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b) Lebenserwartung und Sterblichkeit von Frauen und Männern

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Anders als Neugeborene konnten Menschen im Alter von 20 Jahren damit rechnen, deutlich älter als 30 Jahre zu werden. Eine mittlere Lebenserwartung für die gesamte erwachsene Bevölkerung in Zahlen anzugeben, ist problematisch wegen der großen Abweichungen in verschiedenen Zeitabschnitten, Regionen und Lebenskreisen. Die städtische Lebensweise etwa bedeutete in hygienischer Hinsicht eine Verschlechterung, in puncto Ernährungsvielfalt eine Verbesserung der Lebensbedingungen gegenüber dem Landleben. Adlige Männer hatten dank ihrer besseren Konstitution (Körpergröße, Ernährung, Training) die Aussicht auf eine längere Lebensspanne als sich bei der Arbeit verschleißende Männer der unteren Schichten; in Klöstern mit gesicherter Versorgung lebende Frauen und Männer erreichten eher ein sehr hohes Alter von 80 und mehr Jahren als Laien in der Welt. Die Demographien einzeln ausgewerteter Gräberfelder weichen stark voneinander ab, Bevölkerungsvergleiche fehlen noch weitgehend.

Sterblichkeitsunterschiede der Geschlechter je nach Altersstufe

Umstritten ist auch, ob bzw. in welchem Maß es Sterblichkeitsunterschiede der Geschlechter gab. Auf den meisten Gräberfeldern zeichnet sich ab, dass Männer im Durchschnitt mehrere Jahre älter wurden als Frauen. Exemplarisch lässt sich das an einem hoch- und einem spätmittelalterlichen Friedhof bei der Stadtkirche St. Johann in Schaffhausen ablesen. Hier konnte ein 20-jähriger Mann damit rechnen, knapp 58 Jahre alt zu werden, während eine 20-jährige Frau erwarten konnte, knapp 50 Jahre alt zu werden. Das Schaffhausener Beispiel führt, neben einem beträchtlichen Sterblichkeitsunterschied, vor Augen, dass die hier bestatteten Stadtbewohner beiderlei Geschlechts – Angehörige der Oberschicht? – eine recht hohe Lebenserwartung hatten, gemessen an gängigen Vorstellungen von der Kurzlebigkeit mittelalterlicher Menschen. Es ist jedoch noch einmal zu betonen, dass andere Gräberfelder abweichende Sterblichkeitsverhältnisse anzeigen.

Die geringere Lebenserwartung von Frauen gegenüber Männern resultierte daraus, dass bis zum Alter von ungefähr 40 Jahren proportional mehr Frauen als Männer starben. Im Alter zwischen 20 und 30 Jahren („frühadult“), einer für beide Geschlechter riskanten Lebensphase, war die „Übersterblichkeit jüngerer Frauen“ besonders ausgeprägt. Ab etwa 40 Jahren kehrte sich der Trend um. Jetzt gab es einen Anstieg der Sterblichkeit bei den Männern zwischen 40 und 50 Jahren („frühmatur“) hin zu einem sogenannten zweiten Sterbegipfel, während die Frauensterblichkeit in der Altersgruppe der 40- bis 60-Jährigen kontinuierlich abnahm. Ab 50 Jahren sank dann auch die Männersterblichkeit, bis sie im Alter von etwa 60 Jahren der Frauensterblichkeit ungefähr entsprach.

Die Lebenserwartung von Frauen und Männern variierte also je nach der Altersstufe. Bei den Frauen deuten das „Sterbemaximum“ im Alter zwischen 20 und 30 Jahren sowie der deutliche Rückgang der Sterblichkeit in dem Alter, in dem möglicherweise die „reproduktive Phase“ ausklang, darauf hin, dass ihre Überlebenschancen als jüngere Erwachsene vor allem davon abhingen, wie sie Schwangerschaften und Geburten bewältigten. Hinsichtlich |16|der hohen Sterblichkeit jüngerer Männer zwischen 20 und 30 Jahren und reiferer Männer zwischen 40 und 50 Jahren kann man mutmaßen, dass sich bei der ersten Gruppe überdurchschnittliche Arbeitsbelastung, Unfälle sowie Gewalthändel, bei der zweiten Gruppe degenerative Erkrankungen infolge starker körperlicher Beanspruchung und generelle Erschöpfung auswirkten. Infolge der unterschiedlichen Sterblichkeitsentwicklung im Lebenslauf war das zahlenmäßige Geschlechterverhältnis in den einzelnen Altersgruppen verschieden. Wie erwähnt, führte die hohe Sterblichkeit von Frauen zwischen 20 und 40 Jahren zu einem Männerüberschuss in der Altersgruppe der 40- bis 60-Jährigen.


Abb. 2: Altersverteilung der auf dem Spitalfriedhof in Heidelberg bestatteten und anthropologisch untersuchten Individuen (249 Personen). Ab einem Alter von etwa 15 bis 19 Jahren konnte das Geschlecht ermittelt werden. Obwohl die Belegung eines Spitalfriedhofs keinen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt spiegelt, zeigt die hier errechnete Kurve große Übereinstimmungen mit Kurven anderer Gräberfelder. Aus: Joachim Wahl: Der Heidelberger Spitalfriedhof, in: Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300, S. 479 – 82, hier S. 481.

