundert verfasste Bericht lässt erkennen, wie wichtig für adlige Frauen die Geburt eines männlichen Erben war. Die hagiographische Darstellung spiegelt zugleich das kirchliche Wohlwollen gegenüber Gebeten kinderloser Eheleute um Nachwuchs. Das Geschehen wird hier dramatisch so zugespitzt, dass die Leistung der Heiligen in möglichst hellem Licht erstrahlt.

Aus: Adolf Reinle: Die heilige Verena von Zurzach. Legende, Kult, Denkmäler, Basel 1948, Mirakelbuch, Kapitel VI, S. 52f.

Eine vornehme Matrone im Elsass, schon lange mit einem Manne vermählt, war unfruchtbaren Leibes. Sie begann inständig den Namen der heiligen Odilia anzurufen, damit sie durch deren Güte ein Kind erhielte. Ihr Leib vergrößerte sich durch eine Empfängnis, und sie gebar eine Tochter. Sie sah, dass das Kind ein Mädchen war; sie wollte aber einen Knaben haben und hörte nicht auf, die Hilfe der Jungfrau zu erflehen. Von neuem empfangend, gebar sie eine zweite Tochter, die sie sehr verabscheute. Aber sie ließ nicht ab, die heilige Odilia zu bitten. Doch nach der dritten Empfängnis gebar sie eine dritte Tochter. Als sie dies erkannte, fiel sie auf ihr Schmerzenslager und konnte von niemandem getröstet werden. Und da sie nicht erhört worden war, lag sie halbtot am Boden. Es kam aber die heilige Odilia, die sich ihres Elends erbarmte, und tröstete sie mit sanften |10|Worten: „Warum tust du so? Was denkst du so unvernünftig? Was du von mir erbatest, tat ich, soweit ich konnte. Aber wenn du Söhne haben willst, so bitte die heilige und verehrungswürdige Jungfrau Verena. Diese nämlich, nicht ich, hat die Gnade, Söhne und Töchter zu schenken.“ Dies sagend entschwand sie ihren Augen. Die genannte Matrone aber nahm ihre Kräfte zusammen, rief die Priester jenes Ortes und erfragte von ihnen, wo der Leib der heiligen Verena ruhe. Nach ihrem Rate diente sie daraufhin der heiligen Verena alle Tage ihres Lebens. Sie begann beständig und ohne Unterlass den Namen der heiligen Jungfrau Verena um einen Knaben anzuflehen. Sie empfing und gebar bei der lange erwarteten Niederkunft durch ihr Erbarmen Zwillinge, zwei Söhne. Von vielen noch könnten wir die Namen nennen, aber es ist nicht notwendig, sie einzeln zu beschreiben. Denn noch heute sind ihrer viele, die um die gleiche Gnade bitten.

Aus dieser Haltung heraus könnten Eltern, zumal wenn sie viele Kinder aufzuziehen hatten, Töchter weniger intensiv versorgt haben als Söhne. Vor allem in Notlagen mag sich ein „ungleicher Fürsorgeaufwand“ bzw. ein „differentielles Elterninvestment“, wie es in der Soziobiologie heißt, spürbar zugunsten von Söhnen ausgewirkt haben. Bezeichnenderweise waren unter den Kindern, die seit dem Frühmittelalter in italienischen Städten in Findeleinrichtungen gegeben wurden, deutlich mehr Mädchen als Jungen. Für Familien im mittelalterlichen Deutschland wurden bisher keine Unterschiede ermittelt, was die Pflege, Ernährung und emotionale Zuwendung für Töchter und Söhne angeht. Hingegen zeigten florentinische Eltern in der Renaissance die Neigung, männliche Säuglinge zu Hause, unter eigener Aufsicht von teueren Ammen versorgen zu lassen und weibliche Säuglinge zu preiswerteren Ammen aufs Land zu schicken. Ungleichen Fürsorgeaufwand seitens der Eltern erfuhren (und erfahren) Kinder allerdings auch entsprechend der Rangfolge ihrer Geburt, als ältere oder jüngere Geschwister.

Mädchentötung im Frühmittelalter verbreitet?

