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Regenerative und generative Aspekte der Form
ОглавлениеDie herausgehobene Formalität, die relative Festigkeit und Wiederholbarkeit der Handlung sind zentrale Kennzeichen eines etablierten Rituals, doch ist damit noch nicht erklärt, wie es zu Wandlungen und Transformationen von tradierten und zur Schöpfung von neuen Ritualen kommt. Auch ALTHOFF stellt diese Frage in bezug auf das von ihm untersuchte Ritual der ‚deditio‘:
Stand die ‚deditio‘ als Brauch, Ritual oder zeremoniellartiger Akt schon immer zur Verfügung, so wie Bräuche und Rituale anscheinend immer da sind, keinen Anfang haben. Oder hat dieser Akt einen Beginn, ist er zu einer bestimmten Gelegenheit sozusagen erfunden, bewußt installiert worden, um ein bestimmtes Problem zu lösen und wurde er danach beibehalten, weil er eine adäquate, überzeugende Problemlösung bot?33
Mit der Formgebundenheit sind, wie sich im vorausgegangenen Abschnitt bereits andeutete, ein generativer und ein regenerativer Aspekt verbunden, die den Blick auf zwei Phänomene lenken: daß einerseits formalisiertes, rituelles Handeln einmalig sein kann34 und daß andererseits Rituale trotz ihrer Festigkeit kaum unverändert über Jahrhunderte transportiert werden, sondern für historischen Wandel offen und kulturellen Transformationsprozessen unterworfen sind. Somit erweist sich die Formgebundenheit als zweideutig: Sie bedingt den konservativen Charakter von Ritualen, ebenso lassen sich mit ihr jedoch deren Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sowie Resistenz gegenüber ‚Veraltungserscheinungen‘ begründen.
Wie flexibel sich ein Ritual und einzelne seiner formalen Elemente über Jahrhunderte im Wandel der Zeit erweisen, wie sie kulturellen Transaktionen ausgesetzt sind und daß in diesem Prozeß gleichwohl Konstanten erhalten bleiben, kann anhand eines für die Ausübung und Sicherung von Herrschaft im Mittelalter zentralen Rituals exemplarisch veranschaulicht werden: der Eheschließung und einzelner ihrer Teilakte, deren Transformationen weitgehend aus dem zunehmenden Einfluß der an dem Ritual zuerst unbeteiligten Institution Kirche resultierten. Im folgenden sollen diese strukturellen Transformationen anhand einzelner Formelemente skizziert werden.35
Wie das Ensemble tradierter Handlungen von Eheschließungsritualen des feudalen Adels durch Anlagerung neuer Formelemente erweitert wird, zeigt sich in der Beteiligung der Kirche an den Ritualen in Form eines eigenen kirchlichen Teilaktes: An die traditionell rechtlich verbindlichen Formalhandlungen von Brautübergabe, öffentlichem Eheversprechen (Stehen im Ring36), einem Kern gestischer Handlungen (Ringgabe,37 Kuß, Umarmung etc.) und dem Beilager konnte sich, etwa am folgenden Tag, ein Kirchgang bzw. eine Einsegnung anschließen. Unklar bleibt dabei noch, inwiefern die Form dieses kirchlichen Aktes auf die stattgefundene Trauung hin ausgerichtet war, doch kam ihm im Rahmen der über- und vorgeordneten Handlungen zunächst keine rechtliche Relevanz zu.38 Darstellungen solcher Ritualhandlungen bieten beispielsweise das ›Nibelungenlied‹ und die ›Kudrun‹.39
Außerdem können bereits bestehende Teile eines Rituals durch Modifizierung ihrer Form neuen Sinn erhalten. So wird z. B. das Beilager als Vollzug der Ehe und somit als wichtigster Rechtsakt der Eheschließung im Laufe des Mittelalters unter kirchlichem Einfluß stark verändert: Während zunächst die kirchliche Segnung des Brautbettes das Beilager um eine zusätzliche rituelle Handlung erweiterte und ihm damit auch neuen Sinn zu unterlegen versuchte, rückt später das Beilager in der Abfolge der einzelnen Ritualhandlungen hinter die kirchliche Trauung, das Verhältnis zwischen rechtskonstitutivem und ihm untergeordnetem Vorgang wird damit umgekehrt.40
Ein weiteres Phänomen, das den generativen Aspekt des Rituals zum Ausdruck bringt, ist die Entwicklung eigenständiger, neuer Rituale aus ursprünglich untergeordneten Teilhandlungen: War die Kirche zunächst nur in Form eines wie auch immer gestalteten Teilaktes am Ritual beteiligt, entwickelt sie schließlich ein eigenständiges, elaboriertes kirchliches Trauungsritual, das wiederum unter Einbezug und Umdeutung von Formelementen vorgängiger und verdrängter Rituale (z. B. Ja-Wort, Kuß, Ringgabe41) eigene Rechtsrelevanz gewinnt, schriftlich kodifiziert wird und institutionell schließlich den Sieg davonträgt.42
Ein Beispiel für die Umbesetzung von ganzen Ritualen ist dann die Einführung der Zivilehe in der Neuzeit,43 neben der das kirchliche Ritual zu einer (freiwilligen) Zusatzhandlung wird, die die Beziehung nun vor Gott und der Gemeinde legitimiert; aus dem rechtskonstitutiven kirchlichen Ritual wird ein Glaubens- und Bekenntnisakt. Mit der Überführung der Rechtshandlung in das Standesamt werden wiederum neue, im Kontext dieser Institution geforderte formale Handlungen zelebriert (Unterschrift), doch halten sich in modifizierter Form erneut einige (z. T. fakultative) Elemente aus dem kirchlichen Ritual (Musik vom Band, Einzug, Ansprache des Standesbeamten über Sinn und Zweck einer Ehe, Kuß o. ä.), die dem Rechtsakt einen feierlichen Charakter verleihen und zudem eine Ersatzfunktion im Hinblick auf den ‚rite de passage‘ des kirchlichen Rituals erfüllen.
