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Extremer Formalismus oder strukturelle Offenheit?

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Mit der Betonung der Gebundenheit von Ritualen an eine feste Form stellt sich die Frage nach ihrer prinzipiellen Offenheit oder Geschlossenheit. Auch für mittelalterliche Rituale gilt, was vor allem TURNER betont hat:

[N]ur wenige Rituale [sind] so stereotypisiert, daß jedes Wort, jede Geste, jede Szene ganz genau vorgeschrieben ist. Meistens sind invariante Phasen und Episoden mit variablen Passagen verflochten, in denen Improvisationen sowohl auf verbalen als auch auf nichtverbalen Ebenen nicht bloß nur erlaubt, sondern notwendig sind.25

Spielräume ergeben sich beispielsweise im Auffüllen von vorgegebenen formalen Akten. So kann etwa eine Versöhnung durch verschiedene Gesten, sei es durch Handschlag, sei es durch Kuß, sichtbar vollzogen werden, oder es können der Inhalt und Wortlaut von Eidesleistungen, die bei Bündnissen oder Gottesurteilen zu erbringen sind, durchaus Verhandlungsgegenstand und damit prinzipiell variabel sein.26

Der Grad der Determiniertheit eines Rituals oder einzelner seiner formalen Elemente ist auch im Mittelalter nicht zuletzt vom Ritualtyp abhängig. Nicht alle Rituale sind mit ihren rigidesten Ausformungen gleichzusetzen, wie z. B. magischen Ritualen, bei denen es auf die wortwörtliche Wiederholung einer Formel und die Ausführung einer bis in kleinste Details festgelegten Handlungsfolge ankommt, oder auch religiösen Ritualen, die gleichermaßen streng geregelt und festgelegt sein können.27

Das Verhältnis von Schrift und Ritual bei der Ausbildung fester Formen wird in der Forschung dabei durchaus konträr bewertet,28 doch spielt schriftliche Kodifizierung – mit institutionenspezifischen Einschränkungen – für die Festigkeit der Ritualhandlung im Mittelalter zumeist eine untergeordnete Rolle. Das hat seinen Grund zum einen darin, daß nur wenige Rituale von Institutionen getragen wurden, die diese offiziell streng normieren und ihren Ablauf kontrollieren konnten. Die schriftliche Fixierung ist zum anderen nicht nur ein sektoral beschränkter, sondern zudem ein zeitlich sekundärer Akt, der auf die Festlegung einer allein gültigen Form zwar zielen konnte, Varianz aber auch im Zuge eines fortschreitenden Verschriftungsprozesses nicht grundsätzlich verhinderte, weil diese Varianz in divergierender Praxis selbst gründete oder weil sie durch die Arbeit an einer schriftlich vorgegebenen Tradition (Erweiterung, Modifikation, Kompilation von Quellen) produziert wurde.

Ein für den Bereich von Herrschaft sehr anschauliches Beispiel dafür bieten die seit dem 10. Jahrhundert überlieferten ‚Ordines‘ der Kaiserkrönung.29 Institutionell von der Kirche getragen und daher auch hauptsächlich innerhalb liturgischer Bücher, zumeist Pontifikalien, überliefert, basieren sie einerseits auf einer zuvor schon wiederholt geübten Praxis, andererseits aber in einzelnen ihrer Teile auf schriftlich vorgegebenen Quellen (Gebeten, Benediktionen, Gesängen aus anderen liturgischen Kontexten o. ä.). Die Ordines bilden somit eine schriftliche Tradition, die sich zum Teil unabhängig von der konkreten Praxis aus- und fortgebildet hat und die, ausgehend vom Ordo im sog. ›Ottonischen Pontifikale‹ (ca. 960), durch modifizierende und erweiternde Bearbeitungen oder durch Kompilationen der Vorlagen doch zu immer neuen Versionen geführt hat. Diese lassen einen Kern von rituellen Handlungen erkennen: etwa die Einholung des zukünftigen Kaisers, die Litanei, die Befragung des zu Erhebenden und seine Verpflichtung auf eine gerechte Herrschaftsausübung, die Akklamationen des Klerus und des Volkes, die Salbung, die Verleihung verschiedener Insignien (Schwert, Armreif, Pallium, Ring, Zepter, Stab), die Krönung und Inthronisation sowie den Austausch von Friedensküssen. Das vorgesehene Ensemble von Handlungen divergiert in den einzelnen Ordines jedoch ebenso wie ihre Reihenfolge oder auch der Wortlaut einzelner Orationen. Auch in bezug auf die Praxis der Kaiserkrönungen bleiben die Ordines in verschiedener Hinsicht offen: einerseits im Nebeneinander verschiedener Formulare,30 andererseits im Verhältnis von Formular zu aktuellem Vollzug. Verhandlungen um das Ritual und einzelne seiner Elemente, von denen allenthalben berichtet wird, lassen darauf schließen, daß sich in der konkreten Realisierung des vorgegebenen Musters Spielräume ergaben.31

Festgehalten sind viele im Kontext von Herrschaft relevante Rituale (Begrüßungen, Versöhnungen, Unterwerfungen, Bündnisse o. ä.) dagegen in ungeschriebenen Gesetzen.32 Ritualkompetenz und -wissen wird hier vornehmlich im Gebrauch erworben, die Festigkeit der rituellen Form verdankt sich somit primär dem wiederholten, eingeübten Gebrauch. Sowenig es jedoch das Krönungsritual gibt, so wenig existiert das Begrüßungs- oder Versöhnungsritual. Sie bestehen vielmehr aus einem Kern von obligatorischen, relativ festen und gleichbleibenden, daneben aber auch aus austauschbaren und flexiblen formal herausgehobenen Handlungselementen.

Poetik des Rituals

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