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9 Eleonore holt Anna

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Lutz war nicht nur als Lehrer sehr engagiert, er interessierte sich nebenbei auch für alternative Schulformen und unterschiedliche Lehrmethoden. Er ließ keine Gelegenheit aus, sich fortzubilden und hielt sogar manchmal an der Kieler Universität Vorträge. Die Schulleitung gab ihm in diese Richtung oft Freiraum, so dass er neben seiner Lehrertätigkeit genug Zeit fand, sich um die pädagogische Forschung zu kümmern. So nahm er sich auch manchmal die Freiheit, während der Arbeitszeit nach Wittenberg zu fahren, um Eleonore und ihre Schüler beim Unterrichten zu beobachten. Ab und zu konnte er sich dann witzige Bemerkungen nicht verkneifen, was alle Schüler und Eleonore herzlich zum Lachen brachte. Es kam, dass seine Besuche regelmäßig mit großem Jubel kommentiert wurden. Nach jeder Schulstunde, wenn alle Kinder auf dem Pausenhof tobten, diskutierten Eleonore und Lutz fachmännisch weiter. Sich dann voneinander zu trennen, fiel ihnen nicht leicht, aber sie vermischten die Besuche, bei denen er „offiziell“ zu ihr kam, niemals mit Privatem. Sie gingen nie in Eleonores Wohnung, sondern blieben immer im Klassenzimmer oder im Lehrerzimmer und handhabten sein Auftreten als offiziellen Schulbesuch.

Trafen sie sich privat, mussten sie höllisch aufpassen. Meistens besuchte Lutz seine Eltern, unterhielt sich mit ihnen, trank Kaffee, aß Kuchen und täuschte anschließend einen längeren Spaziergang vor. Stattdessen ging er zu Eleonore. Dabei musste er sich von hinten über die Felder der Schule nähern, um nicht gesehen zu werden. Bei der Schule warf er vorsichtig kleine Steinchen an Eleonores Küchenfenster, bis sie ihn hörte. Oder er schlich sich wie ein kleiner Junge von hinten an das Schulgebäude und stieg durch die oftmals geöffneten Fenster ins Klassenzimmer. Wenn er dann vor ihr stand oder gegen ihre Wohnungstür klopfte, lachten sich beide scheckig und fühlten sich wie zwei kleine Kinder, die einen Streich vollführt hatten. Sie mussten immer aufpassen, nicht gesehen zu werden, denn Dorfklatsch in Wittenberg verbreitete sich auch ohne direkten Nachweis einer Untat schneller als jedes Buschfeuer.

Einige Monate waren nun schon vergangen, seid Eleonore und Lutz sich zum ersten Mal gesehen hatten. Es war Februar und der Winter dieses Jahres war sehr kalt. Anna und die anderen Flüchtlingskinder hatten eine sehr schwere Zeit. Sie mussten bei jedem Wetter draußen bleiben. Der Bauer hatte kein Erbarmen, er hasste alle Flüchtlinge und besonders die Flüchtlingskinder. Anna war dennoch gesund, sicher härtete das ständige Spielen im Freien ab. Sie und die anderen Kinder hatten bei der bitteren Kälte Unterschlupf in der Scheune gefunden. Bis vor drei Wochen hatten alle Kinder immer Spaß daran, in der Scheune zu spielen, aber nun hatte es leider angefangen mächtig zu schneien und vor allem zu stürmen. Die eisige Kälte blies durch die vielen Ritzen in der Scheune und ließ die Kinder erbärmlich frieren.

Eleonore war nach ihrem letztem Besuch bei Anna und ihren Eltern Ende Januar außerordentlich entsetzt, dass ihre kleine Schwester immer noch den ganzen Tag in der Kälte verbringen musste. Es tröstet sie wenig, dass auch die anderen Kinder draußen bleiben mussten. Sie hatte es zwar von Anfang an gewusst, aber geglaubt, der Bauer würde Erbarmen zeigen. Zwei Tage nach dem Besuch rief Eleonore bei ihren Eltern an und schlug vor, Anna zu sich zu holen. Lutz hatte das ja bereits damals vorgeschlagen und diese Idee war nun in Eleonore so gereift, dass sie es in die Tat umsetzen wollte. Ihre Sorgen, Anna könnte draußen ernstzunehmende Erfrierungen erleiden, überzeugten ihre Eltern und sie willigten wider Erwarten relativ schnell ein. Sie hatten Anna wohl mittlerweile doch so lieb gewonnen, dass sie sich um ihre Gesundheit sorgten. Es war auch möglich, dass ihre Eltern erleichtert waren, ihr ungewolltes Kind loszuwerden. Man konnte es nicht genau deuten.

