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Geltungsbereiche: Rituale als ‚heilige‘ Handlungen
ОглавлениеSubstantiell wurden Rituale lange Zeit als Handlungen mit religiösen Inhalten definiert, und komplementär dazu wurden formalisierte, zeichenhafte Handlungen im säkularen sozialen Kontext als ‚Zeremonien‘ bezeichnet.1 Was man aber genau unter ‚religiös‘ zu verstehen hat, wird dabei nicht immer deutlich: Statt ‚religiös‘ finden sich Bezeichnungen wie ‚okkult‘, ‚transzendent‘, ‚mystisch‘ und ‚magisch‘; TURNER bindet den Begriff ‚Ritual‘ an den „Glauben an unsichtbare Wesen oder Mächte“.2 Zunehmend seit den 1970er Jahren wurde der über lange Zeit fast obligatorische Konnex zwischen Ritual und Religion als unzulässige Begriffsverengung kritisiert.3 Mit der Ausweitung des Ritualbegriffs und seiner Anwendung auf die verschiedensten kulturellen Phänomene in der Moderne spielt die Unterscheidung zwischen ‚religiösen Ritualen‘ und ‚säkularen Zeremonien‘ nur mehr eine untergeordnete Rolle.4
Die substantielle Differenzierung des ‚Religiösen‘ und ‚Säkularen‘ wurde zumeist auf DURKHEIM zurückgeführt, doch steht sie dessen Verständnis von Religiosität als der Hypostasierung sozialer Phänomene freilich geradezu entgegen.5 DURKHEIM gründet seine Überlegungen auf eine andere begriffliche Opposition, deren Verwandtschaft mit der oben genannten jedoch nur vordergründig besteht: die des ‚Heiligen‘ und des ‚Profanen‘. Das Heilige bestimmt DURKHEIM als hypostasiertes Kollektivgefühl,6 Rituale als „eminent soziale Angelegenheit“, als Handlungen, die „nur im Schoß von versammelten Gruppen entstehen können“.7 Da eine Gesellschaft sich „ständig heilige Dinge erschafft“,8 können vormals ‚profane‘ Dinge ‚heilig‘ werden. ‚Heilig‘ etwa kann ein Mensch aufgrund seiner sozialen Stellung als Herrscher werden, so daß die „Ehrerbietung, die Menschen, die eine hohe soziale Funktion ausüben, einflößen, […] auch nichts anderes als der religiöse Respekt“9 ist. Der so gefaßte Begriff des ‚Heiligen‘ ist mit dem des ‚Religiösen‘ nur teilweise kongruent. Er stellt, wie auch der komplementäre Begriff des ‚Profanen‘, eine Kategorie dar, die in unterschiedlichen (sozialen, räumlichen, zeitlichen) Kontexten Bedeutungswandel erfahren kann:
[E]s gibt nichts, das grundsätzlich heilig oder profan wäre. Sie sind keine selbständigen Kategorien, sondern vielmehr situationsbedingte oder relationale Kategorien, bewegliche Grenzen, die sich je nach Karte, die man verwendet, verändern. Es gibt nichts, was in sich selbst heilig ist; Dinge werden nur in Beziehung zu etwas geheiligt.10
Die Kategorie des ‚Heiligen‘ muß daher immer konkret expliziert und mit dem Wechsel des Betrachtungsgegenstandes modifiziert werden. Dies hat etwa GOFFMAN in bezug auf die sogenannten Interaktionsrituale getan, indem er den Begriff auf das moderne Individuum überträgt, dem „eine Art Heiligkeit zugesprochen wird“.11 Auch wenn GOFFMANS Anwendung von spezifisch neuzeitlichen Implikationen getragen ist und bei ihm manchenorts zu einer fragwürdigen Strapazierung des Ritualbegriffs führt, zeigt sie doch, daß DURKHEIMS Begriff des ‚Heiligen‘ zur Beschreibung der vielfältigen Erscheinungsformen von Ritualen durchaus fruchtbar gemacht werden kann.
So bietet es sich gerade für das Mittelalter an, die substantielle Kategorisierung von religiösen Ritualen und säkularen Zeremonien zugunsten des Begriffs des ‚Heiligen‘ zu suspendieren. Zweifellos gibt es im Mittelalter Rituale rein ‚religiöser‘ und ‚weltlicher‘ Natur, doch haben die bisher erörterten Beispiele bereits vorgeführt, daß in Ritualen beide Bereiche miteinander verschränkt sein können und auf unterschiedliche Weise Austausch- und Transformationsprozesse zwischen ihnen zu beobachten sind. Während die Beschreibung solcher Phänomene auf die Unterscheidung religiöser und weltlicher Geltungsbereiche kaum verzichten kann, stünde ihr die substantielle Kategorisierung von ‚religiösen Ritualen‘ und ‚säkularen Zeremonien‘ geradezu im Wege. Unabhängig von Differenzierungen ihrer Geltungsbereiche beziehen sich Rituale wesentlich auf eine Substanz, die im Sinne DURKHEIMS als ‚heilig‘ angesehen wird.