Wenngleich sich wenig Anhaltspunkte dafür finden, dass wegen der offenkundigen Bevorzugung von Knaben- gegenüber Mädchengeburten Eltern ihre Töchter vernachlässigten und damit deren Überlebenschancen schmälerten, wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren in geschichtswissenschaftlichen wie in archäologisch-anthropologischen Publikationen die These verfochten, im Frühmittelalter seien gezielt und regelmäßig Mädchen getötet worden. Mit der Tötung von Neugeborenen, vor allem von neugeborenen Mädchen, und deren Beseitigung außerhalb von Friedhöfen sollte aus Sicht einiger Forscher das als „Kleinkinderdefizit“ bezeichnete Phänomen erklärt werden, dass auf vielen frühmittelalterlichen Friedhöfen deutlich weniger bestattete Kinder gefunden wurden, als ihr großer Anteil an der Bevölkerung und die hohe Kindersterblichkeit erwarten lassen. Inzwischen wurde demgegenüber plausibel argumentiert, die Untervertretung von Säuglingen und Kleinkindern sei vor allem darin begründet, dass diese vor dem Hintergrund zeitgenössischer religiöser und magischer Vorstellungen gesondert, das heißt abseitig oder außerhalb des Friedhofs, bestattet wurden.

Auch der vermeintliche Männerüberschuss in der lebenden Bevölkerung, der sich auf einzelnen Gräberfeldern sowie in Polyptycha der Karolingerzeit abzuzeichnen scheint (vgl. S. 17), wurde auf Mädchentötungen zurückgeführt. Polyptycha sind Güterverzeichnisse von klösterlichen und adligen Grundherrschaften, die den Landbesitz, die zu erwartenden Einnahmen und die dort lebenden und arbeitenden abhängigen Personen – Haushaltsvorstände |11|von Höfen bzw. Herdstellen, deren Ehefrauen, Kinder, Knechte und Mägde – aufführen. Aus der Überzahl von Männern und Jungen gegenüber Frauen und Mädchen, die am Polyptychon von St. Germain-de-Prés errechnet wurde, ergab sich die Schlussfolgerung, dass neugeborene Mädchen getötet oder ausgesetzt wurden, um je nach der Größe der Höfe und der Bewohnerzahl die Anzahl der dort lebenden Frauen zu regulieren. Die Mädchen hätten den Bauern als eine Belastung ihrer hart erarbeiteten Lebensgrundlage gegolten. Ihr zukünftiger Arbeitsbeitrag sei als gering eingeschätzt worden, und man habe die Mitgift sparen wollen. In weiteren Untersuchungen von Polyptycha zeigte sich demgegenüber, dass die ungenaue Art der Personenerfassung in diesen Aufzeichnungen (Männer wurden gelegentlich doppelt, Mädchen als Jungen verzeichnet usw.) demographische Schlüsse erschwert, dass ein allgemein verbreiteter Männerüberschuss in Grundherrschaften auf dieser Basis nicht angenommen werden kann und dass lokal bestehende Ungleichgewichte auf den Höfen mit der höheren Mobilität von Frauen erklärt werden können. Letztlich fehlen somit sämtliche Indizien für eine verbreitete Praxis der Mädchentötung im Frühmittelalter.

Selbst aus der Übergabe von Mädchen an Findelinstitutionen spricht eher der Wille, sie versorgt zu wissen, als mangelndes Interesse. Eine grundsätzliche rechtlich-soziale Geringschätzung oder Missachtung von Mädchen, wie sie aus Gesellschaften bekannt ist, die gezielt die weiblichen Nachkommen dezimieren, scheint es nicht gegeben zu haben. Gleichwohl nahmen Mädchen aufgrund ihres Alters und Geschlechts in der frühmittelalterlichen Gesellschaft, für die nicht Gleichheit, sondern Ungleichheit ein Grundprinzip war, einen nachgeordneten Rang ein. In den frühmittelalterlichen Stammesrechten (Leges) wird bei der Wertschätzung von Frauen unter anderem nach Lebensabschnitten differenziert in Verbindung mit dem Kriterium der Gebärfähigkeit. Ein freies, noch nicht gebärfähiges junges Mädchen (puella ingenua, antequam infantes habere possit) hat daher nach dem Pactus legis Salicae ebenso wie eine ältere, nicht mehr gebärfähige Frau „nur“ das gleiche Grundwergeld wie ein freier Mann, das heißt ihre Tötung soll mit 200 solidi gebüßt werden. Bei der Tötung einer freien Frau im gebärfähigen Alter wird dagegen das dreifache Wergeld in Höhe von 600 solidi fällig.