Gleich das folgende Wochenende fuhren Eleonore und Lutz los, um Anna zu holen. Lutz wartete im Auto, während Eleonore in der Wohnung der Eltern die Sachen für Anna packte. Ihre Mutter war dazu nicht fähig gewesen. Anna lief während der Zeit aufgeregt hin und her und schaute immer wieder aus dem Fenster. Sie durfte ja eigentlich nicht im Haus sein. Sie hatte schreckliche Angst vor dem Bauern. Eleonore beruhigte sie und sagte:

„Mach dir keine Sorgen. Der Bauer macht jetzt bestimmt keinen Ärger, er ist sicher froh, dich los zu werden.“

„Meinst du?“, fragte Anna und schaute sie ängstlich an.

„Ja!“

Anna schaute weiter aus dem Fenster und entdeckte Lutz, der vor dem Auto wartete.

„Wer steht denn da am Auto?“, fragte sie und hüpfte weiter herum. Ach, was freute sie sich auf das Leben bei der großen Schwester!

„Wieso?“, fragte Eleonore lächelnd.

„Da steht ein Mann bei dem Auto im Hof. Wer ist das?“

„Er ist ein Bekannter von mir und wartet darauf, uns nach Wittenberg zu bringen. Die Wettervorhersage sagt noch viel, viel mehr Schnee voraus. Mit dem Bus wäre ich wesentlich länger unterwegs gewesen und wir hätten vielleicht den Rückweg nicht rechtzeitig antreten können. Somit war mein Bekannter so nett zu fahren.“

„Was denn für ein Bekannter?“

Anna ließ sich nicht so einfach abwimmeln.

„Es ist ein Bekannter, dessen Eltern in Wittenberg leben. Er selber ist auch Lehrer, aber in Preetz an einer großen Schule. Er war heute so nett, sich als Taxifahrer anzubieten“, antwortete Eleonore schmunzelnd und ahnte, welche Fragen die nächste Zeit auf sie zukämen.

„Wieso hast du denn so viel Geld, eine Taxe zu bestellen?“, fragte Anna erstaunt.

„Er ist so nett und fährt uns umsonst. Nett, oder?“

„Ja, das ist wirklich sehr nett. Wohnt er denn noch bei seinen Eltern?“

„Nein, warum?“

„Naja, weil er uns doch jetzt nach Wittenberg fährt und dort ja seine Eltern wohnen.“

Na, da hatte Eleonore sich ja auf ein schönes Abenteuer eingelassen. Sie lenkte ab, indem sie Anna aufforderte:

„Geh noch kurz zu Mutti und Vati, damit du dich von ihnen verabschieden kannst.“

Anna umarmte ihre Eltern, die tatenlos im Flur herumstanden, herzlich und verabschiedete sich von ihnen. Sie durften nicht mit auf den Hof kommen, denn auch die Erwachsenen Flüchtlinge duldete man dort nicht. Eleonore nahm Anna an die Hand und ging mit ihr in den Hof. Anna blieb vor Lutz stehen und schaute ihn ausgiebig an.

„Na, wen haben wir denn da?“, fragte er noch kurzem Warten mit einem einladenden Lächeln.

„Ich bin Anna“, gab sie mit ihrem schönsten Lächeln zurück.

„Ah, und du willst nun bei uns mitfahren?“

„Ja“, antwortete sie recht selbstbewusst.

Lutz eilte um sein Auto herum und öffnete Anna die Wagentür. Er verbeugte sich und zeigte ihr mit ausgestrecktem Arm an, wo sie sitzen sollte. Anna hüpfte ins Auto auf den Rücksitz neben Rusty. Rusty kam immer mit. Egal, wo Eleonore hinging, Rusty war dabei. Selbst im Unterricht lag er immer neben ihr. In den Pausen rannte er vergnügt mit den Kindern auf dem Schulhof hin und her. Jetzt begrüßte er Anna freudig schwanzwedelnd und leckte ihr einmal herzhaft über das Gesicht. Während Anna sich darüber sehr amüsierte und Eleonore und Lutz ebenfalls lachten, hörten sie von hinten eine dunkle böse Männerstimme:

