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Formalität und Ritualität: Wolframs Gralsritual I

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Ein herausragendes Beispiel dafür, wie ein fiktionaler Text sich der in diesem Kapitel umrissenen formalen Konstitutionsbedingungen eines Rituals im kulturellen System seiner Zeit bedient, um einer von ihm entworfenen Handlungssequenz rituellen Charakter zu verleihen, ist das Gralsritual in Wolframs ›Parzival‹. Die Analyse dieses Rituals bildet den Abschluß des Kapitels, weil sie nicht nur die eminente Bedeutung der Formgebundenheit mittelalterlicher Rituale aus einer spezifisch literarischen Perspektive nochmals bestätigt, sondern auch einen ersten Ausblick auf die Möglichkeiten literarischer Texte bietet, in der Darstellung von Ritualen textinterne Bedeutungen zu generieren.

Wolframs Darstellung von Parzivals Aufenthalt auf der Gralsburg, seine Gestaltung des Gralsaufzugs und die damit verbundene Frage nach der Erlösung unterscheiden sich erheblich von seiner Vorlage, Chrétiens ›Conte du Graal‹. Das ist bekannt, und die Forschung hat sich mit den Abweichungen Wolframs im Handlungsgang, in der Vorstellung vom Gral und der Konzeption der Erlösung der Gralsgesellschaft ausführlich beschäftigt.80 Die folgenden Überlegungen beschränken sich deshalb auf die für die Formalität des Gralsrituals wichtigen Beobachtungen: Wolfram erzählt ein gegenüber Chrétien eigenständiges, völlig andersartiges Ritual, und er ‚erfindet‘ dieses Ritual, indem er – darauf gilt es die Aufmerksamkeit zu lenken – eine hochgradig formalisierte Handlungsfolge konstruiert. Daß der rituelle Charakter dieser Handlungen auch von ihrer Substanz und Funktion abhängt, versteht sich von selbst und wird später auszuführen sein. Doch lohnt es zunächst, die Gemachtheit des Gralsrituals, seine formale Poetik zu analysieren.

Bei Chrétien81 findet der Aufzug des Grals statt, als der Gralskönig Perceval im Palas der Gralsburg, einem repräsentativen Raum, der als solcher aber nur partiell realisiert ist, bewirtet.82 Die Handlung ist in ihrer Formalität insgesamt wenig ausgeprägt und zeichnet sich vor allem durch das Prinzip der Wiederholung zweier analog organisierter, sehr einfach strukturierter Sequenzen aus, in deren Mittelpunkt drei bedeutsame Gegenstände stehen: zuerst die blutende Lanze, dann der Gral und ein silberner Teller.83

Zunächst tritt ein Knappe mit der Lanze, aus deren Spitze Blut läuft (3196 – 3201), aus einer Kammer (3191), durchquert den Raum genau zwischen Bett und Kamin (3194f.) und verschwindet in einem anderen Raum (vgl. 3240 – 42). Unmittelbar daran schließt sich die zweite Handlungssequenz an: Zwei Knappen tragen Leuchter, gefolgt von einem Fräulein mit dem Gral und einem anderen mit der silbernen Platte (3213 – 39). Diese Gruppe vollzieht die gleiche räumliche Bewegung wie der Lanzenträger (3240 – 42; 3559f.); die enge Zusammengehörigkeit der beiden Handlungssequenzen wird eigens unterstrichen: Tot ausi con passa la lance (3240). Wiederholung kennzeichnet auch die übrige Handlung: Während des in seiner Speisenfolge ausführlich beschriebenen Mahles (3280 – 89; 3320 – 33) zieht der Gral noch mehrmals an Perceval vorüber (3290f.; 3299 – 3301), ohne daß der Text jedoch weitere Angaben über die Formation und Richtung der Bewegung macht. Auch andere Details der Handlung (etwa Gesten, Kleidung, Funktionen der Handlungsträger usw.) bleiben ausgespart. Charakteristisch ist ebenso, daß die Handlung, deren Form bekannt und fest zu sein scheint,84 sich insgesamt eher en passant ereignet.85