mittelalterliche Haltungen gegenüber Kindern und Kindestötungen

Fraglos kamen Kindestötungen während des ganzen Mittelalters vor, aber wohl nicht im Sinne einer verbreiteten Maßnahme der Familienplanung, sondern vielmehr als Ultima Ratio in schwierigen Lebenslagen. Vereinzelten Nachrichten über die Tötung missgebildeter Kinder stehen weitaus mehr Belege dafür gegenüber, dass körperlich beeinträchtigte, pflegebedürftige Töchter und Söhne innerhalb der Familie aufgezogen oder Klöstern und Stiften überantwortet wurden. Motive dafür, unehelich geborene Kinder heimlich zu beseitigen, entstanden erst im Spätmittelalter, als sich, vor allem im zünftig verfassten städtischen Handwerk, die Auffassung von Illegitimität als gesellschaftlichem Makel verstärkte. Die zunehmende Zahl von Kleinkindern auf hochmittelalterlichen Friedhöfen ist eher mit religiös bedingten Veränderungen des Bestattungsbrauchtums zu erklären als damit, dass Kinder jetzt höher geschätzt und seltener getötet worden seien. Zwar wandelten sich durchaus gesellschaftliche Einstellungen und rechtliche Normen. Während das germanische Recht unter bestimmten Umständen die Tötung neugeborener Kinder erlaubt hatte und in frühmittelalterlichen |12|weltlichen Rechtsvorschriften die Tötung des eigenen Kindes kaum vorkam – allein das im 9. Jahrhundert aufgezeichnete friesische Recht gestattete der Mutter die bußlose Tötung unmittelbar nach der Geburt –, wurde im Zuge der Verchristlichung der Gesellschaft die Handlung als Delikt aufgefasst und kriminalisiert. Aus wiederholten kirchlichen, vom späten Mittelalter an auch aus weltlichen Verboten und Strafandrohungen kann jedoch nicht ohne Weiteres auf die Verhaltensweisen, die mit wachsender Intensität reglementiert und kontrolliert werden sollten, geschlossen werden. Besonders problematisch erscheint in diesem Zusammenhang die in kirchlichen normativen Texten wie Bußbüchern oder Konzilsbeschlüssen wiederholte Unterstellung, dass Mütter bzw. Eltern ihre Säuglinge im Schlaf absichtlich oder fahrlässig durch Erdrücken erstickten (oppressio infantium). Die dafür vorgesehenen Bußen (Fasten bei Wasser und Brot) richteten sich danach, warum das Kind von der Mutter bzw. den Eltern ins Bett mitgenommen worden war (zum Warmhalten und zum Schutz gegen Tiere oder aus Bequemlichkeit beim Stillen?), ob die Eltern sich achtlos und grob verhielten, betrunken waren usw. Abgesehen davon, dass die meisten Eltern gar keine andere Wahl hatten, als die Schlafstätte mit den Kindern zu teilen, hat die Bettgemeinschaft von Mutter und Kind nach heutigen medizinischen Erkenntnissen gewisse Vorteile für beide, weil damit ein eher leichter Schlaf verbunden ist. Es ist daher schwer vorstellbar, dass dabei Kinder durch Unfälle zu Tode kamen. Der Umstand, dass die Kindeserdrückung in weltlichen Rechtstexten nicht erwähnt wird, verstärkt die Zweifel, ob solche Vorfälle in der Grauzone von Tötung und Unfall tatsächlich wie behauptet in der Lebenswirklichkeit öfter geschahen.

Unfallgefährdung von Jungen und Mädchen

Fast allgegenwärtige Gefährdungen stellten für Kinder dagegen Unfälle im Haus und auf der Straße, beim Spiel und bei der Arbeit dar. Auch wenn die Überlieferung keine Unfallstatistiken zulässt, deutet sie darauf hin, dass von einem bestimmten Alter an Jungen größeren Risiken, verletzt zu werden oder umzukommen, ausgesetzt waren als Mädchen. In den ersten Lebensjahren wurden Töchter und Söhne gemeinsam im Umfeld von Müttern, Ammen und weiblichen Haushaltsmitgliedern aufgezogen. Soweit in diesem Alter ihre Spiele, Aufenthaltsorte und ihr Bewegungsradius übereinstimmten, drohte ihnen in ähnlichem Maß die Gefahr von Stürzen, Verbrennungen oder Ertrinken. Nach dem Kleinkindalter setzte eine deutlicher geschlechtsspezifisch orientierte Sozialisationsphase ein, in der Kinder stärker auf eine weibliche bzw. männliche Geschlechtsidentität, die entsprechenden Rollen und künftigen Arbeitstätigkeiten hin geprägt wurden. Sowohl bei ihren Spielen als auch beim Erziehungs- und Ausbildungsprogramm bzw. bei ihrer Integration ins Arbeitsleben wurden Mädchen jetzt stärker ans Haus gebunden als Jungen. Je nach Herkunft und Lebensort (Stadt, Land, Adelshof) verrichteten sie vielfältige Tätigkeiten im Haus und seiner Umgebung, vor allem bei der Textilherstellung, der Kleintierhaltung, der Beaufsichtigung kleinerer Kinder. Sie besuchten, wenn überhaupt, nur wenige Jahre die Schule für eine Elementarausbildung und blieben auch während der Absolvierung einer Lehre meistens in ihrer Heimatstadt. Jungen waren demgegenüber insgesamt mobiler: bei ihren nach draußen gerichteten Bewegungs- und Waffenspielen sowie beim sportlich-militärischem Training, beim Viehhüten und in der Waldwirtschaft, beim Unterwegssein in der |13|Fremde als Schüler, Student, Lehrling, Geselle, Knappe, auf Kavalierstour von Hof zu Hof oder, in begleitender oder kämpfender Funktion, bei Kriegszügen. Mit diesen weiter ausgreifenden, zum Teil gefährlichen Aktivitäten verband sich ein höheres Unfallpotential.