„So ist's gut. Endlich verschwindet das Gesinde! Diese Mistgören gehören hier nicht hin. Am besten, ihr nehmt noch die Eltern mit. Genau wie all die anderen. Geht doch alle zurück nach Polen! Ihr Mistpolacken! Aber nein, stattdessen machen sich alle auf meinem Hof breit. Widerlich! Und nicht nur bei mir! Nein, überall in Schleswig-Holstein sind sie jetzt, diese Polacken. Verschwindet bloß! Euretwegen müssen wir hungern. Ihr fresst uns alles weg und nun haben wir nichts mehr. Verschwindet!“

Es war der Bauer, der fluchend auf sie zu kam. Er war sehr kräftig gebaut und mit seinem ärgerlichen Gesichtsausdruck sah er ziemlich bedrohlich aus. In den Händen hielt er eine Forke. Kurz vor dem Wagen blieb er stehen. Eleonore packte die eiskalte Wut. Sie drehte sich zu dem Wüterich um, ging langsam auf ihn zu und sagte mit einer sehr eindringlichen und jedes einzelne Wort betonenden Stimme:

„Sie können mir keine Angst machen. Jemand, der so primitiv ist wie sie, hat nicht genug im Kopf, um einem anderen zu drohen. Und jetzt hören Sie mir einmal gut zu!“

Sie zeigte auf die Wohnung ihrer Eltern, trat ganz dicht an den Bauern heran und erklärte mit verachtender Stimme:

„Wahrscheinlich hat es wenig Sinn, Ihnen jetzt zu erklären, was meinen Eltern im Krieg widerfahren ist, weil Sie so viele Informationen mit ihrem begrenzten Verstand gar nicht verarbeiten können, aber ich versuche es trotzdem: Meine Eltern sind zweimal in ihrem Leben vertrieben worden. Zweimal haben sie ihre Heimat verloren und dazu ihr ganzes Hab und Gut. Wir sind alle gebürtige Kieler und unsere Familie lebte schon länger in Schleswig-Holstein, als sie überhaupt denken können. Für wen halten Sie sich? Für einen König oder Kaiser, der bestimmen kann, wer hier leben darf oder nicht? Haben Sie nie versucht, sich in die Lage der Flüchtlinge hineinzuversetzen? Nein, dass können sie gar nicht! Sie schauen dem Elend lieber zu! Noch schlimmer, Sie bereichern sich am Elend der Armen! Ach!...“ Eleonore machte eine abwertende Handbewegung und sagte: „Sie sind wahrscheinlich zu dumm, um das zu verstehen.“

Sie drehte sich um und stieg wütend ins Auto. Der Bauer hob drohend seine Forke. Lutz hatte sich zuvor neben Eleonore gestellt, zeigte dem Bauern jetzt seine geballte Faust und drohte:

„Mir können sie keine Angst mit ihrer lächerlichen Forke machen. Wehe, sie beleidigen diese Familie noch einmal! Dann werden sie etwas erleben.“

Er stieg, ohne den Bauern noch eines Blickes zu würdigen, ebenfalls ins Auto, wendete und startete dann mit quietschenden Reifen. Sein Auto spritzte Schnee und Dreck in die Höhe und dem Bauern direkt ins Gesicht. Das Ganze passierte so schnell, dass dieser gar nicht reagieren konnte. Er spuckte wütend aus und schrie ihnen mit erhobener Forke hinterher:

„Scheiß polnisches Gesinde.“

Anna, Eleonore und Lutz sahen durch die Heckscheibe den Tobenden mit der Forke fuchteln und mussten solange fürchterlich lachen, bis sie ihn schließlich aus den Augen verloren. Dann beruhigten sich alle. Lutz wurde ernst und sagte:

„Wir müssen unbedingt für deine Eltern eine andere Wohnung finden. Dort können sie nicht bleiben, das ist viel, viel zu menschenverachtend!“

Trotz der vorausgegangenen Lachattacke zitterte Eleonore nun vor Aufregung. Der Bauer hatte mit der Forke ausgesprochen gefährlich gewirkt. Lutz streichelte ihre Hand und versuchte sie zu beruhigen:

„Mein Onkel ist in Kiel beim Einwohnermeldeamt tätig. Vielleicht kann er etwas tun.“

Er startete ein Ablenkungsmanöver, indem er sagte:

„Vergiss den Vorfall. Der dumme Bauer weiß nicht, was er redet. Ich fand deinen Auftritt fantastisch! Erzähl mir lieber, wie es eben bei deinen Eltern war. Wie haben sie den Abschied verkraftet?“

Eleonore versuchte sich zu beruhigen und beschrieb den Abschied:

„Ach, es war ganz kurz und schmerzlos. Sie waren auch nicht so unglücklich darüber, dass Anna jetzt zu mir zieht.“

Sie sah nach hinten zu ihrer Schwester und lächelte ihr zu.

