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Die Formgebundenheit von Ritualen

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Die Bedeutung, die dem formalen Aspekt in verschiedenen Ritualdefinitionen zugeschrieben wird, divergiert allerdings: Je nach Forschungsinteresse kann die Form das Definiens schlechthin sein, während sie in substantiellen oder funktionalen Bestimmungen eine marginale oder überhaupt keine Rolle spielt. In bezug auf mittelalterliche Rituale ist die konstitutive Bedeutung ihrer Formalität primär für den Rechtsbereich konstatiert worden. So ist nach OGRIS „die enge Verknüpfung von Recht und Form als wesentliches Merkmal der älteren Zeit anzusprechen. Rechtsinhalt und Rechtsgestalt fielen zusammen, so daß nur das Recht war, was in feierlicher, gemessener, formelhafter, genormter und fixierter Gestalt kundbar, sichtbar und hörbar zutage trat“.13 Formgebundenheit darf aber, über Rechtsrituale hinausgehend, weit mehr als in der Neuzeit als Charakteristikum mittelalterlicher Rituale überhaupt gelten. Gerade im Blick auf eine Gesellschaft, deren staatliche Strukturen und soziale Institutionen sich grundlegend von denen der Neuzeit unterscheiden, in der Rituale einen „Brennpunkt der Wahrnehmung“14 darstellen und in der Verstöße gegen ihre Formen Anlaß zu Streitigkeiten und z. T. sogar kriegerischen Auseinandersetzungen geben konnten, muß SOEFFNERS Hinweis, daß die Form von Ritualen selbst für deren Inhalt stehe,15 in pointierterer Weise als für die Gegenwart in Anspruch genommen werden. Denn Verstöße gegen die Form können dort nicht als Verstöße gegen etwas Äußerliches oder Subsidiäres verstanden werden, sondern müssen als Verstöße gegen die in der Form repräsentierte gesellschaftliche Ordnung selbst interpretiert werden.

Prominente Beispiele dafür sind die rituellen Mahlgemeinschaften und ihre Sitz- und Tischordnungen, in denen Statusdifferenzen und Hierarchien zum Ausdruck kommen und in denen durch die „Plazierung relativ zu anderen“16 der Ort des einzelnen im (aktuell präsenten) Sozialsystem veranschaulicht wird. Die hohe Relevanz, die man diesen Ordnungen beimaß, zeigt sich in der häufig bezeugten Bereitschaft der Beteiligten, ungeachtet der Dignität des Ortes oder anwesender Personen um den angemessenen Platz zu kämpfen, wie es etwa bei Lampert von Hersfeld oder im ›König Rother‹ berichtet wird.

In den von Lampert berichteten Sesselstreitigkeiten zwischen Bischof Hezelo von Hildesheim und Abt Widerad von Fulda (S. 74ff.) verhinderten den Ausbruch der Gewalt nicht einmal die Dignität des Raumes (Kirche), des Zeitpunktes (Vesper zu Weihnachten bzw. Pfingsten) und der anwesenden Personen (etwa König Heinrichs IV.). Anlaß der wiederholten Auseinandersetzungen war das Recht, neben dem Erzbischof von Mainz sitzen zu dürfen, das nach Lampert der Abt von Fulda aus einer althergebrachten consuetudo ableiten konnte (S. 76), aber auch der Bischof von Hildesheim innerhalb seiner eigenen Diözese als Vorrecht beanspruchte. Während der erste, lediglich verbale und handgreifliche Streit durch das Einschreiten Herzog Ottos von Bayern zugunsten des Fuldaer Abtes entschieden werden konnte, führte der zweite zu bewaffnetem Kampf. Denn Bischof Hezelo hatte vorsorglich hinter dem Altar bewaffnete Krieger versteckt, die bei Ausbruch des Streits auf die Fuldaer einschlugen, welche dann ebenso ihre Waffen holten, so daß inmitten des Chores Ströme von Blut flossen (S. 76 / 78) – wobei der Bischof sogar an seine Leute appellierte, sich nicht durch die Heiligkeit des Ortes von den Waffen abhalten zu lassen (S. 78), und der König vergeblich Rücksicht auf seine königliche Würde anmahnte (ebd.).17

Im ›König Rother‹ (1598 ff.) kommt es zum Kampf um das geginsidele (1602), das Asprian als dem Kämmerer Dietrichs/Rothers vom Hof zugewiesen wurde und das ihm der Kämmerer eines Herzogs Friedrich streitig machen will: der hiez Aspriane / sine benke rucken nahir / unde sagite ime zware, / wie ricke sin herre ware. / her wolde also ture sin, / so der kuninc Constantin (1619 – 1624). Die Auseinandersetzung schlägt dann in Gewalt um, als eine Bank Asprians umgestoßen wird: Er erschlägt den anderen Kämmerer, und es kommt zu weiteren Kämpfen (1646ff.).