Demgegenüber stellt Wolfram das Gralsritual in das Zentrum der Handlung. Seine Darstellung ist zunächst von einem durchgängigen Überbietungsgestus gegenüber Chrétien geprägt. Dies zeigt sich bereits in der repräsentativen Ausstattung des Raumes, in der das Ritual stattfindet. Die Bemerkung des Erzählers bei Chrétien, um das Feuer im Palas hätten gut vierhundert Leute sitzen können (3096 – 98), wird bei Wolfram realisiert, indem er den Saal mit hundert Sitzgelegenheiten für je vier Ritter füllt (229,28 – 230,1). Anwesend sind während des Rituals also nicht nur Knappen und Bedienstete, sondern (repräsentativ oder de facto) die ganze Gralsgesellschaft. Auch die festliche Beleuchtung des Raumes wird bei Wolfram detailliert beschrieben: Hundert Kronleuchter sind über den hundert Sitzgruppen angebracht (229,24 f.); zudem spenden weitere, an den Wänden befestigte Kerzen (229,27) und drei viereckige Kamine (230,9) Licht – auch dies eine Steigerung gegenüber Chrétien.86 In den Kaminen brennt denn auch nicht wie bei Chrétien trockenes Brennholz (3094), sondern Aloeholz, so daß neben den visuellen Reizen auch olfaktorische geschaffen werden.87

Neben dieser situativen Rahmung der Szene werden auch die rituellen Handlungen selbst mittels einer durchgreifenden Formalisierung entschieden verändert. Zunächst wird die Präsentation der blutigen Lanze als eine eigenständige Handlung vom späteren Gralsritual abgesondert.88 Diese Differenzierung beider Vorgänge wird bereits mit Hilfe der dem Geschlecht nach differenten personellen Besetzung angezeigt: Während die Lanze von einem Knappen getragen wird, besteht die Gralsprozession ausschließlich aus adligen, z. T. explizit dem Hochadel angehörenden Frauen (232,25; 233,1; 234,12 – 16). Differenziert sind beide Handlungen auch räumlich. Zum einen betreten der Lanzenträger und später die Frauen den Saal ausdrücklich durch verschiedene Türen (231,17f. u. 27 – 30; 232,9f.; 240,21f.).89 Zum andern ist auch die Art der jeweiligen Bewegungen im Raum unterschiedlich: Der Knappe präsentiert die Lanze, indem er den Raum entlang seiner vier Wände abschreitet (er truoc se in sînen henden / alumb zen vier wenden, 231,27 f.), bevor er ihn wieder verläßt. Die Frauen hingegen bleiben bis zum Abschluß des Mahles im Raum präsent. Auch die Bewegungsarten differieren. Während bei der Gralsprozession das gemessene Schreiten betont wird (234,1 f.; 235,4 f.), ist das ‚Lanzenritual‘ von ungestümen Bewegungen geprägt: Der Knappe ‚springt‘ in den Raum und verläßt ihn ebenso ‚springend‘ (231,17; 231,30). Das durch die Präsentation der Lanze ausgelöste Jammergeschrei der Gesellschaft wird zu Beginn der Gralszeremonie außerdem als eine eindeutig abgeschlossene Handlung dargestellt (Gestillet was des volkes nôt, 232,1), was durch einen an die Rezipienten gerichteten Erzählereinschub eigens unterstrichen wird:

wil iuch nu niht erlangen,

sô wirt hie zuo gevangen

daz ich iuch bringe an die vart,

wie dâ mit zuht gedienet wart.

(232,58)

Wie man später erfährt, ist die Präsentation der Lanze auch zeitlich vom Gralsritual gelöst, indem die periodische Wiederkehr beider ritueller Handlungen unterschiedlich bestimmt ist. Die Lanze dient als medizinisches Gerät bei der Behandlung von Anfortas’ Wundschmerzen, die aufgrund einer seltenen Planetenkonstellation besonders unerträglich sind.90 Während also das rituelle Tragen der Lanze an diese rhythmisch wiederkehrende Planetenkonstellation gebunden – vielleicht sogar einmalig – ist,91 sich aber auf alle Fälle mit Anfortas’ Genesung erübrigt, findet das Gralsritual prinzipiell zu hôchgezîten statt (807,18) und besteht auch nach der Heilung des Königs fort.92

Der erste Teil des eigentlichen Gralsrituals besteht bei Wolfram – ganz anders als bei Chrétien – im Bereiten des Gralstisches durch die Gralshüterinnen. Dieser Teil setzt sich aus mehreren Handlungssequenzen zusammen, die nach einem festen Schema verlaufen und auf unterschiedlichsten Ebenen von Ordnungshaftigkeit geprägt sind. Formalisiert sind zunächst die verschiedenen Bewegungen und Gesten. Prozessionsartig treten in gewissem Abstand vier Frauengruppen auf,93 die in sich wiederum zweigeteilt sind: Der eine Teil der Gruppe trägt Beleuchtungen verschiedener Art, während der andere jeweils ein rituelles Gerät präsentiert. Diese Präsentation erfolgt stets auf gleiche Weise: Nach dem Einzug durch eine stählîn tür (232,10) verneigen sich die Frauen vor dem König und plazieren anschließend die von ihnen gebrachten Gegenstände (233,5 – 7; 233,25 – 30; 235,1 – 3; 236,5 – 11); dann tritt die Gruppe mit zühten zur Seite (234,1f.; 235,4f.), bis schließlich alle tableauartig so stehen, daß Repanse, die künegîn und Gralsträgerin, in der Mitte von je zwölf Frauen gerahmt wird (236,16 – 22).