Dieser selektive Blick auf strukturelle Transformationen zeigt, wie sich ein Ritual und einzelne seiner formalen Teilakte in historischen Prozessen zu immer neuen Handlungsmustern zusammenfügen können, wie sie gerade in der Konkurrenz kirchlicher und weltlicher Ansprüche44 gegenseitigen institutionellen Übergriffen und ‚Tauschaktionen‘ ausgesetzt sind und bestimmte Elemente, nicht ohne sich in Bedeutung und Funktion zu verändern, Jahrhunderte über die Form mittransportiert werden, er zeigt mithin, wie das Ritual letztlich in seinem Gebrauch immer wieder modifiziert und neu geschaffen wird. Die feste, durch Wiederholung eingeübte Formalität der Handlung spielt dabei eine entscheidende Rolle. In ihr liegt nicht nur die Möglichkeit der Wahrung von Tradition, sie ist zugleich die Quelle, aus der Rituale sich immer wieder erneuern und neue Rituale generieren. Der symbolische Charakter des Rituals, der – wie in Kapitel 2 auszuführen sein wird – Spielräume für Interpretationen eröffnet, unterstützt diese regenerierende und generierende Prozeßhaftigkeit des Rituals45:
Gefestigte Verhaltensgewohnheiten, die im Verlauf ihrer Überlieferung sowohl ritualisiert als auch symbolisiert werden, gewinnen schließlich eine neue Qualität, die es ihnen ermöglicht, wechselnde Einflüsse und Veränderungen zu überstehen: durch ihre feste Form und Bekanntheit werden sie leicht übertragbar und transportierbar. Sie dienen als Typen, Schablonen, Modell und Material zur Bewältigung des Neuen nach alten Mustern.46
In diesem Zusammenhang müssen auch Versuche gesehen werden, bestimmte Anlässe im Rückgriff auf verfügbare Rituale oder einzelne ihrer Elemente neu zu begehen. Solche Akte können sich als Neuschöpfung durchsetzen, in ihrer konkreten Performanz aber auch einmalig sein. Entscheidend ist, ob der Akt auf Wiederholung und Tradition angelegt ist oder darauf basiert; ob er eine neue Tradition zu stiften vermag, ist demgegenüber oftmals zweitrangig.
Die von Otto Morena (S. 34 – 38) berichtete Klage zweier Bürger aus Lodi auf einem Gerichtstag König Friedrichs I. in Konstanz 1153 ist dafür ein Beispiel.47 Eher zufällig anwesend auf dem colloquium, sehen sie, wie Friedrich in dieser Versammlung Recht spricht, und entschließen sich, die Gelegenheit zu ergreifen und Klage wegen eines ihnen von Mailand entrissenen Marktes zu führen. Zu diesem Zweck entwenden sie aus einer Kirche zwei große Kreuze (maximae cruces) und werfen sich mit ihnen heftig klagend (maxime lugentes) dem König zu Füßen (S. 36). Der Text erwähnt, daß diese Handlung den anwesenden Fürsten fremd ist und ihr Erstaunen erregt.48 Auf seiten des Königs provoziert sie eine Nachfrage,49 worauf die Lodesen den Streitfall darlegen und um Unterstützung gegen Mailand bitten. Ottos Darstellung betont einerseits, daß der Transfer dieser rituellen Handlung in den Kontext von Rechtsprechung – aus der Perspektive der Fürsten50 – als unüblich und fremdartig empfunden wird, impliziert andererseits aber auch, daß sie – vom König – durchaus als Klagegestus verstanden und als eindrucksvolle Handlung und Bestandteil des Rechtsrituals akzeptiert wird. Sie gelingt, obwohl sie in der aktuellen Situation unbekannt ist.
Derartige keineswegs seltene Vorgänge51 veranschaulichen, daß der mittelalterlichen Gesellschaft ein Bestand an formalisierten und zeichenhaften Handlungen zur Verfügung stand, der zwar nicht für beliebige Kombinationen und Kontextualisierungen offen, doch prinzipiell austauschbar, ‚verhandelbar‘ war und zu immer neuen Ritualen zusammengesetzt werden konnte:
Die Ordnung des Handelns wird weder im Labor noch am Schreibtisch entworfen. Sie wird in ihren Traditionen und Variationen von Handelnden geschaffen und fortgeführt, die ihrerseits die einzelnen Handlungselemente zu immer neuen Mosaiken im Rahmen bekannter Genres gestalten – oder neue Genres hervorbringen.52