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Ambivalenzen der Form

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Der Erfolg eines Rituals hängt zumeist wesentlich von der Einhaltung der rechten Form und dem richtigen Vollzug der Handlung ab. Fehler in der Handhabung oder Störungen des Rituals (unabsichtliche Formverstöße durch Versprecher, falschen Gebrauch von Gesten und Gebärden u. ä. oder kontingente Einwirkungen von außen) können deshalb zum Scheitern des Rituals führen. Um dies zu vermeiden, wurden zum Teil Vorkehrungen getroffen, die den formgerechten Ablauf eines Rituals garantieren sollten – in Rechtsritualen etwa die Institution des Vorsprechers zur Vermeidung von Versprechern und Formfehlern.66

Wenn Rituale durch Fehler, Mißgeschick oder Absicht gestört wurden, konnte dies als Ankündigung von Unheil interpretiert werden. So nennt Otto von Freising unter den Vorzeichen, die in der Rückschau der Betroffenen die vollständige Zerstörung Freisings durch einen Brand im Jahr 1159 angekündigt hatten, einerseits das Umstürzen des Eucharistiekelches, der sich während der Messe vollständig über den Altar ergoß, andererseits auch die parodistische Nachahmung von Prozessionszügen durch Jugendliche.67 Daß „Unstimmigkeit der Form […] die Unstimmigkeit der Handlung“ signalisiert,68 zeigt weiterhin eine entsprechende Szene aus dem ›Rolandslied‹. Als Genelun gegen seinen Willen als Bote Karls zu den Heiden geschickt werden soll, zeigt sich die Unstimmigkeit im Herrschaftsverband durch die mehrfache Störung der formellen Übertragung der entsprechenden Machtbefugnisse (1417ff.): Nicht nur muß der Handschuh Karls zweimal gereicht werden, bevor Genelun ihn überhaupt annimmt; als dieser es schließlich doch tut, läßt er zudem den bereits übergebenen Stab des Kaisers fallen, was von den Umstehenden als schlimmes Zeichen gedeutet wird:

daz misseviel in allen,

daz man in dicke muose reichen.

si sprâchen, ez wære ein übel zeichen,

daz ime ze aller êreste missegienge

unde des kaiseres botescapht unwirdeclîche enphienge

(1437 – 1441)69

Hinsichtlich des Gelingens oder Scheiterns von Ritualen erweist sich die Form aber durchaus als ambivalent.70 So können einerseits bewußte Verstöße gegen die Form der Handlung gezielt eingesetzt werden, um die in ihr zum Ausdruck gebrachten Ansprüche zu unterlaufen. Ein berühmtes und vielzitiertes Beispiel für das demonstrative Einhalten eines Formalaktes bei gleichzeitiger Pervertierung findet sich bei Dudo von St. Quentin: Ein Gefolgsmann des Normannenherzogs Rollo führt bei der Lehnshuldigung vor König Karl dem Einfältigen zwar den Fußkuß aus, dies aber, indem er den Fuß des Königs zu seinem Mund reißt, so daß der König unter dem Gelächter der umstehenden Öffentlichkeit stürzt.71

Andererseits kann die Form zur Manipulation des Rituals, zur Täuschung eingesetzt und damit das Ritual selbst unterlaufen werden. Ein häufig berichtetes Mittel, ein Rechtsritual für sich zu entscheiden, besteht beispielsweise in der richtigen Fassung der Eidesformel, die durch Tricks und doppeldeutige Formulierungen der Situation so angepaßt wird, daß sie formal eine Wahrheit artikuliert, die aber nicht dem Auffinden von Wahrheit (im Sinne der Anklage) dient. FUHRMANN beschreibt dazu ein anschauliches Beispiel:

Ein Gläubiger bringt seinen Schuldner wegen Zahlungsversäumnis vor Gericht; der Schuldner behauptet, er habe das Geld zurückgezahlt und bittet seinen klagenden Gläubiger, seinen Stab zu halten; der Stab ist hohl, in ihm steckt das geschuldete Geld […]. Der Schuldner beschwört nun ohne Bedenken, daß er das geborgte Geld dem Gläubiger gegeben habe, und erbittet anschließend den geldgefüllten Stab vom ahnungslosen Gläubiger zurück.72

Ähnlich manipuliert ist das Gottesurteil in Gottfrieds ›Tristan‹, dem Isolde sich wegen der Anklage des Ehebruchs unterziehen muß (15284ff.).73 Isolde, die durch die Probe des heißen Eisens auf einem öffentlichen Konzil in Carliun ihre Unschuld beweisen soll, gelingt es, eine selbstformulierte Eidesformel durchzusetzen. Diese Formel ist Gegenstand einer Auseinandersetzung zwischen denen, die sie ihr ze schaden und ze valle (15689), und denen, die sie ihr ze guote (15696) zu formulieren versuchen. Sie unterliegt damit von Anfang an nicht einer ‚parteilosen‘ Festlegung, sondern einer den unterschiedlichen Interessen dienstbaren Verfügung. Isolde schwört schließlich, niemals habe ein Mann ihr ze arme noch ze sîten gelegen außer Marke und dem wallære, der Isolde bei der Ankunft in Carliun an Land trug und in dessen Arme sie dabei stürzte (15701 – 15725).74 Da es sich bei dem Pilger um den verkleideten Tristan handelt, ist dieser Eid im Sinne der Anklage des Ehebruchs zwar eindeutig manipuliert (gelüppeter eit, 15752),75 doch formuliert er eine Wahrheit, die in der Eisenprobe auf wunderbare Art und Weise Bestätigung findet: in gotes namen greif siz an / und truog ez, daz si niht verbran (15735f.). Dies wird von den Umstehenden im Sinne der Rechtsfindung als Beweis von Isoldes Unschuld und als Gottesurteil interpretiert (15754 – 15768). Die Szene, die vor allem aufgrund des in sie inserierten Erzählerkommentars (15737 – 15754) zu einer der umstrittensten Episoden des ›Tristan‹ gehört,76 demonstriert, daß Isoldes aufwendig geplante und im Eideswortlaut gegen drohende Alternativen durchgesetzte Manipulation des Rituals mit der strengen Wirksamkeit eines rituellen Formalismus rechnet, den Isolde für sich funktionalisieren und deshalb ihr ‚Recht‘ durchsetzen kann.77 In seiner Funktion, die ‚objektive Wahrheit‘ zu finden, mag das Ritual zwar scheitern; gerade im Hinblick auf die Frage der Kritik dieser Rechtspraxis durch Gottfried muß jedoch festgehalten werden, daß das Ritual in seinem rituellen Formalismus durchaus keinem Zweifel unterliegt,78 sondern der Erfolg der Manipulation an ihn gebunden ist.79

Gottfrieds Eisenprobe ist gewiß ein spezieller Fall der Reflexion über das Funktionieren von Gottesurteilen. Doch verweist seine Szene auch auf Ambivalenzen, die grundsätzlich in einem rituellen Formalismus angelegt sind, der die Leistungsfähigkeit, aber auch Manipulierbarkeit von Ritualen bedingt.

Poetik des Rituals

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