Die Sukzession dieser Gruppen folgt dem Prinzip der Steigerung, das von Wert und Bedeutung ihrer rituellen Gegenstände bestimmt ist: zunächst elfenbeinerne Tischgestelle, dann die dazugehörige Tischplatte aus einem grânât jâchant (233,20), anschließend silberne Messer, endlich – als Höhepunkt – der Gral. Dieses Steigerungsmoment spiegelt sich auch in der Kleidung der innerhalb einer Gruppe jeweils uniform gekleideten Frauen: Während die ersten beiden Gruppen, die den Tisch aufstellen, jeweils einfarbige Gewänder tragen (232,22 – 30; 233,11; 234,3 – 8), sind die beiden Frauengruppen, die das Tischgerät, d. h. Messer und Gral, präsentieren, in verschiedenfarbige, also noch kostbarere Stoffe gekleidet (235,8 – 14); Repanse, die mit dem Gral den Abschluß der Prozession bildet, ist durch ein besonderes Gewand vor allen übrigen ausgezeichnet (235,18f.).

Die genauen Zahlenangaben zu den Frauengruppen unterstreichen weiterhin den ordnungshaft-formalen Charakter des Vorgangs. Es handelt sich um eine Vierer-, gefolgt von einer Achtergruppe, dann zwei Sechsergruppen, wobei die letzte Gruppe, die den Gral begleitet, die Sechszahl um eine Person, nämlich die abschließende Gralsträgerin, überschreitet. Die Zweiteilung der einzelnen Gruppen in Licht- und Gerätträgerinnen ist zunächst symmetrisch: In der ersten Gruppe führen zwei Frauen goldene Kerzenleuchter (232,18 – 21) und zwei Frauen die Tischgestelle (233,1 – 3), analog folgen in der zweiten Gruppe vier Frauen mit kerzen grôz (233,15) und vier andere mit der Tischplatte (233,16 – 21); die Anzahl der Lichter scheint sich hier nach der Anzahl der für die Gegenstände benötigten Trägerinnen zu richten. Bei den Gruppen, die die kultischen Gegenstände im engeren Sinn (Messer, Gral) tragen, wird dann die Zahlensymmetrie zugunsten eines steigernden Moments aufgegeben: Die dritte Gruppe besteht aus vier Lichtträgerinnen (234,25 – 28) und zwei Damen mit den silbernen Messern (234,16 – 24); in der letzten Gruppe tragen sechs Damen kostbare Glasgefäße, in denen Balsam brennt (236,1 – 4), gefolgt von Repanse mit dem Gral (235,15ff.). Somit besitzen die Lichter offensichtlich den Zweck, die ihnen folgenden Gegenstände in genauer Abstufung ihrer rituellen Bedeutung auszuzeichnen und dem Aufzug insgesamt einen feierlichen Charakter zu verleihen; die besondere Hervorhebung der letzten Gruppe erfolgt dabei nicht nur durch die Zahl der Trägerinnen und der Lichter, sondern zudem durch olfaktorische Reize.94

Daß die beschriebene Form des Rituals in seiner Wiederkehr fest und stets gleichbleibend ist, bestätigt der Text an späterer Stelle. Bei Parzivals zweitem Aufenthalt in Munsalvaesche als berufener Gralskönig kann der Erzähler beim Aufzug des Grals nämlich auf die frühere Stelle verweisen und sich eine erneute Beschreibung des seinem Ordo gemäß ablaufenden, aufwendigen Geschehens kurzerhand sparen:

ir habt gehôrt ê des genuoc,

wie mann für Anfortasen truoc:

dem siht man nu gelîche tuon

für des werden Gahmuretes suon

und och für Tampenteires kint.

juncfrouwen nu niht langer sint:

ordenlîch si kômen über al,

fünf unt zweinzec an der zal.

(808,23 – 30)

An diesen ersten Teil des Gralsrituals schließt sich eine zweite Handlungssequenz an, die in ihrem Inhalt und ihrer Form auf die erste deutlich Bezug nimmt, aber auch vom Moment der Variation gekennzeichnet ist. Dem Bereiten der Gralstafel korrespondiert das Bereiten der Tafeln der übrigen Gralsgesellschaft (237,1 ff.): Wieder werden zunächst die Tische hereingetragen, die dann mit dem entsprechenden Gerät eingedeckt werden; allerdings handelt es sich bei dieser Tätigkeit nun um reine ‚Männersache‘.