Die Formalität der Rituale umfaßt grundsätzlich verschiedene Ebenen von Handlungsordnungen, die je nach Ritual unterschiedlich besetzt und unterschiedlich relevant sein können.

Wichtig ist zunächst die Gebundenheit von Ritualen an eine zeitliche Ordnung. Sie kann einerseits deren Anlaß vorgeben, indem etwa bestimmte Rituale an feste, oftmals symbolisch bedeutsame Termine, an herausgehobene Ereignisse des Kirchenjahres oder besondere Daten der Jahres- oder individuellen Lebenszeit (sog. Übergangsriten18) gebunden sind oder aber mit ihnen verknüpft werden (Versöhnung zum Weihnachtsfest oder bei einer Krönung); damit kann gleichfalls die Häufigkeit bzw. Frequenz der Wiederholung eines Rituals determiniert sein (einmalige Erstkrönung und wiederholbare Festkrönungen19). Andererseits betrifft die zeitliche Ordnung die Chronologie der einzelnen Handlungssequenzen eines Rituals ebenso wie die Dauer des gesamten Rituals. Wiederholungen kennzeichnen somit nicht nur die Binnenstruktur eines Rituals, sondern das Ritual ist prinzipiell ein als Ganzes wiederholbarer Akt.20

Eine zweite Ordnungskategorie bilden Ort und Raum. Bestimmte Rituale können an konkrete Orte (Königskrönung in Aachen) und an spezifische repräsentative, öffentliche oder symbolische Räume gebunden sein (Kirchenraum, Hof). Festgelegt und formalisiert können außerdem die Bewegungen (Entgegengehen zum Empfang eines Gastes), aber auch die statische Anordnung im Raum sein.21

Die Formalität von Ritualen findet ihren Ausdruck drittens in einer Kleidungsordnung. Die Kleidung der Ritualteilnehmer kann auszeichnenden Charakter haben (Festlichkeit, Spiegel von Bedeutungshierarchien innerhalb der Handlung), einen Amts- oder Funktionsträger bezeichnen (Kasel des kirchlichen Liturgen) oder mit der rituellen Handlung inhaltlich korrespondieren (Bußgewand etwa bei einer Unterwerfung oder standesmindernde, defekte Kleidung bei einer Bestrafung). Teil eines Rituals kann auch gerade das Anlegen oder Wechseln von Kleidern sein (Umlegen des Königsmantels, Ablegen der Rüstung bei der Ankunft am Hof).

Ordnung liegt schließlich auch in der festgelegten Form ritueller Handlungen begründet. Hervorzuheben sind darunter Bewegungsarten (gemessenes Schreiten), eine spezifische Gestik, die auch besondere Gegenstände einbeziehen kann (Herrschaftsinsignien), und ein formalisierter Sprachgebrauch (rituelle Sprechakte).22

Der Handlungsaspekt ist in diesem Zusammenhang eigens hervorzuheben: Rituale sind primär Vollzug eines Handlungsmusters, in dem abstrakte Sachverhalte, Absichten und Vorstellungen, Status und Hierarchien in Handlung transformiert und in der Form zur Anschauung gebracht werden. Diese Handlungen können als primär nonverbale Signale zwar wieder, metaphorisch gesprochen, als „Sprache mit sichtbaren Worten“23 betrachtet und in Sprache ‚rückübersetzt‘ werden, sie sind aber als ‚Übersetzung‘ nicht mit dem ursprünglichen ‚Text‘ identisch.

Während der Begriff des ‚Musters‘ oder ‚Plans‘ auf die Realisierung einer vorgegebenen Form abhebt, betont die Bezeichnung als ‚Handlungssequenz‘ oder ‚Handlungskette‘ eher die Binnenstruktur und formale Einheit des einzelnen Rituals: Rituale umfassen mehrere, in sich geformte, stereotype und wiederholbare Teilhandlungen, die erst in ihrer strukturierten Verknüpfung ein ganzes Ritual ergeben. Dadurch lassen sich sinnvolle Abgrenzungen, vor allem zu einzelnen Gesten oder Gebärden, vornehmen.24

Poetik des Rituals

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