„Männerüberschuss“, „Frauenüberschuss“

|17|In der Forschung wurde lange und intensiv erörtert, ob, über die mäßigen Verschiebungen der Geschlechterrelation innerhalb der Alterspyramide hinaus, ein deutlicher Männerüberschuss in der ländlichen Bevölkerung des Frühmittelalters und ein ausgeprägter Frauenüberschuss in spätmittelalterlichen Städten bestanden und welche bevölkerungsbiologischen, ökonomischen und soziokulturellen Faktoren für eine solche Unausgewogenheit verantwortlich gewesen sein könnten. Während sich der anhand von Polyptycha errechnete generelle Männerüberschuss auf frühmittelalterlichen Domänen verflüchtigt hat (und somit der These vom verbreiteten Mädcheninfantizid weitgehend der Boden entzogen wurde), diskutiert die Grundherrschaftsforschung weiterhin unter anderem die Unterschiede zwischen abhängigen bäuerlichen Wirtschaftsbetrieben (tendentiell mehr Männer) und Herrenhöfen (tendentiell mehr Frauen).

Beim Vergleich vorkirchlicher und kirchlicher, älterer und jüngerer, kleinerer und größerer Gräberfelder bis zum 11. Jahrhundert ergibt sich kein einheitliches Bild. Unausgeglichene Relationen mit einem Mehr an Männern oder auch an Frauen finden sich ebenso wie ein tendentiell ausgeglichenes Geschlechterverhältnis. Insgesamt sind Männer unter den Bestatteten leicht überrepräsentiert. Daraus kann man vorsichtig auf ein Überwiegen von Männern in der lebenden Bevölkerung schließen – vorausgesetzt, dass nicht durch Bestattungsbräuche oder die unvollständige Ergrabung bzw. anthropologische Bestimmung von Gräberfeldern die Proportionen verschoben worden sind. Flächendeckende Ergebnisse liefern Grabungen selbstverständlich ebenso wenig wie die auf den fränkischen Raum zwischen Seine und Rhein konzentrierten Grundherrschaftsstudien.

Die ältere These eines allgemein erheblichen Frauenüberschusses in spätmittelalterlichen deutschen Städten wurde seit den 1980er-Jahren dahin gehend modifiziert, dass es durchaus auch Städte mit Männerüberschuss gab, dass das Geschlechterverhältnis sich in verschiedenen, durch Einwohnerzahl, Wirtschaftsstruktur, Berufsspektrum usw. bestimmten Stadttypen unterschied und dass es sich in Abhängigkeit von der Konjunktur und der weiteren Stadtentwicklung veränderte.

Geschlechterverhältnis und Migration

Entscheidend für die Entwicklung des Geschlechterverhältnisses in einer Siedlung war in erster Linie der Zuzug von Frauen und Männern von außen. Für die Bevölkerung von Neugründungen mit starker Zuwanderung in der frühen Aufbau- und Wachstumsphase dürfte charakteristisch gewesen sein, dass Männer zahlenmäßig überwogen und dass es nur wenige alte Menschen gab („Gründereffekt“). Im weiteren Verlauf hing der Zustrom von Frauen und Männern wesentlich davon ab, welche Arbeitsmöglichkeiten ihnen offenstanden. Eine hohe Mobilität von arbeitenden Männern, die als Lehrlinge, Gesellen, Tagelöhner, Knechte, Kaufleute unterwegs waren, galt in der Forschung stets als verbürgt. Über die Migration von Frauen war lange wenig mehr bekannt, als dass diese zahlreich in die Städte zogen, um dort als Dienstboten ihr Auskommen zu finden. Eine starke Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften, die durch deren durchgehend geringere Bezahlung und einen Mangel an männlichen Arbeitskräften in Krisen- und Kriegszeiten gestützt wurde, kann zwar für einige Tätigkeitsfelder nachgewiesen werden; dies allein wird aber nicht einen beträchtlichen Frauenüberschuss verursacht haben.

|18|Weitere Aufschlüsse versprechen gender-orientierte Forschungen zur Migration und ihrer ökonomischen und sozialen Bedeutung. Mittlerweile wird genauer untersucht, wieweit das Migrationsverhalten von Frauen und Männern geschlechtsspezifisch und lebenszyklisch geprägt war. Unterschieden sich Frauen und Männer hinsichtlich ihrer Motive und Ziele, knüpften zum Beispiel Frauen eher als Männer an die Einwanderung die Hoffnung auf eine Heirat? Bevorzugten Frauen bestimmte Orte wie etwa größere Städte mit einer differenzierten Wirtschaftsstruktur, in denen sie besonders große Handlungsspielräume hatten? Waren Männer vorrangig in jüngeren Jahren unterwegs und ließen sich dann nieder, während Frauen auch in späteren Lebensphasen, etwa als Witwe oder als geflüchtete Ehefrau, migrierten? Zogen viele (Ehe-)Paare gemeinsam als „Arbeitspaar“ von Stadt zu Stadt? Hatten Männer einen weiträumigeren Bewegungsradius als Frauen? Gegenwärtig bleiben viele Überlegungen noch hypothetisch und bedürfen, gerade in Anbetracht der offenkundigen Bedeutung der Migration für das Geschlechterverhältnis, empirischer Überprüfung.

Die zunehmende Skepsis gegenüber der Aussagekraft von Bevölkerungsstatistiken für das Mittelalter und die Entwicklung neuer Fragestellungen haben dazu geführt, dass das Thema eines generellen Überschusses von Frauen oder Männern in den Hintergrund getreten ist. Das Interesse richtet sich mittlerweile stärker darauf, wie Frauen und Männer an verschiedenen Beziehungsnetzen, sozialen Gruppen und „Räumen“ teilhatten und darin agierten. Ihre zahlenmäßige Präsenz ist dabei nur ein Faktor neben anderen.

Frauen und Männer in der Gesellschaft des Mittelalters

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