Auch bei diesem Vorgang zeigt sich ein Insistieren des Textes auf der Ordnungshaftigkeit des Vorgangs mittels Zahlenangaben, die hier um die Zahlen ‚Vier‘ und ‚Hundert‘ kreisen. Unter den hundert Leuchtern (229, 24 – 26) werden hundert Tafeln plaziert, an denen je vier Ritter sitzen (237,1 – 4), die wiederum von vier Knappen bedient werden (237,13 – 20). Von vier Wagen aus, die an den vier Wänden des Saales entlangziehen, werden die Tische durch vier Ritter mit goldenem Geschirr versehen (237,21 – 30). Hundert Knappen bedienen die hundert Tafeln dann mit den vom Gral gespendeten Speisen mit grôzer zuht (238,2ff.). Gralsprozession und anschließende Mahlgemeinschaft sind somit neben ihrer analogen Handlungsstruktur (Hereintragen von Tisch und Tischgerät) auch über ihre numerische Ordnungshaftigkeit aufeinander beziehbar. Im einzelnen unterscheiden sich die jeweiligen Zahlen im Zentrum der Vorgänge zwar (Gralsprozession: 12 und 25; Mahlgemeinschaft: 4 und 100), doch sind sie über weitere Zahlenspekulationen wieder miteinander harmonisierbar.95

Für die Zusammengehörigkeit beider Handlungssequenzen spricht weiterhin die Ordnung, die sich nach dem Abschluß des Mahles zeigt. Der Abbau erfolgt in entsprechend umgekehrter Reihenfolge der Handlungssequenzen, wobei zuerst eben mit dem Wegräumen der Tafeln der Ritter begonnen und zuletzt der Gralstisch selbst abgebaut wird:

vier karrâschen man dô luot.

ieslîch frouwe ir dienest tuot, ê die jungsten, nu die êrsten.

dô schuofen se abr die hêrsten

wider zuo dem grâle.

dem wirte und Parzivâle

mit zühten neic diu künegîn

und al diu juncfröwelîn.

si brâhten wider în zer tür

daz si mit zuht ê truogen für.

(240,1322)

Das Gralsritual kann demnach als eine formal streng festgelegte Handlung ausgewiesen werden, doch zeigt sich zugleich, daß in diesem festen Rahmen durchaus Raum für situationsabhängiges Handeln gegeben ist. Dies deutet sich in der Verbindung des Lanzenrituals mit dem Gralsritual bereits an. Auch das Gralsritual selbst bietet offensichtlich solchen Spielraum, denn an dem Abend des ersten Aufenthalts Parzivals wird die Schwertübergabe des Anfortas, eine Geste, die ihren traditionellen Ort in Ritualen der Herrschaftsübergabe oder Herrscherkrönung hat,96 situationsgebunden in das Gralsritual, die Mahlgemeinschaft, integriert. Sie ist aber als einmaliger Akt, der die Erlöserfrage provozieren soll, prinzipiell – wie auch das Lanzenritual – von ihm zu trennen.

Wolframs Gralsritual bietet alles, was ein Ritual an formaler Regulierung überhaupt bieten kann: Es zeigt einen streng festgelegten, wiederholbaren Ablauf mehrerer analog strukturierter, in sich aber auch variierter Handlungssequenzen. Die Bewegungen der geschlechtlich, ständisch und vestimentär exklusiven Akteure sind ebenso festgelegt wie ihre Positionen im Raum und ihre Gesten. Bestandteile des Rituals sind neben mehreren rituellen Gegenständen zahlreiche visuelle und olfaktorische Reize. Es findet in einem repräsentativen Raum statt, der nicht zuletzt auch über die für das gesamte Ritual wichtige Zahlensymbolik in den Ordo des Rituals einbezogen ist.

In der Ordnungshaftigkeit und der formalen Elaboriertheit dieser rituellen Handlung, die gleichwohl Spielraum für situationsgebundenes Verhalten läßt, erweist sich Wolfram sicher nicht – wie Gottfried den namentlich von ihm nicht genannten Dichtern vorwirft – als vindære wilder mære (›Tristan‹, 4663). Ob der Vorwurf von wilde dagegen den Inhalt und die Bedeutung dieser hochgradig formalisierten Handlung betreffen könnte (si müezen tiutære / mit ir mære lâzen gân: / wirn mugen ir dâ nâch niht verstân, / als man si hœret unde siht, 4682 – 85), wird im nächsten Kapitel weiter zu verfolgen sein, in dem es um die Frage nach der Substanz und die Möglichkeit des Verstehens von Ritualen gehen soll.97

Poetik des Rituals

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