„Ja“, antwortete Lutz. „Gott sei Dank. Ich finde es übrigens ganz toll, dass du deine Schwester zu dir holst. Das ist eine große Verantwortung, die du jetzt trägst. Alle Achtung!“

Nun drehte er sich kurz zu Anna um und sagte:

„Wusstest du schon, dass du die beste Schwester der Welt hast?“

„Ja, natürlich weiß ich das“, antwortete sie entrüstet und fügte hinzu: „Ich bin ja nicht dumm!“

„Wenn deine Schwester einmal keine Lust mehr hat auf die Schule in Wittenberg, dann kommt ihr beide zu meiner Schule nach Preetz, okay? Dort gibt es viele moderne Lehrer und noch mehr Lehrerinnen, wie dich, Eleonore, und sehr viele intelligente Kinder, wie dich, Anna. Wir brauchen unbedingt neue engagierte Lehrerinnen und noch mehr kluge Schüler!“

Das gab er mit viel Überzeugung von sich.

„Darauf werde ich vielleicht einmal zurückkommen, aber nicht so schnell“, antwortete Eleonore lachend.

„Seid ihr verheiratet?“, fragte Anna auf einmal und schaute erst Lutz und dann Eleonore an. Beide waren so überrascht, dass sie gar nicht reagieren konnten. Das tat aber auch nicht Not, denn Anna stellte fest:

„Ach, nein! Lori, du trägst ja gar keinen Ring!“ Anna schaute auf Lutz' Finger am Lenkrad und fragte:

„Aber du, du bist ja verheiratet?“

„Ja, ich bin verheiratet. Meine Frau lebt aber zur Zeit nicht hier. Sie wohnt in Berlin und mein Sohn auch.“

„Warum wohnst du nicht bei deiner Frau? Und wie alt ist denn dein Sohn?“

Eleonore griff in die Fragerei ein, drehte sich um und befahl Anna mit strengem Blick:

„Anna! Es gehört sich nicht, so viel zu fragen.“

Beschämt schaute diese nach unten und entschuldigte sich für ihre bohrenden Fragen.

„Nein, lass mal, ist schon gut. Eigentlich wohnen meine Frau, mein Sohn und ich zusammen in Preetz. Aber meine Frau muss die nächsten Wochen in Berlin um ihre Mutter kümmern. Sie hat vor kurzem ihren Mann bei einem Autounfall verloren und meine Frau hilft ihrer Mutter nun, mit dem Leben alleine fertig zu werden. Mein zehnjähriger Sohn ist zunächst mit ihr gefahren, da ich keine Zeit habe, mich um ihn zu kümmern. Er kommt allerdings bald zu mir und geht ab Ostern auf die Schule, an der ich Lehrer bin. Und dann kommt meine Frau hoffentlich auch bald nach. Ich unterrichte übrigens Sport und Mathematik.“

Anna schaute ihn erstaunt an:

„Oh, dann bist du also Lehrer. Genau wie Lori, du machst das gleiche. Das möchte ich später auch einmal tun.“

Eleonore und Lutz schauten sich an und lachten. Lutz versicherte Anna:

„So, wie du dich für alles interessierst, kommst du bestimmt bald auf meine Schule und wirst dann, wenn du fertig bist, meine Arbeit übernehmen können!“

Freudig strahlte Anna Lutz an.

Um 21 Uhr waren Eleonore und Anna zu Hause. Lutz hatte nur kurz alle Sachen mit hineingetragen und war dann weitergefahren. Eleonore zog Anna einen Schlafanzug an und anschließend legten sich beide in Eleonores Bett zum Kuscheln. Anna bekam noch eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen und schlief nach einem langen Küsschen und einer ausgiebigen Umarmung ein. Eleonore war unendlich glücklich, für Anna eine Lösung gefunden zu haben. Zum Glück musste das Schwesterchen jetzt dem menschenverachtendem Bauern nicht mehr begegnen. Nun hatte sie nur noch für ihre Eltern eine andere Wohnung zu finden, wo die Erwachsenen und Kinder frei leben und sich frei bewegen durften.

Eleonore - Der verlorene Kampf

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