Allerdings sollte beim Abwägen von geschlechtsspezifischen Gefährdungen im Zuge der Sozialisation berücksichtigt werden, dass der Werdegang von Kindern desselben Milieus viele Übereinstimmungen aufwies: Bäuerliche Mädchen und Jungen arbeiteten auf dem Feld, hüteten Tiere und verrichteten körperlich schwere Tätigkeiten, adlige Töchter erlernten ebenso selbstverständlich das Reiten und Jagen wie ihre Brüder, Söhne wie Töchter aus verschiedenen sozialen Schichten wurden von den Eltern, zumal bei hoher Kinderzahl, in den Haushalt von Verwandten gegeben, die sie erzogen, ausbildeten und als Arbeitskräfte einsetzten. Auch könnte die Überzahl an dokumentierten Unglücksfällen von Knaben mit dem Ungleichgewicht der Quellen zusammenhängen. Autobiographische Erinnerungen an eigene Kindheitserlebnisse, wie die von Johannes Butzbach (1477 – 1516), Thomas Platter (1499 – 1582), Girolamo Cardano (1501 – 1576) oder Hermann Weinsberg (1518 – 1597) lebendig geschilderten Unfälle, Strapazen, Misshandlungen und sonstigen Leiden, stammen fast ausschließlich von männlichen Verfassern. Weitere ergiebige Quellen wie die zahlreich überlieferten Wunderberichte, die tendentiell mehr Heilungen verunglückter oder kranker Jungen als von Mädchen verzeichnen, spiegeln nach Ansicht mancher Historiker vor allem die unterschiedliche gesellschaftliche Wertschätzung der Geschlechter und sind daher statistisch mit Vorsicht zu betrachten. Immerhin bestätigen Gerichtsprotokolle aus England den Eindruck aus Wunderberichten, dass sich im spätmittelalterlichen ländlichen Leben vor allem Unfälle von Knaben häuften. Gewiss waren männliche Jugendliche häufiger als weibliche in gewalttätige Auseinandersetzungen verstrickt, als Täter wie als Opfer. Damit sind hier nicht körperliche Züchtigungen seitens der Eltern und Lehrer gemeint, deren Härte sowohl unter Erziehungstheoretikern wie zwischen Eltern und Lehrern umstritten war. Mögen solche Schläge Mädchen und Jungen im Kindesalter noch unterschiedslos getroffen haben – auch wenn fast alle überlieferten Anekdoten von geprügelten Knaben handeln –, so war Gewalt im weiteren männlichen Sozialisationsgang geradezu als fester Bestandteil verankert. Bei den Gespannen älterer und jüngerer Schüler, die gemeinsam auf Wanderschaft zum Besuch von Schulen und Universitäten gingen, wurden die jüngeren von den älteren ausgebeutet und misshandelt. Für Studienanfänger war ein brutaler Initiationsritus unter Kommilitonen vorgesehen, über dessen tatsächliche Durchführung wenig bekannt ist. Während des Studiums scheinen trotz aller Verbote Schlägereien, bewaffnete Übergriffe und Alkohol befeuerte Exzesse an der Tagesordnung gewesen zu sein. Lehrlinge und Gesellen durften vom Meister mit Schlägen gezüchtigt werden, solange ein gewisses Maß gewahrt blieb – ein Meisterrecht, das Konflikte zusätzlich schürte. Zusammenschlüsse von Jugendlichen im Handwerk randalierten und gingen gewalttätig gegen Außenstehende und andere Gruppen wie etwa Studenten vor. In den Oberschichten schließlich stand bei der Aneignung des adlig-männlichen Habitus die physische und mentale Gewaltfähigkeit geradezu im Zentrum.

