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‚Ritual studies‘: Das Interesse am Ritual

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„Ganze Bücherreihen“ gehören zum Alltag wissenschaftlicher Arbeit, und mit ihnen wird nicht nur derjenige konfrontiert, der sich mit Ritualen beschäftigt. Rituale haben aber tatsächlich, nachdem sie in der europäischen Neuzeit zunehmend negativ bewertet worden sind und in fortschreitendem Maße Ablehnung erfahren haben,1 seit dem vorigen Jahrhundert mit dem erwachenden Interesse für symbolische Ordnungen und die Symbolik menschlichen Handelns wieder ‚Konjunktur‘. Auch wenn die Geschichte der Rituale „weniger systematisch untersucht“2 wurde als die der Symbole und Weltanschauungen, erlebt die Erforschung des Rituals seit den späten 1960er und vor allem 70er Jahren einen kontinuierlichen Aufschwung,3 der in der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Sozial- und Geisteswissenschaften in den letzten Jahren einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Die gesteigerte Aufmerksamkeit, die dem Ritual in den Wissenschaften entgegengebracht wird, ist dabei Teil einer umfassenderen gesellschaftlichen Sensibilisierung für das Phänomen, die trotz einer nach wie vor verbreiteten überaus ambivalenten Haltung gegenüber allen Erscheinungsformen des Rituellen unverkennbar ist.4

Die Beschäftigung mit dem Ritual führt in ein ausgesprochen interdisziplinär angelegtes Forschungsfeld: Die Bedeutung und Funktion von Ritualen für nahezu alle Bereiche kulturellen Lebens, für die gesellschaftliche Ordnung, die Religion und die Identität des Individuums, wecken das Interesse der Soziologie,5 der Religionswissenschaft,6 der Psychologie7 ebenso wie der Ethnologie, die sich über die Beobachtung und Deutung von Ritualen einen Zugang zu fremden Kulturen eröffnet und hiermit wichtige Impulse auch für die historischen Wissenschaften gegeben hat.8

Für diese hat seit mittlerweile einigen Jahren das Ritualthema an Bedeutung gewonnen, sei es in der historischen Anthropologie,9 sei es für speziellere Fragestellungen, etwa für die Erforschung des kulturellen Gedächtnisses und der Erinnerungskultur,10 sei es in Untersuchungen zu abseitigeren Ritualen, mit denen Beiträge des sogenannten ‚New Historicism‘ die traditionelle Literaturwissenschaft provozierten.11

Auch die geschichtswissenschaftliche Mediävistik hat das Ritual als einen Schlüssel für das Verstehen mittelalterlicher Herrschaft, Gesellschaft und Kommunikation entdeckt. Im letzten Jahrzehnt wurden nicht nur herausgehobene rituelle Akte mittelalterlicher Herrschaftspraxis wie etwa die Krönung, sondern auch Rituale aus dem Bereich alltäglich-politischer Interaktion (z. B. Begrüßungs- und Abschiedsrituale) sowie der Konfliktführung und -beilegung (Unterwerfungs- und Huldigungsrituale) verstärkt untersucht.12 Rituelle Interaktion wurde so als ein grundlegendes Konstituens der mittelalterlichen semi-oralen Gesellschaft profiliert, deren Kommunikationsstrukturen wesentlich auf Sichtbarkeit und Anwesenheit basieren. Vor allem ALTHOFF hat in zahlreichen Arbeiten den wichtigen Stellenwert demonstrativer Akte und Inszenierungen, der Gesten, der Zeichen und Rituale für die öffentliche Kommunikation und Herrschaftspraxis im Mittelalter herausgestellt.13

In der literaturwissenschaftlichen Mediävistik wurde im Rahmen ihrer Annäherung an Methoden und Fragestellungen der Sozial- und Kulturanthropologie das Problemfeld der Beziehungen zwischen Literatur und anderen kulturellen Praktiken aufgenommen, indem ihr Interesse sich auf den medialen Aspekt von Literatur, ihren rituellen Charakter und ihre Nähe zu verwandten Handlungsformen und Inszenierungstypen richtet.14 Die Frage nach dem Zusammenhang von Literatur und Ritual rückt dabei um so mehr in den Blick, als die Aufführungssituation mittelalterlicher Texte als eine wesentliche Bedingung ihrer Poetik angesehen wird. Gegenstand solcher Überlegungen sind vor allem der (hohe) Minnesang15 und das geistliche Spiel, dessen Verhältnis zu kirchlichen Ritualen und dessen eigener ritueller (oder ritual-analoger) Charakter jüngst wieder verstärkt untersucht wurden.16 Grundsätzlicher noch als diese Untersuchungen ist die Arbeit von QUAST angelegt, der den mittelalterlichen Literarisierungsprozeß in verschiedenen Textsorten als Lösung aus kultisch-rituellen Gebrauchszusammenhängen beschreibt.17 Demgegenüber ist der literarischen Inszenierung von Herrschaftsritualen in der mittelalterlichen Epik, also erzählten Ritualen im Kontext von Herrschaftsausübung und -darstellung – die die vorliegende Untersuchung in den Mittelpunkt rücken wird –, vor dem Hintergrund der Ergebnisse der neueren Arbeiten von historischer Seite bislang eher wenig Interesse entgegengebracht worden.18

Poetik des Rituals

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