Dazu gehören natürlich Rituale rein religiöser Natur (liturgische Rituale wie die Messe, Prozessionen, Kirchweihe usw.), aber auch Rituale aus dem Bereich von Politik, Recht und Gesellschaft, in denen auf unterschiedliche Arten religiöse und säkulare Sphären interferieren. So galt die Kaiserkrönung dem weltlichen Herrscher, dessen politische Macht als Abbild göttlicher Macht verstanden wurde;12 sie war in weiten Teilen ein liturgischer Akt, in dessen Rahmen die rechtlich bedeutsamen Symbole der Reichsgewalt (wie Krone, Schwert o. ä.) metaphysisch verankert wurden. Auch der Herrscheradventus war ein Herrschaftsritual,13 dem durch seine Ausgestaltung mit liturgischen Akten religiöser Sinn unterlegt wurde, so wie umgekehrt der „kirchliche Ritus […] sowohl das reine Adventus-Zeremoniell vornehmlich im Bischofs- und Reliquien-Empfang als auch eine Fülle von Prozessionsriten in anderen Kulthandlungen mit Adventus-Versatzstücken kannte und kennt“.14 Die Bereiche von weltlicher Herrschaft und Gerichtsbarkeit sowie von Religion interferieren in dem oben besprochenen Beispiel der Supplikanten aus Lodi, indem die Lodesen das Kreuzessymbol aus seinem originären, religiösen Raum in jenen der weltlichen Gerichtsbarkeit Friedrichs I. transferieren; es handelt sich hierbei um eine aktuell ungewöhnliche Klagegeste, die allerdings eindringlich etwas Grundsätzliches erinnert und anmahnt: die metaphysische Verankerung von Herrschaft und ihrer Rechtsprechung in Gott. Die engste Verbindung von Recht und Religion liegt dann vor, wenn es sich bei einem Rechtsritual explizit um ein Gottesurteil handelt. Selbst ein Großteil der sogenannten Übergangsriten wurde im Mittelalter bereits von der Kirche getragen (so etwa Taufe und Bestattung),15 und wo dies nicht der Fall war, wie bei der Vermählung, zeigt sich, wie die Formen sozialer Interaktion der feudaladeligen Gesellschaft in Konkurrenz zu denen kirchlicher Institutionen treten. Sogar die Schwertleite als Ritual der Eingliederung in die waffentragende Gemeinschaft und als Mannbarkeitsritual konnte in entsprechender Weise religiös gerahmt werden.16
Rituale als Handlungen, die sich auf etwas Heiliges beziehen, umfassen weiterhin auch solche Handlungen, in denen eine explizite metaphysische Verankerung oder eine religiöse Rahmung fehlt. Darunter fallen vor allem Rituale der Friedensstiftung, des Empfangs, der Mahlgemeinschaft, der Begrüßung und des Abschieds, Rituale, die z. T. sowohl in den Bereich von Gesellschaft als auch von Politik gehören. Auch diese Handlungen beziehen sich auf eine Substanz (Friede, Hierarchie, Kollektivität, Macht o. ä.), die aktuell als ‚heilig‘ erachtet wird, und stellen in dieser Hinsicht ein dem Profanen, dem Alltag enthobenes Geschehen dar.17 Doch können bei diesen Ritualen – anders als bei den oben genannten – unterschiedliche Grade von Bedeutsamkeit, von Bewußtheit des Heiligen als Außeralltäglichem angesetzt werden. So stehen etwa Rituale und Feste (weltlicher oder religiöser Natur) als Alltag transzendierende Ereignisse durchaus in zweierlei Kausalverhältnissen zueinander: Rituale können der Anlaß zu einem Fest sein, wie es etwa bei den ‚großen‘ Herrschaftsritualen (Vermählung, Krönung o. ä.) der Fall ist; hier erscheint das Ritual als das Vorgängige. Rituale können andererseits in ein Fest eingebettet sein (wie z. B. Mahlgemeinschaft) oder es zu Beginn und Abschluß rahmen (z. B. Begrüßungs-, Empfangs- und Abschiedsrituale); hier fordert das Fest, das im Unterschied zum Ritual nicht durchweg formalisiert und symbolisch ist, seine Rituale, nicht zuletzt auch, um die Grenzen zwischen Fest- und Alltagszeit zu markieren und die Übergänge zwischen beiden zu bewältigen.
Ähnlich betont KOZIOL, daß im Mittelalter nicht nur die außergewöhnlichen Höhepunkte des politischen und gesellschaftlichen Lebens, sondern auch das ‚normale‘ politische Verhalten hochgradig rituell geprägt sind.18 Mit der Häufigkeit der praktizierten Handlung ist die Frage nach dem Bewußtsein und Grad des Heiligen aber eng verbunden. Entscheidend ist dabei letztlich der Ritualtyp: Während die elaborierten Rituale ein größeres Bewußtsein für das Heilige nahelegen, ist für die kleineren Rituale aufgrund ihres häufigen Gebrauchs eher ein weniger ausgeprägtes Bewußtsein um das Außergewöhnliche der Handlung kennzeichnend.19