frühe Schwangerschaften, Heiratsalter von Mädchen

|14|Den Gefährdungen von Jungen im Kindes- und Jugendalter stand auf der Seite junger Mädchen das Risiko früher Schwangerschaften gegenüber. Schwangerschaften während der Adoleszenz gelten in der heutigen medizinischen Diskussion als hohe Belastung für den sich noch entwickelnden weiblichen Organismus und als komplikationsträchtig. Mangels anthropologischer Daten lässt sich für die breite Bevölkerung schwer abschätzen, ab welchem Alter Mädchen konzeptionsfähig waren, ob viele Heranwachsende schwanger wurden und ob viele von ihnen während der Schwangerschaft oder im Kindbett verstarben. Das durchschnittliche Alter von Mädchen bei ihrer ersten Heirat könnte Anhaltspunkte liefern für den Beginn zumindest des innerehelichen „kindens“ – das Austragen, Gebären und Aufziehen von Kindern –, doch es ist für den größten Teil der Bevölkerung nicht zu ermitteln. Sicher waren die meisten Bräute bis ins Spätmittelalter deutlich unter 20 Jahren. Spricht aus dem frühmittelalterlichen weltlichen Recht die Annahme einer Gebärfähigkeit ab etwa zwölf Jahren, so schrieb auch das Kirchenrecht ein Mindestalter von zwölf Jahren für Mädchen bei der Heirat vor (gegenüber 14 Jahren für Knaben), und nach dem weltlichen Recht wurden vielerorts Mädchen mit zwölf Jahren mündig, damit aber nicht notwendig sogleich auch ehemündig.

Kulturell und biologisch bedingt dürften einige Unterschiede zwischen jungen Mädchen verschiedener sozialer Schichten geherrscht haben, was Schwangerschaften und Heiraten anging. So wird der Eintritt der Menarche durch hohe körperliche Belastung verzögert, und auch die Ernährung beeinflusst den Hormonstatus. Mädchen aus privilegierten Kreisen waren daher körperlich eventuell eher „reif“ für eine Empfängnis. Aufgrund ihrer allgemeinen Lebensumstände waren sie wohl auch den Belastungen einer Schwangerschaft eher gewachsen. Die für den spätmittelalterlichen Hochadel günstige Quellenlage erlaubt es, Tendenzen des generativen Verhaltens in dieser Gruppe zu skizzieren. Adlige Eltern waren bestrebt, ihre Kinder so früh wie möglich zu verheiraten, um die mit der Heirat verbundenen politischen Allianzen zu sichern. Sie orientierten sich daher am kirchenrechtlichen Mindestalter von zwölf Jahren für heiratende Mädchen. Zugleich wollten sie ihre Töchter vor Schwangerschaften und Geburten in diesem Alter schützen. Mit 14 Jahren hingegen erschienen ihnen die Mädchen offenbar weit genug entwickelt, eine Schwangerschaft zu wagen. Deshalb fand entweder die Hochzeit samt dem Beilager erst in diesem Alter statt, oder aber es wurde zunächst nur die Trauung durchgeführt, während sexueller Verkehr bis zum Erreichen des 14. Lebensjahrs unterbleiben sollte. Tatsächlich gebaren auffällig viele königliche und adlige Frauen ihr erstes Kind mit etwa 14 Jahren.

Gegen Ende des Mittelalters stieg nicht nur im Adel, sondern generell das Heiratsalter von Frauen und Männern deutlich an. Forschungsthesen zufolge sollte mit einem höheren Heiratsalter von Frauen ein Rückgang der Kinderzahlen angestrebt werden; zugleich sei daran eine zunehmende Ablehnung früher Schwangerschaften durch den Adel abzulesen. Während dies angesichts der nachweislichen Vielzahl „junger Mütter“ im Adel überzeugt, muss offenbleiben, inwieweit Erkenntnisse zum Adel auf andere Bevölkerungsgruppen übertragbar sind. Beim gegenwärtigen Forschungsstand deuten die meisten errechneten Sterblichkeitskurven eher darauf hin, dass |15|junge Frauen zwischen 15 und 20 Jahren die riskantesten Jahre noch vor sich hatten.

Frauen und Männer in der Gesellschaft des Mittelalters

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